Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.Thackeray wie wir auf den Tag die Nacht erwarten. Tom Pirch kann ebensowenig Noch in andrer Beziehung setzt der Vergleich Dickens mit Thackeray das Thackeray wie wir auf den Tag die Nacht erwarten. Tom Pirch kann ebensowenig Noch in andrer Beziehung setzt der Vergleich Dickens mit Thackeray das <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0382" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/311463"/> <fw type="header" place="top"> Thackeray</fw><lb/> <p xml:id="ID_1846" prev="#ID_1845"> wie wir auf den Tag die Nacht erwarten. Tom Pirch kann ebensowenig<lb/> seine Gutmütigkeit ablegen wie der Springquell im Tempelgarten, wo ihn<lb/> seine Schwester Ruth erwartet, sein Rauschen, und wenn uns gesagt wird, daß<lb/> die Gestalt der Ruth wie ein Sonnenstrahl das alte Advokatenquartier erhellte,<lb/> und daß durch ihre Nähe die vergilbten Dokumente in den Archiven der Feder¬<lb/> fuchser lebendig werden, so glauben wir daran ebenso wie an die Güte und<lb/> Reinheit des Mädchens selbst. Alle diese Menschen sind mit der Natur eins<lb/> und gehorchen wie diese ihrem ewigen Gesetz. Die Menschen, wie sie uns<lb/> Thackeray malt, sind eher pädagogische als dichterische Individuen. Die Leiden¬<lb/> schaft hat an ihnen kein Teil, um so mehr das Urteil und die Gesellschaft. Die<lb/> heterogensten Eigenschaften finden sich bei ihnen zusammen. George Osborne<lb/> ist zugleich hochgesinnt und niedrig, egoistisch und großmütig; feige in der<lb/> Erfüllung seiner häuslichen Pflichten, tapfer dem Feinde gegenüber, ein Held,<lb/> wenn er nach Soldatenpflicht bei Waterloo den Tod findet, und ein selbst¬<lb/> gefälliger Stutzer Amelia und Dobbin gegenüber. Ebenso widerspruchsvoll sind<lb/> die zwei meisterhaftesten Charaktere Thackerays: Becky Sharp und Beatrix<lb/> Castlewood, beide ebenso vornehm wie plebejisch, voll abstoßender Häßlichkeit<lb/> und gewinnender Anmut — in einem Augenblick frivol bis zum äußersten, im<lb/> nächsten ungeahnte Seelentiefen verratend, und dies alles mit der ungesuchtesten<lb/> Natürlichkeit. Helden zu malen hat Thackeray nicht verstanden, um so besser<lb/> ist ihm die Schilderung der gemeinen Durchschnittsart gelungen, ihm, der es<lb/> verstand, die Schwächen der menschlichen Natur mit der Treue des Natur¬<lb/> forschers zu schildern und jede Runzel in ihrem Gesicht mit Fackeln zu be¬<lb/> leuchten.</p><lb/> <p xml:id="ID_1847" next="#ID_1848"> Noch in andrer Beziehung setzt der Vergleich Dickens mit Thackeray das<lb/> Wesen beider in ein helleres Licht, und es ist nicht zufällig, daß sie unter der<lb/> Menge zeitgenössischer englischer Autoren unzertrennlich zusammen genannt<lb/> werden. Ihre Weltanschauung war nicht verschiedner als der äußerliche Verlauf<lb/> ihres Lebens, und die Weise, wie sie sich geltend machten: geniale Leidenschaft<lb/> und kritische Selbstbeherrschung; Rousseauscher Unglaube an die Segnungen der<lb/> Zivilisation und bewußte Arbeit an ihrem Werke; blinder Glaube an seine<lb/> eignen Fähigkeiten und zaghafter Zweifel an sich selbst; der Demagog und<lb/> Volksredner, der sich im Sturm die Gemüter erobert, und der dem plebejischen<lb/> Getriebe abholde, schüchterne Verstandesmensch; das plötzliche Aufleuchten des<lb/> elementaren Genies, das die höchste Stufe seiner Entwicklung früh erreicht und<lb/> dann still steht, und das kritische Talent, das immer neues aus sich schöpft —<lb/> durch solche Züge ist das Verhältnis der beiden Männer zueinander gekenn¬<lb/> zeichnet. Sie wußten, daß es sür sie keine Anknüpfungspunkte gab, darum<lb/> traten sie sich näher und blieben sich bei gegenseitigem Wohlwollen fremd.<lb/> Als der Autor der „Pickwickier", kaum mehr als zwanzig Jahre alt, den<lb/> Gipfel seines Ruhmes erklommen hatte, schwankte Thackeray noch in der Wahl<lb/> des Berufs, und es wird erzählt, wie er sich dem berühmten Booz als</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0382]
