Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Adel und Bauern in (Osteuropa

Der Steuerzuschlag selbst konnte, da er im zwölften Jahrhundert abgeschafft
wurde, in das Recht dieser Länder keinen Eingang finden, wohl aber hat er
sich in dem von Byzanz so vielfach abhängigen russischen Grundeigentumsrecht
festgesetzt und dort bis zur Aufhebung der Leibeigenschaft erhalten, indem der
"Mächtige" die Steuern für den leibeignen Bauer bezahlte, dafür aber von ihm
so viel Arbeit herauspreßte, wie er nur konnte.*)

Man sieht, zu welchen Konsequenzen dieses Notgesetz führen, wie verhängnis¬
voll es namentlich für die Lage des Bauernstandes werden mußte gegenüber
den Großgrundbesitzern. Das Verhältnis zwischen beiden hatte sich ja schon
durch die Maßregeln der diokletianischen Steuerpolitik und nun durch die beiden
besprochnen Notgesetze, die umgekehrt wirkten, als man erwartet hatte, stark
zuungunsten der bäuerlichen Bevölkerung verschoben, und auch die von christ¬
lichem Geist durchwehte Gesetzgebung Justinians hatte nicht viel daran geändert;
abgesehen von mehrern kleinern Schutzgesetzen blieb alles beim alten, und es
ist bezeichnend, daß das von ihm verheißne große Gesetz über die bäuerlichen
Verhältnisse überhaupt nie veröffentlicht worden ist. Die Justinianische Gesetz¬
gebung war dem Bauern gegenüber durchaus konservativ, sie ließ sogar den
Grundsatz bestehn, daß die bäuerliche Bevölkerung fest an die Scholle gebunden
war, einen Grundsatz, der eigentlich keine volle Berechtigung mehr hatte, seitdem
manches geschehen war, was ein Festhalten an diesem Grundsatz überflüssig
machte. Aber man wird wohl nicht fehlgehen in der Annahme, daß es Justinian
mit den Grundherren nicht verderben wollte, deren Beistand er für seine vielen
kostspieligen Unternehmungen nötig brauchte. Daher wohl auch die Zurück¬
stellung des großen Agrargesetzes; daher wohl auch die rücksichtslose Hand¬
habung des Zuschlagssystems unter seiner Regierung.

Wenn es nun auch nach dem Justinianischen Recht Freibauern gab, so
scheint es doch, daß die abhängigen Bauern weit überwogen, zumal da genug
Veranlassung zur Entstehung bäuerlicher Abhängigkeit gegeben war: nicht nur
gingen ganze Freidörfer durch kaiserliche Verleihung an einzelne Personen über,
zu denen sie dann in ein Patronatsverhültnis traten, sondern ganze Bauern¬
gemeinden wählten sich selbst einen Patron, um sich vor den Übergriffen der
Steuerbeamten zu schützen, ein Schutz, der baun durch Abgaben erkauft werden
wußte. Neben diesen Bauern, die trotz ihrer Abhängigkeit noch Eigentum an
Grund und Boden besaßen, standen dann die besitzlosen Gutsbauern oder Kolonen,
die zwar persönlich frei waren, aber nach dreißig Jahren an die Scholle ge¬
bunden wurden, und die sogenannten aäsorixtitii, die sich wenig von wirklichen
Sklaven unterschieden und keinerlei Vermögen besaßen.

