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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Der Verfall des städtischen Regiments in Deutschland

deutlich genug, und zwar in mehr oder minder starkem Gegensatz zu dem agra¬
rischen Organisationsprinzip des herrschaftlichen Verbandes, hervortritt, eine
nebensächliche Rolle zuzuweisen. Und doch können wir für eine ganze Menge
von Erscheinungen des modernen Lebens und für ernste Fragen, die sich aus
dem rapiden und zum Teil durchaus ungesunden Anwachsen unsrer Städte er¬
geben, nur in einer aufmerksamen Betrachtung der Städteentwickluug und der
ältern städtischen Verwaltungs- und Wirtschaftspolitik Erklärung und Antwort
finden.

Ein Buch von Hugo Preuß, Die Entwicklung des deutschen
Städtewesens, dessen erster Band soeben erschienen ist (Leipzig, B. G. Teubner,
geheftet 4,80 Mark, gebunden 6 Mark), dürfte berufen sein, die angedeutete Lücke
auszufüllen und die Aufmerksamkeit der Historiker, Politiker und National¬
ökonomen auf eine Seite unsers Kulturlebens zu lenken, die in mehr als einer
Hinsicht den uns Deutschen so häufig zum Vorwurf gemachten Mangel an
politischem Verständnis und politischer Schulung bestätigt und das Kapitel von
den verpaßten Gelegenheiten in nicht gerade erfreulicher Weise bereichert.

Wie so vieles andre bei uus ist auch die städtische Verfassung im Sinne
der freien Genossenschaft über vielversprechende Anfänge nicht hinausgekommen
und trotz einer glückverheißenden kurzen Blütezeit urbauen Wesens -- man
denke nur an die Hansa! -- im Kampfe gegen die feudalen Mächte des Fürsten¬
tums und des Adels unterlegen. Der Verfasser, dessen Sympathien, wie es
bei einer so eingehenden und liebevollen Vertiefung in den Stoff nicht ver¬
wunderlich ist, unverkennbar auf feiten des Bürgertums stehn, mißt die Schuld
an der Verkümmerung der städtischen Selbständigkeit in der Hauptsache jenen
feudalen Mächten bei, die ihm gleichsam als das böse Prinzip im Leben unsers
Volkes erscheinen. Ob man sie wirklich allein für den frühen Verfall des ur-
baren Wesens verantwortlich machen darf, und ob eine Stärkung der städtischen
Macht auf Kosten des platten Landes, wie wir sie zum Beispiel in Italien be¬
obachten können, in der Tat ein so großer Segen in wirtschaftlicher und na¬
tionaler Hinsicht gewesen wäre, wie Preuß anzunehmen scheint, dürfte sich be-
streiten lassen. Unsers Erachtens ist eine der Hauptursachen der vom Verfasser
beklagten Entwicklung im Nationalcharakter des Deutschen zu suchen, der sich
von jeher mehr zur Natur, das heißt zum Lande, hingezogen fühlte und weit
weniger als der Romane das Bedürfnis empfand, sich mit seinesgleichen zu
einem engen Verbände zusammenzuschließen.

Preuß findet für diese Tatsache eine andre Erklärung. Er sieht in dem
gesteigerten Urbanisierungsprozeß der romanischen Länder die stärkere Nach¬
wirkung der antiken römischen Staatskultur, die im wesentlichen einen durchaus
städtischen Charakter trug.

"Mit diesem urbaren römischen Staatswesen, schreibt er, stieß nun das
noch primitive, reine Agrarwesen der Germanen zusammen, und beides durch¬
drang sich in den gewaltigen Evolutionen der Völkerwanderung. Das Misch-


Der Verfall des städtischen Regiments in Deutschland

deutlich genug, und zwar in mehr oder minder starkem Gegensatz zu dem agra¬
rischen Organisationsprinzip des herrschaftlichen Verbandes, hervortritt, eine
nebensächliche Rolle zuzuweisen. Und doch können wir für eine ganze Menge
von Erscheinungen des modernen Lebens und für ernste Fragen, die sich aus
dem rapiden und zum Teil durchaus ungesunden Anwachsen unsrer Städte er¬
geben, nur in einer aufmerksamen Betrachtung der Städteentwickluug und der
ältern städtischen Verwaltungs- und Wirtschaftspolitik Erklärung und Antwort
finden.

Ein Buch von Hugo Preuß, Die Entwicklung des deutschen
Städtewesens, dessen erster Band soeben erschienen ist (Leipzig, B. G. Teubner,
geheftet 4,80 Mark, gebunden 6 Mark), dürfte berufen sein, die angedeutete Lücke
auszufüllen und die Aufmerksamkeit der Historiker, Politiker und National¬
ökonomen auf eine Seite unsers Kulturlebens zu lenken, die in mehr als einer
Hinsicht den uns Deutschen so häufig zum Vorwurf gemachten Mangel an
politischem Verständnis und politischer Schulung bestätigt und das Kapitel von
den verpaßten Gelegenheiten in nicht gerade erfreulicher Weise bereichert.

