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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Gustav Freytags Soll und Haben

Wart über sich, wenige neben sich stelle, so durfte er das mit Selbstgefühl
sagen, und wir dürfen ihm nicht anrechnen, daß wir etwa Theodor Storm
und Wilhelm Raabe heute über ihn zu stellen geneigt sind. Im Gegenteil,
wir möchten sagen, daß das nachlebende Geschlecht nicht so gerecht gegen
Freytag ist, wie seine Zeit es war. Freytags Romane und seine "Journalisten",
die man heute als historisches Lustspiel auffassen und spielen muß (auch Lindau
verlangt das), sind sicherlich Höhepunkte ihrer Gattung, wenn auch die Romane
nicht gleich die höchsten Gipfel überhaupt darstellen. Die Probe auf das
Exempel macht immer die wiederholte Lektüre. Ich habe, angeregt durch
Lindau, "Soll und Haben" wieder gelesen, wohl zum zehntSnmal in den acht¬
zehn Jahren, die ich das Buch kenne. Und der Eindruck ist immer wieder so
frisch wie je; nicht nur, daß der ästhetisch unanfechtbare Aufbau immer wieder
erfreut -- das Leben, das in der Erzählung steckt, quillt auch heute noch mit
echter Kraft empor, wo die Bedingungen kaufmännischer Arbeit längst andre
geworden sind. Der herzhafte Realismus dieser Szenen beweist seine Wahr¬
heit dadurch, daß im Zeitalter heißer parlamentarischer Kämpfe um unsre
Politik in den östlichen Grenzmarken dieser Dichter noch genau so lebendig
wahr erscheint wie in den fünfziger Jahren, als "Soll und Haben" zum
erstenmal in die Welt ging. Denn was Gustav Freytag. der Sohn des Grenz¬
landes, früh erkannt hatte, das ward ihm vergönnt, als Dichter zu schildern
mit dem innern Wahrheitsgehalt einer starken deutschen Seele. Wenn uns die
meisten Polenlieder des Jungen Deutschlands und der politischen Poeten hente
verblaßt erscheinen -- es müßte denn schon ein so stark verinnerlichendes
lyrisches Talent wie Lenau zu uns sprechen --, so liegt das nicht daran, daß
jene Sänger politisch auf der falschen Seite standen, sondern daran, daß sie
sich durch den Schein und Schimmer vermeintlicher Freiheit unter den Fittichen
des weißen Adlers blenden ließen. Dem klügsten von allen, Heinrich Heine,
ist ja einmal so etwas aufgedämmert, und die Polen, die sich für ihn begeistern,
werden wohl an den schlechten Zahlern seines berühmten Gedichts keine große
Freude haben. Gustav Freytag aber durchdrang innerlich Politik und Dichtung,
weil er nach der Zuchtlosigkeit stürmischer Jahre wieder auftrat als eine ge¬
schlossene Persönlichkeit, eins im Schöpfen und Kritisieren, deutsch durch und
durch, bisweilen allzu erdenschwer, mit einer gewissen Angst vor der Phantasie,
aber gerade darum der Mann, den die Zeit brauchte, und dessen Auftreten in
ihr Heinrich von Treitschke ganz mit Recht fast dramatisch als etwas Neues,
mis den Klang eines neuen Marschtritts schildert.

Gustav Freytag hat nicht die höchsten Gipfel, auch nicht die des poetischen
Realismus erreicht, dem wir ihn zuzählen müssen. Die Gewalt dämonischer
Kräfte, die Friedrich Hebbel und Wilhelm Raabe im Drama und im Romane.
Gottfried Keller, Theodor Storm und Theodor Fontane in der Novelle und
in der Lyrik mit ewigen Tönen zu rufen und mit alles begreifender Kunst zu
bannen verstanden, schlagen sein Benet Jtzig, sein Hippus, sein Fürst in der


Gustav Freytags Soll und Haben

Wart über sich, wenige neben sich stelle, so durfte er das mit Selbstgefühl
sagen, und wir dürfen ihm nicht anrechnen, daß wir etwa Theodor Storm
und Wilhelm Raabe heute über ihn zu stellen geneigt sind. Im Gegenteil,
wir möchten sagen, daß das nachlebende Geschlecht nicht so gerecht gegen
Freytag ist, wie seine Zeit es war. Freytags Romane und seine „Journalisten",
die man heute als historisches Lustspiel auffassen und spielen muß (auch Lindau
verlangt das), sind sicherlich Höhepunkte ihrer Gattung, wenn auch die Romane
nicht gleich die höchsten Gipfel überhaupt darstellen. Die Probe auf das
Exempel macht immer die wiederholte Lektüre. Ich habe, angeregt durch
Lindau, „Soll und Haben" wieder gelesen, wohl zum zehntSnmal in den acht¬
zehn Jahren, die ich das Buch kenne. Und der Eindruck ist immer wieder so
frisch wie je; nicht nur, daß der ästhetisch unanfechtbare Aufbau immer wieder
erfreut — das Leben, das in der Erzählung steckt, quillt auch heute noch mit
echter Kraft empor, wo die Bedingungen kaufmännischer Arbeit längst andre
geworden sind. Der herzhafte Realismus dieser Szenen beweist seine Wahr¬
heit dadurch, daß im Zeitalter heißer parlamentarischer Kämpfe um unsre
Politik in den östlichen Grenzmarken dieser Dichter noch genau so lebendig
wahr erscheint wie in den fünfziger Jahren, als „Soll und Haben" zum
erstenmal in die Welt ging. Denn was Gustav Freytag. der Sohn des Grenz¬
landes, früh erkannt hatte, das ward ihm vergönnt, als Dichter zu schildern
mit dem innern Wahrheitsgehalt einer starken deutschen Seele. Wenn uns die
meisten Polenlieder des Jungen Deutschlands und der politischen Poeten hente
verblaßt erscheinen — es müßte denn schon ein so stark verinnerlichendes
lyrisches Talent wie Lenau zu uns sprechen —, so liegt das nicht daran, daß
jene Sänger politisch auf der falschen Seite standen, sondern daran, daß sie
sich durch den Schein und Schimmer vermeintlicher Freiheit unter den Fittichen
des weißen Adlers blenden ließen. Dem klügsten von allen, Heinrich Heine,
ist ja einmal so etwas aufgedämmert, und die Polen, die sich für ihn begeistern,
werden wohl an den schlechten Zahlern seines berühmten Gedichts keine große
Freude haben. Gustav Freytag aber durchdrang innerlich Politik und Dichtung,
weil er nach der Zuchtlosigkeit stürmischer Jahre wieder auftrat als eine ge¬
schlossene Persönlichkeit, eins im Schöpfen und Kritisieren, deutsch durch und
durch, bisweilen allzu erdenschwer, mit einer gewissen Angst vor der Phantasie,
aber gerade darum der Mann, den die Zeit brauchte, und dessen Auftreten in
ihr Heinrich von Treitschke ganz mit Recht fast dramatisch als etwas Neues,
mis den Klang eines neuen Marschtritts schildert.

