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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Menschlichkeit

Und auch Herder selbst hat trotz seiner Theorie das Wort einigemale so an¬
gewandt, z. B. in dem Gedicht an den Genius von Deutschland, wo es heißt:

Ja in diesem Sinne ist das Wort schon vor Herder gelegentlich verwandt
worden, zum Beispiel von Kant und von Wieland. Gepräge aber ist das
Wort schon im fünfzehnten Jahrhundert. Und es bedeutete zunächst das ganze
Wesen der menschlichen Natur oder auch die Gesamtheit der Menschen, wofür
man jetzt Menschheit sagt, dann, wie aus den eben angeführten Worten Herders
hervorgeht, die Unzulänglichkeit, die Schwäche der menschlichen Natur -- eine
Vorstellung, die auch heute noch dem Worte anhaftet, besonders wenn es im
Pluralis gebraucht wird. Der Begriff aber, der heute vorwiegend mit dem
Worte verbunden wird, fiel ihm zu, als man nach einem deutschen Ausdruck
für das lateinische tmmÄwtas suchte. Das geschah im achtzehnten Jahrhundert,
als dieser Begriff infolge der damals herrschenden Zeitströmung aktuelle Be¬
deutung gewann. Und dieser Begriff ist es mehr als das dafür eingeführte
Wort, dem Herder zu weiter Verbreitung und Anerkennung verholfen hat.
"Briefe zur Beförderung der Humanität", nicht der Menschlichkeit hat er
seine dahin zielende Schrift genannt.

Man kann ein Wort nicht nur nach seinem Inhalt, sondern auch nach
seiner Lautform betrachten. Und auch diese Art der Betrachtung hat ihr Recht
und ihren Reiz. Man kann die Wörter untersuchen wie der Pslanzenknndige
eine Blume: unbekümmert um den Dust, den sie spendet, zerlegt er sie in
ihre Teile und betrachtet diese durch das Mikroskop. So kann der Sprach¬
forscher auch die Wörter behandeln, kann sie zerlegen, ihre Bestandteile unter
die Lupe nehmen und genau untersuchen, was sie bedeuten. Nur daß man
nicht etwa meine, das Wachstum einer Pflanze sei mit der Entstehung eines
Wortes mehr als äußerlich zu vergleichen. Vielmehr steht die Sache so: während
die Pflanze von innen heraus wächst, indem sich aus einer Keimzelle Stengel,
Blätter und Blüten entfalten, entsteht ein Wortgebilde dadurch, daß sich das eine
Glied äußerlich an das andre anhängt. Agglutination, Anklebung hat man
diese Art der Bildung genannt. Dann sind zunächst die einzelnen Teile
hinsichtlich ihres Sinnes und ihrer Lautgestalt noch deutlich erkennbar. Mit
der Zeit schrumpft aber der Wortkörper zusammen. Die Anhängsel verlieren
ihren Ton und ihren lebendigen Sinn, die Fugen zwischen den einzelnen
Elementen verwischen sich mehr oder minder, das heißt mit andern Worten:
die anfangs selbständigen Kompositionsglieder verwandeln sich in bedeutungs¬
lose Bildungssilben. Dieser Prozeß läßt sich auch bei dem Worte Menschlichkeit
wahrnehmen.

Wir beginnen die Sektion und trennen zunächst die Endsilbe von dem
Wortkörper ab. Da entsteht die Frage: Was bedeutet die Silbe keit, und in


Menschlichkeit

Und auch Herder selbst hat trotz seiner Theorie das Wort einigemale so an¬
gewandt, z. B. in dem Gedicht an den Genius von Deutschland, wo es heißt:

Ja in diesem Sinne ist das Wort schon vor Herder gelegentlich verwandt
worden, zum Beispiel von Kant und von Wieland. Gepräge aber ist das
Wort schon im fünfzehnten Jahrhundert. Und es bedeutete zunächst das ganze
Wesen der menschlichen Natur oder auch die Gesamtheit der Menschen, wofür
man jetzt Menschheit sagt, dann, wie aus den eben angeführten Worten Herders
hervorgeht, die Unzulänglichkeit, die Schwäche der menschlichen Natur — eine
Vorstellung, die auch heute noch dem Worte anhaftet, besonders wenn es im
Pluralis gebraucht wird. Der Begriff aber, der heute vorwiegend mit dem
Worte verbunden wird, fiel ihm zu, als man nach einem deutschen Ausdruck
für das lateinische tmmÄwtas suchte. Das geschah im achtzehnten Jahrhundert,
als dieser Begriff infolge der damals herrschenden Zeitströmung aktuelle Be¬
deutung gewann. Und dieser Begriff ist es mehr als das dafür eingeführte
Wort, dem Herder zu weiter Verbreitung und Anerkennung verholfen hat.
„Briefe zur Beförderung der Humanität", nicht der Menschlichkeit hat er
seine dahin zielende Schrift genannt.