Thackeray
wie wir auf den Tag die Nacht erwarten. Tom Pirch kann ebensowenig
seine Gutmütigkeit ablegen wie der Springquell im Tempelgarten, wo ihn
seine Schwester Ruth erwartet, sein Rauschen, und wenn uns gesagt wird, daß
die Gestalt der Ruth wie ein Sonnenstrahl das alte Advokatenquartier erhellte,
und daß durch ihre Nähe die vergilbten Dokumente in den Archiven der Feder¬
fuchser lebendig werden, so glauben wir daran ebenso wie an die Güte und
Reinheit des Mädchens selbst. Alle diese Menschen sind mit der Natur eins
und gehorchen wie diese ihrem ewigen Gesetz. Die Menschen, wie sie uns
Thackeray malt, sind eher pädagogische als dichterische Individuen. Die Leiden¬
schaft hat an ihnen kein Teil, um so mehr das Urteil und die Gesellschaft. Die
heterogensten Eigenschaften finden sich bei ihnen zusammen. George Osborne
ist zugleich hochgesinnt und niedrig, egoistisch und großmütig; feige in der
Erfüllung seiner häuslichen Pflichten, tapfer dem Feinde gegenüber, ein Held,
wenn er nach Soldatenpflicht bei Waterloo den Tod findet, und ein selbst¬
gefälliger Stutzer Amelia und Dobbin gegenüber. Ebenso widerspruchsvoll sind
die zwei meisterhaftesten Charaktere Thackerays: Becky Sharp und Beatrix
Castlewood, beide ebenso vornehm wie plebejisch, voll abstoßender Häßlichkeit
und gewinnender Anmut — in einem Augenblick frivol bis zum äußersten, im
nächsten ungeahnte Seelentiefen verratend, und dies alles mit der ungesuchtesten
Natürlichkeit. Helden zu malen hat Thackeray nicht verstanden, um so besser
ist ihm die Schilderung der gemeinen Durchschnittsart gelungen, ihm, der es
verstand, die Schwächen der menschlichen Natur mit der Treue des Natur¬
forschers zu schildern und jede Runzel in ihrem Gesicht mit Fackeln zu be¬
leuchten.
Noch in andrer Beziehung setzt der Vergleich Dickens mit Thackeray das
Wesen beider in ein helleres Licht, und es ist nicht zufällig, daß sie unter der
Menge zeitgenössischer englischer Autoren unzertrennlich zusammen genannt
werden. Ihre Weltanschauung war nicht verschiedner als der äußerliche Verlauf
ihres Lebens, und die Weise, wie sie sich geltend machten: geniale Leidenschaft
und kritische Selbstbeherrschung; Rousseauscher Unglaube an die Segnungen der
Zivilisation und bewußte Arbeit an ihrem Werke; blinder Glaube an seine
eignen Fähigkeiten und zaghafter Zweifel an sich selbst; der Demagog und
Volksredner, der sich im Sturm die Gemüter erobert, und der dem plebejischen
Getriebe abholde, schüchterne Verstandesmensch; das plötzliche Aufleuchten des
elementaren Genies, das die höchste Stufe seiner Entwicklung früh erreicht und
dann still steht, und das kritische Talent, das immer neues aus sich schöpft —
durch solche Züge ist das Verhältnis der beiden Männer zueinander gekenn¬
zeichnet. Sie wußten, daß es sür sie keine Anknüpfungspunkte gab, darum
traten sie sich näher und blieben sich bei gegenseitigem Wohlwollen fremd.
Als der Autor der „Pickwickier", kaum mehr als zwanzig Jahre alt, den
Gipfel seines Ruhmes erklommen hatte, schwankte Thackeray noch in der Wahl
des Berufs, und es wird erzählt, wie er sich dem berühmten Booz als
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |