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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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durch sie dem Menschengeschlecht wichtige Wahrheiten mitzuteilen; darum habe
ich zu dem Worte Illusionen, das Wundt dafür gebraucht, ein Fragezeichen
gesetzt. Daß auch der Monotheismus an sich allein noch keineswegs die
Lauterkeit, Echtheit und Erhabenheit der Religion verbürgt, das hat leider
die Geschichte der drei monotheistischen Religionen mit erschreckender Deutlich¬
keit gelehrt. Dennoch ist der Unterschied zwischen Mono- und Polytheismus
kein bloß quantitativer oder vielmehr arithmetischer, wie Wundt befremdlicher-
weise behauptet. Ohne Monotheismus, d. h. ohne die Annahme, daß nur
eine Grundursache, ein Wille die Welt durchwaltet, kann der Gedanke der
Gesetzlichkeit alles Geschehens nicht aufkommen, gibt es also keine Wissenschaft.
Die griechischen Philosophen konnten nur dadurch zu unsrer heutigen Wissen¬
schaft den Grund legen, weil sie den Polytheismus ihres Volkes innerlich
überwunden hatten. Sodann: deutlicher als aus irgendeinem ethnologischen
oder religionswisseuschaftlichen Werke erkennt man aus Wundes Darstellung,
daß jene Elemente des Katholizismus, die von der protestantischen Wissen¬
schaft Aberglauben und Neste des Heidentums genannt werden, natürliche und
unvermeidliche Produkte der religiösen Entwicklung sind. Und da die über¬
wiegende Mehrzahl der Kulturmenschen heute noch auf Stufen steht -- vielleicht
immer stehn bleiben wird --, denen diese Glaubensmeinungen und Bräuche
zukommen, so ist der Hierarchie kein Vorwurf daraus zu machen, daß sie diese
Meinungen und Bräuche duldet und als Bestandteile ihres Kultus verwendet.
Manche davon, wie die Neiniguugssymbole und die Fastengebote, haben päda¬
gogischen Wert, und die Regelung und Überwachung dieser Dinge durch die
Kirche bewahrt die gläubigen Katholiken vor manchen Verirrungen, die heute
in der protestantischen Welt uneingeschränkt wuchern. Alle sogenannten okkul¬
tistischen Experimente und das Gebaren schwärmerischer Sekten werden von
der katholischen Kirche als Aberglaube gebrandmarkt, und die Beteiligung
daran wird als Sünde verboten. Die Schuld der Hierarchie besteht nur
darin, daß sie gewisse Formen des Aberglaubens, darunter auch nichts weniger
als harmlose, dogmatisicrt und damit eine ganze lange Periode hindurch ent¬
setzliches Unheil angerichtet hat, daß sie weniger schlimme doch immerhin be¬
denkliche Formen des Aberglaubens, wie den Glauben an die Wirkung der
Ablässe und an die Wirkungskraft und Verehrungswürdigkeit geweihter toter
Gegenstände, zur Befestigung ihrer Herrschaft über die Gemüter aufrecht er¬
hält und begünstigt, und daß sie an Personen, die alle diese Formen des
Aberglaubens überwunden haben, die ungeheuerliche Zumutung stellt, zum
Glauben daran zurückzukehren, eine doppelt ungeheuerliche Zumutung. weil
das psychologisch unmöglich ist. Endlich mag noch erwähnt werden, daß Wundt
Seite 153 bis 154 die beiden entgegengesetzten Hypothesen über die Religion
oder Mythologie der Naturvölker erwähnt, indem sie von den einen als Ent¬
artungsprodukt aufgefaßt, von den andern, den Entwicklungstheoretikern, als
ein Zeugnis für die tierische Abstammung des Menschen verwandt wird oder


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durch sie dem Menschengeschlecht wichtige Wahrheiten mitzuteilen; darum habe
ich zu dem Worte Illusionen, das Wundt dafür gebraucht, ein Fragezeichen
gesetzt. Daß auch der Monotheismus an sich allein noch keineswegs die
Lauterkeit, Echtheit und Erhabenheit der Religion verbürgt, das hat leider
die Geschichte der drei monotheistischen Religionen mit erschreckender Deutlich¬
keit gelehrt. Dennoch ist der Unterschied zwischen Mono- und Polytheismus
kein bloß quantitativer oder vielmehr arithmetischer, wie Wundt befremdlicher-
weise behauptet. Ohne Monotheismus, d. h. ohne die Annahme, daß nur
eine Grundursache, ein Wille die Welt durchwaltet, kann der Gedanke der
Gesetzlichkeit alles Geschehens nicht aufkommen, gibt es also keine Wissenschaft.
