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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Theodor Liuoncrs Mellgcschichto

einer nach veränderten Grundsätzen geregelten staatlichen Verwaltung mißt er
namentlich Karl dem Vierten mit Recht eine wesentliche Bedeutung bei, der
bei ihm überhaupt viel günstiger beurteilt wird als in den meisten frühern
Darstellungen. Im Zusammenhang mit den staatlichen Emanzipationsbe¬
strebungen, die theoretisch ihre Hauptvertreter in Marsilius von Padua und
Johann von Jandun finden (der Vektor p"ol"), treten dann die Kouzils-
bestrebuugen auf, die der Allgewalt des Papstes den Satz entgegenstellen, daß
die Vertretung aller Gläubigen nicht der Papst, sondern das allgemeine Konzil
sei. Dann wendet sich Lindner dem Wirken Wiclifs zu, der zuerst das ganze
System der Kirche und der dogmatischen Theologie angreift und damit die
Grundlage schafft, auf der sich später die deutsche Reformation erheben konnte.
Schon Wiclif forderte Säkularisierung der Kirchengüter. Sehr treffend wird
auch die Bedeutung geschildert, die die Mystik für die weitere kirchlich-religiöse
Entwicklung gehabt hat. Entscheidend wurde für die auf Unabhängigkeit von,
Papsttum gerichtete Bewegung dann namentlich das päpstliche Schisma, das
die Autorität des Papsttums vou innen heraus zersetzte.

Bevor sich Lindner dann der großen Entwicklung der deutschen Refor¬
mation Luthers zuwendet, wirft er im vierten Bande "och einmal einen
Blick auf den Orient, durch dessen Stillstand und allmähliche Erstarrung das
Aufsteigen Europas erst möglich wurde. Diese Schilderung des Orients, des
Untergangs von Byzanz und der Gründung des türkische" Reichs, seiner Größe
und seines Verfalls sind ihm das notwendige Gegenbild der abendländischen
Entwicklung, die ihm noch einmal Gelegenheit zu allgemeinsten und auf großer
Höhe stehenden Vergleichen beider gibt. Semiten und Hannen siud allmählich
zurückgetreten. "So sind es fast ausschließlich die mongolischen und die indo¬
germanischen Völker, auf denen die Entwicklung der Welt beruht." (IV, 3, 4.)
Die Jndogermcinen sind Individualisten und Idealisten, die Mongolei, Massen-
"ut Autoritätsmenschen und Realisten. Daß dann endgiltig die Indogermanen
die Führung errangen, liegt an ihrer größern Anpassungsfähigkeit. Die
Gründe, aus denen die orientalischen Kulturen meist ebenso schnell erstarrten
und stehen blieben, wie sie emporgekommen waren, werden eben aus ihren,
Maugel an Anpassungsfähigkeit trefflich veranschaulicht.

In der Schilderung der abendländischen Kultur des fünfzehnten und sech¬
zehnten Jahrhunderts unterscheidet sich Lindners Darstellung von der seiner
Vorgänger vor allen Dingen dadurch, daß er. wie schon erwähnt worden ist,
die weltgeschichtliche Bedeutung des Humanismus und der Renaissance minder
hoch anschlägt und vor ihrer Überschätzung warnt. Trotz dieser Vegrenzung.
zum Teil vielleicht in deren Folge, bietet seine eingehende Darstellung dieser
Kulturbewegungen einen eigenartigen Reiz. Noch auffallender vielleicht wird
seine Anschauung erscheinen, daß selbst die Reformation Luthers, so fundamental
ihre Wirkung gewesen ist, doch nicht eigentlich als der Beginn einer neuen
Periode angesehen werden könne. Er polemisiert hier geradezu gegen die gesamte


Theodor Liuoncrs Mellgcschichto

einer nach veränderten Grundsätzen geregelten staatlichen Verwaltung mißt er
namentlich Karl dem Vierten mit Recht eine wesentliche Bedeutung bei, der
bei ihm überhaupt viel günstiger beurteilt wird als in den meisten frühern
Darstellungen. Im Zusammenhang mit den staatlichen Emanzipationsbe¬
strebungen, die theoretisch ihre Hauptvertreter in Marsilius von Padua und
Johann von Jandun finden (der Vektor p»ol«), treten dann die Kouzils-
bestrebuugen auf, die der Allgewalt des Papstes den Satz entgegenstellen, daß
die Vertretung aller Gläubigen nicht der Papst, sondern das allgemeine Konzil
sei. Dann wendet sich Lindner dem Wirken Wiclifs zu, der zuerst das ganze
System der Kirche und der dogmatischen Theologie angreift und damit die
Grundlage schafft, auf der sich später die deutsche Reformation erheben konnte.
Schon Wiclif forderte Säkularisierung der Kirchengüter. Sehr treffend wird
auch die Bedeutung geschildert, die die Mystik für die weitere kirchlich-religiöse
Entwicklung gehabt hat. Entscheidend wurde für die auf Unabhängigkeit von,
Papsttum gerichtete Bewegung dann namentlich das päpstliche Schisma, das
die Autorität des Papsttums vou innen heraus zersetzte.

