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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Thackeray

Sand, ihre Ansichten über die Unzulänglichkeit gesellschaftlicher Einrichtungen
goß, entlockte seiner Weltklugheit ein hämisches, vielleicht etwas wehmütiges
Lächeln; das kriegerische Angebot dieser Dame, sie wolle in dem großen
Kampfe um die Güter, deren Besitz die Systeme Se. Simons und Proudhons
dem kommenden Geschlecht versprachen, das tun, was eine arme, schwache Fran
und Poetin tun könne: dienen und sterben -- erschien dem Späher in das
nichtpolitische Leben der Madame Düdevant als eine glänzende, aber leere
Seiltänzerpose. Manchmal verläßt ihn sogar der ruhige Ton, wenn ihn aus
"Jndiana" und >,Lelia" der heiße Atem der Romantik anwehe, und in einer
Besprechung des zuletzt genannten Werkes fällt er mit dem Ingrimm eines
Hogarthschen Gottesgerichts über die eiteln, gotteslästerlichen Romantiker her.
Ein gut Teil dieser neuen sozialen und poetischen Richtung hat sich dank
der Julirevolution, deren Errungenschaften die beiden Nationen gleichmäßig
erregten, jenseits des Kanals wohl nicht unter dem Namen einer Schule (eine
solche widersprach dem britischen Sondergeist) so doch als Jung-England-Partei
festgesetzt, einer Gruppe von mehr oder minder klardenkenden und bedeutenden
Köpfen, deren jugendlichster, seltsam genug, der älteste unter ihnen, Benjamin
Disraeli war. Byron, der Abgott und das geniale Vorbild des jungen Frank¬
reichs, wie Walter Scott ihr stoffliches und Shakespeare ihr philosophisches
Vorbild war, hatte bei dieser Taufe Pate gestanden, und in Alfred de Musset
loderte die Flamme Byronschen Genies verzehrend auf, bis sie erlosch.

Der Angriff Thackerays auf die heimische Romantik -- wir sehen ihn
in den ersten, beinahe durchweg satirischen Schriften -- ging sogleich in das
Herz der Sache. Der große Irrtum, den die Romantiker, oder englischen Zu¬
ständen mehr angemessen: die Romantik Bulwers, Dickens beging, war der,
daß sie von einem, nach Thackerays Meinung, falschen Idealismus geleitet,
den Menschen als das die Gesellschaft bildende Element nicht so schilderte, wie
er war, das heißt, wie er ihm erschien, sondern dabei über die Grenzen der
Natur hinausging. "Seitdem Fielding den Tom Jones geschrieben, sagt er
in der Vorrede zu Pendennis, ist es keinem Schriftsteller vergönnt gewesen,
mit dem ganzen Aufwands seiner Kraft einen Menschen zu malen. Wir müssen
ihn gestalten und ihm ein konventionelles Gepräge geben." Figuren wie
Bulwers Eugen Aram oder Paul Clifford, Dickens Nancy und Sykes (in
Oliver Toise) erschienen ihm melodramatisch und unwahr. "Es ist nicht
natürlich, sagt er mit Hinweis auf Bulwers von deutscher Philosophie ange¬
kränkelte Räuber, daß sich ein Verbrecher in philosophischen Redensarten er¬
geht; und ich glaube, ein solches Individuum ist in einem Buche nicht weniger
verabscheuungswürdig als im Leben." Allenthalben versiele man in den Fehler
optimistischer Färbung: "Ihr wollt nicht hören, was in der wirklichen Welt
vorgeht, wie es in der Gesellschaft aussieht, in den Klubs, Kollegien und
Kasernen, wie eure Söhne leben, und wovon sie reden. Ihr wollt den
raffaelitischen Anstrich oder den eines Malers der Schrecken, der ebenso weit


Thackeray

Sand, ihre Ansichten über die Unzulänglichkeit gesellschaftlicher Einrichtungen
goß, entlockte seiner Weltklugheit ein hämisches, vielleicht etwas wehmütiges
Lächeln; das kriegerische Angebot dieser Dame, sie wolle in dem großen
Kampfe um die Güter, deren Besitz die Systeme Se. Simons und Proudhons
dem kommenden Geschlecht versprachen, das tun, was eine arme, schwache Fran
und Poetin tun könne: dienen und sterben — erschien dem Späher in das
nichtpolitische Leben der Madame Düdevant als eine glänzende, aber leere
Seiltänzerpose. Manchmal verläßt ihn sogar der ruhige Ton, wenn ihn aus
„Jndiana" und >,Lelia" der heiße Atem der Romantik anwehe, und in einer
Besprechung des zuletzt genannten Werkes fällt er mit dem Ingrimm eines
Hogarthschen Gottesgerichts über die eiteln, gotteslästerlichen Romantiker her.
Ein gut Teil dieser neuen sozialen und poetischen Richtung hat sich dank
der Julirevolution, deren Errungenschaften die beiden Nationen gleichmäßig
erregten, jenseits des Kanals wohl nicht unter dem Namen einer Schule (eine
solche widersprach dem britischen Sondergeist) so doch als Jung-England-Partei
festgesetzt, einer Gruppe von mehr oder minder klardenkenden und bedeutenden
Köpfen, deren jugendlichster, seltsam genug, der älteste unter ihnen, Benjamin
Disraeli war. Byron, der Abgott und das geniale Vorbild des jungen Frank¬
reichs, wie Walter Scott ihr stoffliches und Shakespeare ihr philosophisches
Vorbild war, hatte bei dieser Taufe Pate gestanden, und in Alfred de Musset
loderte die Flamme Byronschen Genies verzehrend auf, bis sie erlosch.

