Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches hat sie namentlich Maximilian Horden genannt, offenbar um ein Fremdwort zu Anders Verhaltes sich mit anomal. Das ist kein Bastard, sondern ein gutes, Endlich abnorm. Wie anomal ein gutes reingriechisches, so ist abnorm Es ist ein Zeichen, eins der vielen Zeichen des Rückganges unsrer humanistischen Maßgebliches und Unmaßgebliches hat sie namentlich Maximilian Horden genannt, offenbar um ein Fremdwort zu Anders Verhaltes sich mit anomal. Das ist kein Bastard, sondern ein gutes, Endlich abnorm. Wie anomal ein gutes reingriechisches, so ist abnorm Es ist ein Zeichen, eins der vielen Zeichen des Rückganges unsrer humanistischen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0508" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/311589"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_2411" prev="#ID_2410"> hat sie namentlich Maximilian Horden genannt, offenbar um ein Fremdwort zu<lb/> vermeiden, denn er schreibt nicht gern Fremdwörter, wenn es nicht unbedingt nötig<lb/> ist. In den Gerichtsverhandlungen aber und in den Zeitungsnachrichten darüber<lb/> war das Wort leider fast überaÜ durch ein Fremdwort wiedergegeben, und zwar<lb/> fast ausschließlich durch das Wort anormal. Als ich dieses Wort — schon vor<lb/> Jahren — zum erstenmale las, traute ich meinen Augen nicht. Es stand aber<lb/> wirklich so dn. Als ich es dann öfter las, dachte ich immer, es Ware verdrückt<lb/> für anomal. Endlich schlug ich die Wörterbücher auf, und da fand ich denn zu<lb/> meinem Erstaunen, daß es das Wort anormal wirklich „gibt", im Deutschen sowohl<lb/> wie im Französischen. Also aus dem von mora» (die Richtschnur) abgeleiteten<lb/> lateinischen Adjektivum normalis eine Verneinung gebildet durch Vorsetzen des<lb/> griechischen sogenannten ^IMa xi-ivativum, der Verstümmlung der griechischen Ver¬<lb/> neinungssilbe (lateinisch in-, deutsch un-) — auf jeden Fall eine barbarische<lb/> Bildung, mag sie aus Deutschland oder aus Frankreich stammen.</p><lb/> <p xml:id="ID_2412"> Anders Verhaltes sich mit anomal. Das ist kein Bastard, sondern ein gutes,<lb/> reingriechisches Wort. Es ist gebildet aus — Grenzbotenlesern braucht man das<lb/> wohl eigentlich nicht zu sagen, ich wills aber doch sagen, es könnte es einer ver¬<lb/> gessen haben — dem Adjektivum c!/««^s oder o^«/os und der vorgesetzten Ver¬<lb/> neinungssilbe Bei der Zusammensetzung ist das o zu er gedehnt worden<lb/> (vgl. ol^t« und «^-l!^t^«as), und so ist «p-ni^ete^.os, anomal, entstanden und<lb/> davon das Hauptwort «^-^««^t« (Anomalie). Nun bedeutet freilich <5^«^x im<lb/> klassischen Griechisch nicht regelmäßig oder gesetzmäßig, sondern gleich oder<lb/> eben, «on^ete^os also ungleich oder uneben. Die neuern Sprachen aber — und<lb/> hier sind wahrscheinlich zuerst die Franzosen die Sünder gewesen — haben das Wort,<lb/> vielleicht verführt durch den Anklang an ?6^os (Gesetz), als unregelmäßig, un¬<lb/> gesetzmäßig verstanden, und in diesem Sinne ist es dann namentlich in den Natur¬<lb/> wissenschaften und in der Grammatik üblich geworden. Der Franzose spricht von<lb/> Muths anoinalsL, Stroh anomanx (Mißgeburten), aber auch der Deutsche nennt<lb/> unregelmäßige Zeitwörter VsrKa anomal»,. Man sollte also meinen, daß es für<lb/> all die „normwidrigen" Dinge, von denen in der letzten Zeit soviel die Rede<lb/> gewesen ist, das Nächstliegende Fremdwort gewesen wäre. Aber nein, niemand hat<lb/> es gebraucht.</p><lb/> <p xml:id="ID_2413"> Endlich abnorm. Wie anomal ein gutes reingriechisches, so ist abnorm<lb/> ein gutes reinlateinisches Wort; es bedeutet das, was von der Regel, von der<lb/> Richtschnur abweicht (ab-morals). Es übertrifft also das Wort anormal der Form<lb/> nach, das Wort anomal der Bedeutung nach. Es ist weder ein Bastard, noch<lb/> hat es seine Bedeutung verschoben. Es ist das beste Fremdwort, das wir zur Be¬<lb/> zeichnung des normwidrigen, Unregelmäßigen, Ungesetzmäßigen haben. Hat aber<lb/> jemand das Wort irgendwo in den letzten Monaten in einer Zeitung gelesen?