Bevor sich Lindner dann der großen Entwicklung der deutschen Refor¬
mation Luthers zuwendet, wirft er im vierten Bande »och einmal einen
Blick auf den Orient, durch dessen Stillstand und allmähliche Erstarrung das
Aufsteigen Europas erst möglich wurde. Diese Schilderung des Orients, des
Untergangs von Byzanz und der Gründung des türkische» Reichs, seiner Größe
und seines Verfalls sind ihm das notwendige Gegenbild der abendländischen
Entwicklung, die ihm noch einmal Gelegenheit zu allgemeinsten und auf großer
Höhe stehenden Vergleichen beider gibt. Semiten und Hannen siud allmählich
zurückgetreten. „So sind es fast ausschließlich die mongolischen und die indo¬
germanischen Völker, auf denen die Entwicklung der Welt beruht." (IV, 3, 4.)
Die Jndogermcinen sind Individualisten und Idealisten, die Mongolei, Massen-
"ut Autoritätsmenschen und Realisten. Daß dann endgiltig die Indogermanen
die Führung errangen, liegt an ihrer größern Anpassungsfähigkeit. Die
Gründe, aus denen die orientalischen Kulturen meist ebenso schnell erstarrten
und stehen blieben, wie sie emporgekommen waren, werden eben aus ihren,
Maugel an Anpassungsfähigkeit trefflich veranschaulicht.

In der Schilderung der abendländischen Kultur des fünfzehnten und sech¬
zehnten Jahrhunderts unterscheidet sich Lindners Darstellung von der seiner
Vorgänger vor allen Dingen dadurch, daß er. wie schon erwähnt worden ist,
die weltgeschichtliche Bedeutung des Humanismus und der Renaissance minder
hoch anschlägt und vor ihrer Überschätzung warnt. Trotz dieser Vegrenzung.
zum Teil vielleicht in deren Folge, bietet seine eingehende Darstellung dieser
Kulturbewegungen einen eigenartigen Reiz. Noch auffallender vielleicht wird
seine Anschauung erscheinen, daß selbst die Reformation Luthers, so fundamental
ihre Wirkung gewesen ist, doch nicht eigentlich als der Beginn einer neuen
Periode angesehen werden könne. Er polemisiert hier geradezu gegen die gesamte


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[0475] Theodor Liuoncrs Mellgcschichto einer nach veränderten Grundsätzen geregelten staatlichen Verwaltung mißt er namentlich Karl dem Vierten mit Recht eine wesentliche Bedeutung bei, der bei ihm überhaupt viel günstiger beurteilt wird als in den meisten frühern Darstellungen. Im Zusammenhang mit den staatlichen Emanzipationsbe¬ strebungen, die theoretisch ihre Hauptvertreter in Marsilius von Padua und Johann von Jandun finden (der Vektor p»ol«), treten dann die Kouzils- bestrebuugen auf, die der Allgewalt des Papstes den Satz entgegenstellen, daß die Vertretung aller Gläubigen nicht der Papst, sondern das allgemeine Konzil sei. Dann wendet sich Lindner dem Wirken Wiclifs zu, der zuerst das ganze System der Kirche und der dogmatischen Theologie angreift und damit die Grundlage schafft, auf der sich später die deutsche Reformation erheben konnte. Schon Wiclif forderte Säkularisierung der Kirchengüter. Sehr treffend wird auch die Bedeutung geschildert, die die Mystik für die weitere kirchlich-religiöse Entwicklung gehabt hat. Entscheidend wurde für die auf Unabhängigkeit von, Papsttum gerichtete Bewegung dann namentlich das päpstliche Schisma, das die Autorität des Papsttums vou innen heraus zersetzte. Bevor sich Lindner dann der großen Entwicklung der deutschen Refor¬ mation Luthers zuwendet, wirft er im vierten Bande »och einmal einen Blick auf den Orient, durch dessen Stillstand und allmähliche Erstarrung das Aufsteigen Europas erst möglich wurde. Diese Schilderung des Orients, des Untergangs von Byzanz und der Gründung des türkische» Reichs, seiner Größe und seines Verfalls sind ihm das notwendige Gegenbild der abendländischen Entwicklung, die ihm noch einmal Gelegenheit zu allgemeinsten und auf großer Höhe stehenden Vergleichen beider gibt. Semiten und Hannen siud allmählich zurückgetreten. „So sind es fast ausschließlich die mongolischen und die indo¬ germanischen Völker, auf denen die Entwicklung der Welt beruht." (IV, 3, 4.) Die Jndogermcinen sind Individualisten und Idealisten, die Mongolei, Massen- "ut Autoritätsmenschen und Realisten. Daß dann endgiltig die Indogermanen die Führung errangen, liegt an ihrer größern Anpassungsfähigkeit. Die Gründe, aus denen die orientalischen Kulturen meist ebenso schnell erstarrten und stehen blieben, wie sie emporgekommen waren, werden eben aus ihren, Maugel an Anpassungsfähigkeit trefflich veranschaulicht. In der Schilderung der abendländischen Kultur des fünfzehnten und sech¬ zehnten Jahrhunderts unterscheidet sich Lindners Darstellung von der seiner Vorgänger vor allen Dingen dadurch, daß er. wie schon erwähnt worden ist, die weltgeschichtliche Bedeutung des Humanismus und der Renaissance minder hoch anschlägt und vor ihrer Überschätzung warnt. Trotz dieser Vegrenzung. zum Teil vielleicht in deren Folge, bietet seine eingehende Darstellung dieser Kulturbewegungen einen eigenartigen Reiz. Noch auffallender vielleicht wird seine Anschauung erscheinen, daß selbst die Reformation Luthers, so fundamental ihre Wirkung gewesen ist, doch nicht eigentlich als der Beginn einer neuen Periode angesehen werden könne. Er polemisiert hier geradezu gegen die gesamte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/475>, abgerufen am 22.07.2024.