Der Angriff Thackerays auf die heimische Romantik — wir sehen ihn
in den ersten, beinahe durchweg satirischen Schriften — ging sogleich in das
Herz der Sache. Der große Irrtum, den die Romantiker, oder englischen Zu¬
ständen mehr angemessen: die Romantik Bulwers, Dickens beging, war der,
daß sie von einem, nach Thackerays Meinung, falschen Idealismus geleitet,
den Menschen als das die Gesellschaft bildende Element nicht so schilderte, wie
er war, das heißt, wie er ihm erschien, sondern dabei über die Grenzen der
Natur hinausging. „Seitdem Fielding den Tom Jones geschrieben, sagt er
in der Vorrede zu Pendennis, ist es keinem Schriftsteller vergönnt gewesen,
mit dem ganzen Aufwands seiner Kraft einen Menschen zu malen. Wir müssen
ihn gestalten und ihm ein konventionelles Gepräge geben." Figuren wie
Bulwers Eugen Aram oder Paul Clifford, Dickens Nancy und Sykes (in
Oliver Toise) erschienen ihm melodramatisch und unwahr. „Es ist nicht
natürlich, sagt er mit Hinweis auf Bulwers von deutscher Philosophie ange¬
kränkelte Räuber, daß sich ein Verbrecher in philosophischen Redensarten er¬
geht; und ich glaube, ein solches Individuum ist in einem Buche nicht weniger
verabscheuungswürdig als im Leben." Allenthalben versiele man in den Fehler
optimistischer Färbung: „Ihr wollt nicht hören, was in der wirklichen Welt
vorgeht, wie es in der Gesellschaft aussieht, in den Klubs, Kollegien und
Kasernen, wie eure Söhne leben, und wovon sie reden. Ihr wollt den
raffaelitischen Anstrich oder den eines Malers der Schrecken, der ebenso weit


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[0380] Thackeray Sand, ihre Ansichten über die Unzulänglichkeit gesellschaftlicher Einrichtungen goß, entlockte seiner Weltklugheit ein hämisches, vielleicht etwas wehmütiges Lächeln; das kriegerische Angebot dieser Dame, sie wolle in dem großen Kampfe um die Güter, deren Besitz die Systeme Se. Simons und Proudhons dem kommenden Geschlecht versprachen, das tun, was eine arme, schwache Fran und Poetin tun könne: dienen und sterben — erschien dem Späher in das nichtpolitische Leben der Madame Düdevant als eine glänzende, aber leere Seiltänzerpose. Manchmal verläßt ihn sogar der ruhige Ton, wenn ihn aus „Jndiana" und >,Lelia" der heiße Atem der Romantik anwehe, und in einer Besprechung des zuletzt genannten Werkes fällt er mit dem Ingrimm eines Hogarthschen Gottesgerichts über die eiteln, gotteslästerlichen Romantiker her. Ein gut Teil dieser neuen sozialen und poetischen Richtung hat sich dank der Julirevolution, deren Errungenschaften die beiden Nationen gleichmäßig erregten, jenseits des Kanals wohl nicht unter dem Namen einer Schule (eine solche widersprach dem britischen Sondergeist) so doch als Jung-England-Partei festgesetzt, einer Gruppe von mehr oder minder klardenkenden und bedeutenden Köpfen, deren jugendlichster, seltsam genug, der älteste unter ihnen, Benjamin Disraeli war. Byron, der Abgott und das geniale Vorbild des jungen Frank¬ reichs, wie Walter Scott ihr stoffliches und Shakespeare ihr philosophisches Vorbild war, hatte bei dieser Taufe Pate gestanden, und in Alfred de Musset loderte die Flamme Byronschen Genies verzehrend auf, bis sie erlosch. Der Angriff Thackerays auf die heimische Romantik — wir sehen ihn in den ersten, beinahe durchweg satirischen Schriften — ging sogleich in das Herz der Sache. Der große Irrtum, den die Romantiker, oder englischen Zu¬ ständen mehr angemessen: die Romantik Bulwers, Dickens beging, war der, daß sie von einem, nach Thackerays Meinung, falschen Idealismus geleitet, den Menschen als das die Gesellschaft bildende Element nicht so schilderte, wie er war, das heißt, wie er ihm erschien, sondern dabei über die Grenzen der Natur hinausging. „Seitdem Fielding den Tom Jones geschrieben, sagt er in der Vorrede zu Pendennis, ist es keinem Schriftsteller vergönnt gewesen, mit dem ganzen Aufwands seiner Kraft einen Menschen zu malen. Wir müssen ihn gestalten und ihm ein konventionelles Gepräge geben." Figuren wie Bulwers Eugen Aram oder Paul Clifford, Dickens Nancy und Sykes (in Oliver Toise) erschienen ihm melodramatisch und unwahr. „Es ist nicht natürlich, sagt er mit Hinweis auf Bulwers von deutscher Philosophie ange¬ kränkelte Räuber, daß sich ein Verbrecher in philosophischen Redensarten er¬ geht; und ich glaube, ein solches Individuum ist in einem Buche nicht weniger verabscheuungswürdig als im Leben." Allenthalben versiele man in den Fehler optimistischer Färbung: „Ihr wollt nicht hören, was in der wirklichen Welt vorgeht, wie es in der Gesellschaft aussieht, in den Klubs, Kollegien und Kasernen, wie eure Söhne leben, und wovon sie reden. Ihr wollt den raffaelitischen Anstrich oder den eines Malers der Schrecken, der ebenso weit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/380>, abgerufen am 24.08.2024.