Man darf nun den byzantinischen Kaisern oder ihren Ratgebern nicht so
wenig Einsicht zutrauen, als daß sie diese Zustünde für immer hätten bestehn
lassen. Vielmehr sehen wir, wie die Gesetzgebung wiederholt ernstlich bemüht



") Vgl. Gfrörer, Byzantinische Geschichten III 2 f.
Adel und Bauern in (Osteuropa

Der Steuerzuschlag selbst konnte, da er im zwölften Jahrhundert abgeschafft
wurde, in das Recht dieser Länder keinen Eingang finden, wohl aber hat er
sich in dem von Byzanz so vielfach abhängigen russischen Grundeigentumsrecht
festgesetzt und dort bis zur Aufhebung der Leibeigenschaft erhalten, indem der
„Mächtige" die Steuern für den leibeignen Bauer bezahlte, dafür aber von ihm
so viel Arbeit herauspreßte, wie er nur konnte.*)

Man sieht, zu welchen Konsequenzen dieses Notgesetz führen, wie verhängnis¬
voll es namentlich für die Lage des Bauernstandes werden mußte gegenüber
den Großgrundbesitzern. Das Verhältnis zwischen beiden hatte sich ja schon
durch die Maßregeln der diokletianischen Steuerpolitik und nun durch die beiden
besprochnen Notgesetze, die umgekehrt wirkten, als man erwartet hatte, stark
zuungunsten der bäuerlichen Bevölkerung verschoben, und auch die von christ¬
lichem Geist durchwehte Gesetzgebung Justinians hatte nicht viel daran geändert;
abgesehen von mehrern kleinern Schutzgesetzen blieb alles beim alten, und es
ist bezeichnend, daß das von ihm verheißne große Gesetz über die bäuerlichen
Verhältnisse überhaupt nie veröffentlicht worden ist. Die Justinianische Gesetz¬
gebung war dem Bauern gegenüber durchaus konservativ, sie ließ sogar den
Grundsatz bestehn, daß die bäuerliche Bevölkerung fest an die Scholle gebunden
war, einen Grundsatz, der eigentlich keine volle Berechtigung mehr hatte, seitdem
manches geschehen war, was ein Festhalten an diesem Grundsatz überflüssig
machte. Aber man wird wohl nicht fehlgehen in der Annahme, daß es Justinian
mit den Grundherren nicht verderben wollte, deren Beistand er für seine vielen
kostspieligen Unternehmungen nötig brauchte. Daher wohl auch die Zurück¬
stellung des großen Agrargesetzes; daher wohl auch die rücksichtslose Hand¬
habung des Zuschlagssystems unter seiner Regierung.

Wenn es nun auch nach dem Justinianischen Recht Freibauern gab, so
scheint es doch, daß die abhängigen Bauern weit überwogen, zumal da genug
Veranlassung zur Entstehung bäuerlicher Abhängigkeit gegeben war: nicht nur
gingen ganze Freidörfer durch kaiserliche Verleihung an einzelne Personen über,
zu denen sie dann in ein Patronatsverhültnis traten, sondern ganze Bauern¬
gemeinden wählten sich selbst einen Patron, um sich vor den Übergriffen der
Steuerbeamten zu schützen, ein Schutz, der baun durch Abgaben erkauft werden
wußte. Neben diesen Bauern, die trotz ihrer Abhängigkeit noch Eigentum an
Grund und Boden besaßen, standen dann die besitzlosen Gutsbauern oder Kolonen,
die zwar persönlich frei waren, aber nach dreißig Jahren an die Scholle ge¬
bunden wurden, und die sogenannten aäsorixtitii, die sich wenig von wirklichen
Sklaven unterschieden und keinerlei Vermögen besaßen.

Man darf nun den byzantinischen Kaisern oder ihren Ratgebern nicht so
wenig Einsicht zutrauen, als daß sie diese Zustünde für immer hätten bestehn
lassen. Vielmehr sehen wir, wie die Gesetzgebung wiederholt ernstlich bemüht