<lb/> Überall stand das abscheuliche anormal.</p><lb/> <p xml:id="ID_2414"> Es ist ein Zeichen, eins der vielen Zeichen des Rückganges unsrer humanistischen<lb/> Bildung, was sich in dem gegenwärtigen Gebrauchsverhältnis dieser drei Wörter<lb/> ausspricht. Das schlechteste Wort das gebräuchlichste, das beste — fast unbekannt.</p><lb/> <note type="byline"/><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0508]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
hat sie namentlich Maximilian Horden genannt, offenbar um ein Fremdwort zu
vermeiden, denn er schreibt nicht gern Fremdwörter, wenn es nicht unbedingt nötig
ist. In den Gerichtsverhandlungen aber und in den Zeitungsnachrichten darüber
war das Wort leider fast überaÜ durch ein Fremdwort wiedergegeben, und zwar
fast ausschließlich durch das Wort anormal. Als ich dieses Wort — schon vor
Jahren — zum erstenmale las, traute ich meinen Augen nicht. Es stand aber
wirklich so dn. Als ich es dann öfter las, dachte ich immer, es Ware verdrückt
für anomal. Endlich schlug ich die Wörterbücher auf, und da fand ich denn zu
meinem Erstaunen, daß es das Wort anormal wirklich „gibt", im Deutschen sowohl
wie im Französischen. Also aus dem von mora» (die Richtschnur) abgeleiteten
lateinischen Adjektivum normalis eine Verneinung gebildet durch Vorsetzen des
griechischen sogenannten ^IMa xi-ivativum, der Verstümmlung der griechischen Ver¬
neinungssilbe (lateinisch in-, deutsch un-) — auf jeden Fall eine barbarische
Bildung, mag sie aus Deutschland oder aus Frankreich stammen.
Anders Verhaltes sich mit anomal. Das ist kein Bastard, sondern ein gutes,
reingriechisches Wort. Es ist gebildet aus — Grenzbotenlesern braucht man das
wohl eigentlich nicht zu sagen, ich wills aber doch sagen, es könnte es einer ver¬
gessen haben — dem Adjektivum c!/««^s oder o^«/os und der vorgesetzten Ver¬
neinungssilbe Bei der Zusammensetzung ist das o zu er gedehnt worden
(vgl. ol^t« und «^-l!^t^«as), und so ist «p-ni^ete^.os, anomal, entstanden und
davon das Hauptwort «^-^««^t« (Anomalie). Nun bedeutet freilich <5^«^x im
klassischen Griechisch nicht regelmäßig oder gesetzmäßig, sondern gleich oder
eben, «on^ete^os also ungleich oder uneben. Die neuern Sprachen aber — und
hier sind wahrscheinlich zuerst die Franzosen die Sünder gewesen — haben das Wort,
vielleicht verführt durch den Anklang an ?6^os (Gesetz), als unregelmäßig, un¬
gesetzmäßig verstanden, und in diesem Sinne ist es dann namentlich in den Natur¬
wissenschaften und in der Grammatik üblich geworden. Der Franzose spricht von
Muths anoinalsL, Stroh anomanx (Mißgeburten), aber auch der Deutsche nennt
unregelmäßige Zeitwörter VsrKa anomal»,. Man sollte also meinen, daß es für
all die „normwidrigen" Dinge, von denen in der letzten Zeit soviel die Rede
gewesen ist, das Nächstliegende Fremdwort gewesen wäre. Aber nein, niemand hat
es gebraucht.
Endlich abnorm. Wie anomal ein gutes reingriechisches, so ist abnorm
ein gutes reinlateinisches Wort; es bedeutet das, was von der Regel, von der
Richtschnur abweicht (ab-morals). Es übertrifft also das Wort anormal der Form
nach, das Wort anomal der Bedeutung nach. Es ist weder ein Bastard, noch
hat es seine Bedeutung verschoben. Es ist das beste Fremdwort, das wir zur Be¬
zeichnung des normwidrigen, Unregelmäßigen, Ungesetzmäßigen haben. Hat aber
jemand das Wort irgendwo in den letzten Monaten in einer Zeitung gelesen?
Überall stand das abscheuliche anormal.
Es ist ein Zeichen, eins der vielen Zeichen des Rückganges unsrer humanistischen
Bildung, was sich in dem gegenwärtigen Gebrauchsverhältnis dieser drei Wörter
ausspricht. Das schlechteste Wort das gebräuchlichste, das beste — fast unbekannt.
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