Man kann ein Wort nicht nur nach seinem Inhalt, sondern auch nach
seiner Lautform betrachten. Und auch diese Art der Betrachtung hat ihr Recht
und ihren Reiz. Man kann die Wörter untersuchen wie der Pslanzenknndige
eine Blume: unbekümmert um den Dust, den sie spendet, zerlegt er sie in
ihre Teile und betrachtet diese durch das Mikroskop. So kann der Sprach¬
forscher auch die Wörter behandeln, kann sie zerlegen, ihre Bestandteile unter
die Lupe nehmen und genau untersuchen, was sie bedeuten. Nur daß man
nicht etwa meine, das Wachstum einer Pflanze sei mit der Entstehung eines
Wortes mehr als äußerlich zu vergleichen. Vielmehr steht die Sache so: während
die Pflanze von innen heraus wächst, indem sich aus einer Keimzelle Stengel,
Blätter und Blüten entfalten, entsteht ein Wortgebilde dadurch, daß sich das eine
Glied äußerlich an das andre anhängt. Agglutination, Anklebung hat man
diese Art der Bildung genannt. Dann sind zunächst die einzelnen Teile
hinsichtlich ihres Sinnes und ihrer Lautgestalt noch deutlich erkennbar. Mit
der Zeit schrumpft aber der Wortkörper zusammen. Die Anhängsel verlieren
ihren Ton und ihren lebendigen Sinn, die Fugen zwischen den einzelnen
Elementen verwischen sich mehr oder minder, das heißt mit andern Worten:
die anfangs selbständigen Kompositionsglieder verwandeln sich in bedeutungs¬
lose Bildungssilben. Dieser Prozeß läßt sich auch bei dem Worte Menschlichkeit
wahrnehmen.

Wir beginnen die Sektion und trennen zunächst die Endsilbe von dem
Wortkörper ab. Da entsteht die Frage: Was bedeutet die Silbe keit, und in


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[0577] Menschlichkeit Und auch Herder selbst hat trotz seiner Theorie das Wort einigemale so an¬ gewandt, z. B. in dem Gedicht an den Genius von Deutschland, wo es heißt: Ja in diesem Sinne ist das Wort schon vor Herder gelegentlich verwandt worden, zum Beispiel von Kant und von Wieland. Gepräge aber ist das Wort schon im fünfzehnten Jahrhundert. Und es bedeutete zunächst das ganze Wesen der menschlichen Natur oder auch die Gesamtheit der Menschen, wofür man jetzt Menschheit sagt, dann, wie aus den eben angeführten Worten Herders hervorgeht, die Unzulänglichkeit, die Schwäche der menschlichen Natur — eine Vorstellung, die auch heute noch dem Worte anhaftet, besonders wenn es im Pluralis gebraucht wird. Der Begriff aber, der heute vorwiegend mit dem Worte verbunden wird, fiel ihm zu, als man nach einem deutschen Ausdruck für das lateinische tmmÄwtas suchte. Das geschah im achtzehnten Jahrhundert, als dieser Begriff infolge der damals herrschenden Zeitströmung aktuelle Be¬ deutung gewann. Und dieser Begriff ist es mehr als das dafür eingeführte Wort, dem Herder zu weiter Verbreitung und Anerkennung verholfen hat. „Briefe zur Beförderung der Humanität", nicht der Menschlichkeit hat er seine dahin zielende Schrift genannt. Man kann ein Wort nicht nur nach seinem Inhalt, sondern auch nach seiner Lautform betrachten. Und auch diese Art der Betrachtung hat ihr Recht und ihren Reiz. Man kann die Wörter untersuchen wie der Pslanzenknndige eine Blume: unbekümmert um den Dust, den sie spendet, zerlegt er sie in ihre Teile und betrachtet diese durch das Mikroskop. So kann der Sprach¬ forscher auch die Wörter behandeln, kann sie zerlegen, ihre Bestandteile unter die Lupe nehmen und genau untersuchen, was sie bedeuten. Nur daß man nicht etwa meine, das Wachstum einer Pflanze sei mit der Entstehung eines Wortes mehr als äußerlich zu vergleichen. Vielmehr steht die Sache so: während die Pflanze von innen heraus wächst, indem sich aus einer Keimzelle Stengel, Blätter und Blüten entfalten, entsteht ein Wortgebilde dadurch, daß sich das eine Glied äußerlich an das andre anhängt. Agglutination, Anklebung hat man diese Art der Bildung genannt. Dann sind zunächst die einzelnen Teile hinsichtlich ihres Sinnes und ihrer Lautgestalt noch deutlich erkennbar. Mit der Zeit schrumpft aber der Wortkörper zusammen. Die Anhängsel verlieren ihren Ton und ihren lebendigen Sinn, die Fugen zwischen den einzelnen Elementen verwischen sich mehr oder minder, das heißt mit andern Worten: die anfangs selbständigen Kompositionsglieder verwandeln sich in bedeutungs¬ lose Bildungssilben. Dieser Prozeß läßt sich auch bei dem Worte Menschlichkeit wahrnehmen. Wir beginnen die Sektion und trennen zunächst die Endsilbe von dem Wortkörper ab. Da entsteht die Frage: Was bedeutet die Silbe keit, und in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/577>, abgerufen am 22.07.2024.