") Vgl. Gfrörer, Byzantinische Geschichten III 2 f.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0363" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/311444"/>
            <fw type="header" place="top"> Adel und Bauern in (Osteuropa</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_1786"> Der Steuerzuschlag selbst konnte, da er im zwölften Jahrhundert abgeschafft<lb/>
wurde, in das Recht dieser Länder keinen Eingang finden, wohl aber hat er<lb/>
sich in dem von Byzanz so vielfach abhängigen russischen Grundeigentumsrecht<lb/>
festgesetzt und dort bis zur Aufhebung der Leibeigenschaft erhalten, indem der<lb/>
&#x201E;Mächtige" die Steuern für den leibeignen Bauer bezahlte, dafür aber von ihm<lb/>
so viel Arbeit herauspreßte, wie er nur konnte.*)</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1787"> Man sieht, zu welchen Konsequenzen dieses Notgesetz führen, wie verhängnis¬<lb/>
voll es namentlich für die Lage des Bauernstandes werden mußte gegenüber<lb/>
den Großgrundbesitzern. Das Verhältnis zwischen beiden hatte sich ja schon<lb/>
durch die Maßregeln der diokletianischen Steuerpolitik und nun durch die beiden<lb/>
besprochnen Notgesetze, die umgekehrt wirkten, als man erwartet hatte, stark<lb/>
zuungunsten der bäuerlichen Bevölkerung verschoben, und auch die von christ¬<lb/>
lichem Geist durchwehte Gesetzgebung Justinians hatte nicht viel daran geändert;<lb/>
abgesehen von mehrern kleinern Schutzgesetzen blieb alles beim alten, und es<lb/>
ist bezeichnend, daß das von ihm verheißne große Gesetz über die bäuerlichen<lb/>
Verhältnisse überhaupt nie veröffentlicht worden ist. Die Justinianische Gesetz¬<lb/>
gebung war dem Bauern gegenüber durchaus konservativ, sie ließ sogar den<lb/>
Grundsatz bestehn, daß die bäuerliche Bevölkerung fest an die Scholle gebunden<lb/>
war, einen Grundsatz, der eigentlich keine volle Berechtigung mehr hatte, seitdem<lb/>
manches geschehen war, was ein Festhalten an diesem Grundsatz überflüssig<lb/>
machte. Aber man wird wohl nicht fehlgehen in der Annahme, daß es Justinian<lb/>
mit den Grundherren nicht verderben wollte, deren Beistand er für seine vielen<lb/>
kostspieligen Unternehmungen nötig brauchte. Daher wohl auch die Zurück¬<lb/>
stellung des großen Agrargesetzes; daher wohl auch die rücksichtslose Hand¬<lb/>
habung des Zuschlagssystems unter seiner Regierung.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1788"> Wenn es nun auch nach dem Justinianischen Recht Freibauern gab, so<lb/>
scheint es doch, daß die abhängigen Bauern weit überwogen, zumal da genug<lb/>
Veranlassung zur Entstehung bäuerlicher Abhängigkeit gegeben war: nicht nur<lb/>
gingen ganze Freidörfer durch kaiserliche Verleihung an einzelne Personen über,<lb/>
zu denen sie dann in ein Patronatsverhültnis traten, sondern ganze Bauern¬<lb/>
gemeinden wählten sich selbst einen Patron, um sich vor den Übergriffen der<lb/>
Steuerbeamten zu schützen, ein Schutz, der baun durch Abgaben erkauft werden<lb/>
wußte. Neben diesen Bauern, die trotz ihrer Abhängigkeit noch Eigentum an<lb/>
Grund und Boden besaßen, standen dann die besitzlosen Gutsbauern oder Kolonen,<lb/>
die zwar persönlich frei waren, aber nach dreißig Jahren an die Scholle ge¬<lb/>
bunden wurden, und die sogenannten aäsorixtitii, die sich wenig von wirklichen<lb/>
Sklaven unterschieden und keinerlei Vermögen besaßen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1789" next="#ID_1790"> Man darf nun den byzantinischen Kaisern oder ihren Ratgebern nicht so<lb/>