Gustav Freytag hat nicht die höchsten Gipfel, auch nicht die des poetischen
Realismus erreicht, dem wir ihn zuzählen müssen. Die Gewalt dämonischer
Kräfte, die Friedrich Hebbel und Wilhelm Raabe im Drama und im Romane.
Gottfried Keller, Theodor Storm und Theodor Fontane in der Novelle und
in der Lyrik mit ewigen Tönen zu rufen und mit alles begreifender Kunst zu
bannen verstanden, schlagen sein Benet Jtzig, sein Hippus, sein Fürst in der


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[0481] Gustav Freytags Soll und Haben Wart über sich, wenige neben sich stelle, so durfte er das mit Selbstgefühl sagen, und wir dürfen ihm nicht anrechnen, daß wir etwa Theodor Storm und Wilhelm Raabe heute über ihn zu stellen geneigt sind. Im Gegenteil, wir möchten sagen, daß das nachlebende Geschlecht nicht so gerecht gegen Freytag ist, wie seine Zeit es war. Freytags Romane und seine „Journalisten", die man heute als historisches Lustspiel auffassen und spielen muß (auch Lindau verlangt das), sind sicherlich Höhepunkte ihrer Gattung, wenn auch die Romane nicht gleich die höchsten Gipfel überhaupt darstellen. Die Probe auf das Exempel macht immer die wiederholte Lektüre. Ich habe, angeregt durch Lindau, „Soll und Haben" wieder gelesen, wohl zum zehntSnmal in den acht¬ zehn Jahren, die ich das Buch kenne. Und der Eindruck ist immer wieder so frisch wie je; nicht nur, daß der ästhetisch unanfechtbare Aufbau immer wieder erfreut — das Leben, das in der Erzählung steckt, quillt auch heute noch mit echter Kraft empor, wo die Bedingungen kaufmännischer Arbeit längst andre geworden sind. Der herzhafte Realismus dieser Szenen beweist seine Wahr¬ heit dadurch, daß im Zeitalter heißer parlamentarischer Kämpfe um unsre Politik in den östlichen Grenzmarken dieser Dichter noch genau so lebendig wahr erscheint wie in den fünfziger Jahren, als „Soll und Haben" zum erstenmal in die Welt ging. Denn was Gustav Freytag. der Sohn des Grenz¬ landes, früh erkannt hatte, das ward ihm vergönnt, als Dichter zu schildern mit dem innern Wahrheitsgehalt einer starken deutschen Seele. Wenn uns die meisten Polenlieder des Jungen Deutschlands und der politischen Poeten hente verblaßt erscheinen — es müßte denn schon ein so stark verinnerlichendes lyrisches Talent wie Lenau zu uns sprechen —, so liegt das nicht daran, daß jene Sänger politisch auf der falschen Seite standen, sondern daran, daß sie sich durch den Schein und Schimmer vermeintlicher Freiheit unter den Fittichen des weißen Adlers blenden ließen. Dem klügsten von allen, Heinrich Heine, ist ja einmal so etwas aufgedämmert, und die Polen, die sich für ihn begeistern, werden wohl an den schlechten Zahlern seines berühmten Gedichts keine große Freude haben. Gustav Freytag aber durchdrang innerlich Politik und Dichtung, weil er nach der Zuchtlosigkeit stürmischer Jahre wieder auftrat als eine ge¬ schlossene Persönlichkeit, eins im Schöpfen und Kritisieren, deutsch durch und durch, bisweilen allzu erdenschwer, mit einer gewissen Angst vor der Phantasie, aber gerade darum der Mann, den die Zeit brauchte, und dessen Auftreten in ihr Heinrich von Treitschke ganz mit Recht fast dramatisch als etwas Neues, mis den Klang eines neuen Marschtritts schildert. Gustav Freytag hat nicht die höchsten Gipfel, auch nicht die des poetischen Realismus erreicht, dem wir ihn zuzählen müssen. Die Gewalt dämonischer Kräfte, die Friedrich Hebbel und Wilhelm Raabe im Drama und im Romane. Gottfried Keller, Theodor Storm und Theodor Fontane in der Novelle und in der Lyrik mit ewigen Tönen zu rufen und mit alles begreifender Kunst zu bannen verstanden, schlagen sein Benet Jtzig, sein Hippus, sein Fürst in der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/481>, abgerufen am 24.08.2024.