Wie so vieles andre bei uus ist auch die städtische Verfassung im Sinne
der freien Genossenschaft über vielversprechende Anfänge nicht hinausgekommen
und trotz einer glückverheißenden kurzen Blütezeit urbauen Wesens — man
denke nur an die Hansa! — im Kampfe gegen die feudalen Mächte des Fürsten¬
tums und des Adels unterlegen. Der Verfasser, dessen Sympathien, wie es
bei einer so eingehenden und liebevollen Vertiefung in den Stoff nicht ver¬
wunderlich ist, unverkennbar auf feiten des Bürgertums stehn, mißt die Schuld
an der Verkümmerung der städtischen Selbständigkeit in der Hauptsache jenen
feudalen Mächten bei, die ihm gleichsam als das böse Prinzip im Leben unsers
Volkes erscheinen. Ob man sie wirklich allein für den frühen Verfall des ur-
baren Wesens verantwortlich machen darf, und ob eine Stärkung der städtischen
Macht auf Kosten des platten Landes, wie wir sie zum Beispiel in Italien be¬
obachten können, in der Tat ein so großer Segen in wirtschaftlicher und na¬
tionaler Hinsicht gewesen wäre, wie Preuß anzunehmen scheint, dürfte sich be-
streiten lassen. Unsers Erachtens ist eine der Hauptursachen der vom Verfasser
beklagten Entwicklung im Nationalcharakter des Deutschen zu suchen, der sich
von jeher mehr zur Natur, das heißt zum Lande, hingezogen fühlte und weit
weniger als der Romane das Bedürfnis empfand, sich mit seinesgleichen zu
einem engen Verbände zusammenzuschließen.

Preuß findet für diese Tatsache eine andre Erklärung. Er sieht in dem
gesteigerten Urbanisierungsprozeß der romanischen Länder die stärkere Nach¬
wirkung der antiken römischen Staatskultur, die im wesentlichen einen durchaus
städtischen Charakter trug.

„Mit diesem urbaren römischen Staatswesen, schreibt er, stieß nun das
noch primitive, reine Agrarwesen der Germanen zusammen, und beides durch¬
drang sich in den gewaltigen Evolutionen der Völkerwanderung. Das Misch-


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[0374] Der Verfall des städtischen Regiments in Deutschland deutlich genug, und zwar in mehr oder minder starkem Gegensatz zu dem agra¬ rischen Organisationsprinzip des herrschaftlichen Verbandes, hervortritt, eine nebensächliche Rolle zuzuweisen. Und doch können wir für eine ganze Menge von Erscheinungen des modernen Lebens und für ernste Fragen, die sich aus dem rapiden und zum Teil durchaus ungesunden Anwachsen unsrer Städte er¬ geben, nur in einer aufmerksamen Betrachtung der Städteentwickluug und der ältern städtischen Verwaltungs- und Wirtschaftspolitik Erklärung und Antwort finden. Ein Buch von Hugo Preuß, Die Entwicklung des deutschen Städtewesens, dessen erster Band soeben erschienen ist (Leipzig, B. G. Teubner, geheftet 4,80 Mark, gebunden 6 Mark), dürfte berufen sein, die angedeutete Lücke auszufüllen und die Aufmerksamkeit der Historiker, Politiker und National¬ ökonomen auf eine Seite unsers Kulturlebens zu lenken, die in mehr als einer Hinsicht den uns Deutschen so häufig zum Vorwurf gemachten Mangel an politischem Verständnis und politischer Schulung bestätigt und das Kapitel von den verpaßten Gelegenheiten in nicht gerade erfreulicher Weise bereichert. Wie so vieles andre bei uus ist auch die städtische Verfassung im Sinne der freien Genossenschaft über vielversprechende Anfänge nicht hinausgekommen und trotz einer glückverheißenden kurzen Blütezeit urbauen Wesens — man denke nur an die Hansa! — im Kampfe gegen die feudalen Mächte des Fürsten¬ tums und des Adels unterlegen. Der Verfasser, dessen Sympathien, wie es bei einer so eingehenden und liebevollen Vertiefung in den Stoff nicht ver¬ wunderlich ist, unverkennbar auf feiten des Bürgertums stehn, mißt die Schuld an der Verkümmerung der städtischen Selbständigkeit in der Hauptsache jenen feudalen Mächten bei, die ihm gleichsam als das böse Prinzip im Leben unsers Volkes erscheinen. Ob man sie wirklich allein für den frühen Verfall des ur- baren Wesens verantwortlich machen darf, und ob eine Stärkung der städtischen Macht auf Kosten des platten Landes, wie wir sie zum Beispiel in Italien be¬ obachten können, in der Tat ein so großer Segen in wirtschaftlicher und na¬ tionaler Hinsicht gewesen wäre, wie Preuß anzunehmen scheint, dürfte sich be- streiten lassen. Unsers Erachtens ist eine der Hauptursachen der vom Verfasser beklagten Entwicklung im Nationalcharakter des Deutschen zu suchen, der sich von jeher mehr zur Natur, das heißt zum Lande, hingezogen fühlte und weit weniger als der Romane das Bedürfnis empfand, sich mit seinesgleichen zu einem engen Verbände zusammenzuschließen. Preuß findet für diese Tatsache eine andre Erklärung. Er sieht in dem gesteigerten Urbanisierungsprozeß der romanischen Länder die stärkere Nach¬ wirkung der antiken römischen Staatskultur, die im wesentlichen einen durchaus städtischen Charakter trug. „Mit diesem urbaren römischen Staatswesen, schreibt er, stieß nun das noch primitive, reine Agrarwesen der Germanen zusammen, und beides durch¬ drang sich in den gewaltigen Evolutionen der Völkerwanderung. Das Misch-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/374>, abgerufen am 22.07.2024.