wenig Einsicht zutrauen, als daß sie diese Zustünde für immer hätten bestehn<lb/>
lassen.  Vielmehr sehen wir, wie die Gesetzgebung wiederholt ernstlich bemüht</p><lb/>
            <note xml:id="FID_17" place="foot"> ") Vgl. Gfrörer, Byzantinische Geschichten III 2 f.</note><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0363] Adel und Bauern in (Osteuropa Der Steuerzuschlag selbst konnte, da er im zwölften Jahrhundert abgeschafft wurde, in das Recht dieser Länder keinen Eingang finden, wohl aber hat er sich in dem von Byzanz so vielfach abhängigen russischen Grundeigentumsrecht festgesetzt und dort bis zur Aufhebung der Leibeigenschaft erhalten, indem der „Mächtige" die Steuern für den leibeignen Bauer bezahlte, dafür aber von ihm so viel Arbeit herauspreßte, wie er nur konnte.*) Man sieht, zu welchen Konsequenzen dieses Notgesetz führen, wie verhängnis¬ voll es namentlich für die Lage des Bauernstandes werden mußte gegenüber den Großgrundbesitzern. Das Verhältnis zwischen beiden hatte sich ja schon durch die Maßregeln der diokletianischen Steuerpolitik und nun durch die beiden besprochnen Notgesetze, die umgekehrt wirkten, als man erwartet hatte, stark zuungunsten der bäuerlichen Bevölkerung verschoben, und auch die von christ¬ lichem Geist durchwehte Gesetzgebung Justinians hatte nicht viel daran geändert; abgesehen von mehrern kleinern Schutzgesetzen blieb alles beim alten, und es ist bezeichnend, daß das von ihm verheißne große Gesetz über die bäuerlichen Verhältnisse überhaupt nie veröffentlicht worden ist. Die Justinianische Gesetz¬ gebung war dem Bauern gegenüber durchaus konservativ, sie ließ sogar den Grundsatz bestehn, daß die bäuerliche Bevölkerung fest an die Scholle gebunden war, einen Grundsatz, der eigentlich keine volle Berechtigung mehr hatte, seitdem manches geschehen war, was ein Festhalten an diesem Grundsatz überflüssig machte. Aber man wird wohl nicht fehlgehen in der Annahme, daß es Justinian mit den Grundherren nicht verderben wollte, deren Beistand er für seine vielen kostspieligen Unternehmungen nötig brauchte. Daher wohl auch die Zurück¬ stellung des großen Agrargesetzes; daher wohl auch die rücksichtslose Hand¬ habung des Zuschlagssystems unter seiner Regierung. Wenn es nun auch nach dem Justinianischen Recht Freibauern gab, so scheint es doch, daß die abhängigen Bauern weit überwogen, zumal da genug Veranlassung zur Entstehung bäuerlicher Abhängigkeit gegeben war: nicht nur gingen ganze Freidörfer durch kaiserliche Verleihung an einzelne Personen über, zu denen sie dann in ein Patronatsverhültnis traten, sondern ganze Bauern¬ gemeinden wählten sich selbst einen Patron, um sich vor den Übergriffen der Steuerbeamten zu schützen, ein Schutz, der baun durch Abgaben erkauft werden wußte. Neben diesen Bauern, die trotz ihrer Abhängigkeit noch Eigentum an Grund und Boden besaßen, standen dann die besitzlosen Gutsbauern oder Kolonen, die zwar persönlich frei waren, aber nach dreißig Jahren an die Scholle ge¬ bunden wurden, und die sogenannten aäsorixtitii, die sich wenig von wirklichen Sklaven unterschieden und keinerlei Vermögen besaßen. Man darf nun den byzantinischen Kaisern oder ihren Ratgebern nicht so wenig Einsicht zutrauen, als daß sie diese Zustünde für immer hätten bestehn lassen. Vielmehr sehen wir, wie die Gesetzgebung wiederholt ernstlich bemüht ") Vgl. Gfrörer, Byzantinische Geschichten III 2 f.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/363
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/363>, abgerufen am 24.07.2024.