Die griechischen Philosophen konnten nur dadurch zu unsrer heutigen Wissen¬
schaft den Grund legen, weil sie den Polytheismus ihres Volkes innerlich
überwunden hatten. Sodann: deutlicher als aus irgendeinem ethnologischen
oder religionswisseuschaftlichen Werke erkennt man aus Wundes Darstellung,
daß jene Elemente des Katholizismus, die von der protestantischen Wissen¬
schaft Aberglauben und Neste des Heidentums genannt werden, natürliche und
unvermeidliche Produkte der religiösen Entwicklung sind. Und da die über¬
wiegende Mehrzahl der Kulturmenschen heute noch auf Stufen steht — vielleicht
immer stehn bleiben wird —, denen diese Glaubensmeinungen und Bräuche
zukommen, so ist der Hierarchie kein Vorwurf daraus zu machen, daß sie diese
Meinungen und Bräuche duldet und als Bestandteile ihres Kultus verwendet.
Manche davon, wie die Neiniguugssymbole und die Fastengebote, haben päda¬
gogischen Wert, und die Regelung und Überwachung dieser Dinge durch die
Kirche bewahrt die gläubigen Katholiken vor manchen Verirrungen, die heute
in der protestantischen Welt uneingeschränkt wuchern. Alle sogenannten okkul¬
tistischen Experimente und das Gebaren schwärmerischer Sekten werden von
der katholischen Kirche als Aberglaube gebrandmarkt, und die Beteiligung
daran wird als Sünde verboten. Die Schuld der Hierarchie besteht nur
darin, daß sie gewisse Formen des Aberglaubens, darunter auch nichts weniger
als harmlose, dogmatisicrt und damit eine ganze lange Periode hindurch ent¬
setzliches Unheil angerichtet hat, daß sie weniger schlimme doch immerhin be¬
denkliche Formen des Aberglaubens, wie den Glauben an die Wirkung der
Ablässe und an die Wirkungskraft und Verehrungswürdigkeit geweihter toter
Gegenstände, zur Befestigung ihrer Herrschaft über die Gemüter aufrecht er¬
hält und begünstigt, und daß sie an Personen, die alle diese Formen des
Aberglaubens überwunden haben, die ungeheuerliche Zumutung stellt, zum
Glauben daran zurückzukehren, eine doppelt ungeheuerliche Zumutung. weil
das psychologisch unmöglich ist. Endlich mag noch erwähnt werden, daß Wundt
Seite 153 bis 154 die beiden entgegengesetzten Hypothesen über die Religion
oder Mythologie der Naturvölker erwähnt, indem sie von den einen als Ent¬
artungsprodukt aufgefaßt, von den andern, den Entwicklungstheoretikern, als
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[0337] Neues von Ivundt durch sie dem Menschengeschlecht wichtige Wahrheiten mitzuteilen; darum habe ich zu dem Worte Illusionen, das Wundt dafür gebraucht, ein Fragezeichen gesetzt. Daß auch der Monotheismus an sich allein noch keineswegs die Lauterkeit, Echtheit und Erhabenheit der Religion verbürgt, das hat leider die Geschichte der drei monotheistischen Religionen mit erschreckender Deutlich¬ keit gelehrt. Dennoch ist der Unterschied zwischen Mono- und Polytheismus kein bloß quantitativer oder vielmehr arithmetischer, wie Wundt befremdlicher- weise behauptet. Ohne Monotheismus, d. h. ohne die Annahme, daß nur eine Grundursache, ein Wille die Welt durchwaltet, kann der Gedanke der Gesetzlichkeit alles Geschehens nicht aufkommen, gibt es also keine Wissenschaft. Die griechischen Philosophen konnten nur dadurch zu unsrer heutigen Wissen¬ schaft den Grund legen, weil sie den Polytheismus ihres Volkes innerlich überwunden hatten. Sodann: deutlicher als aus irgendeinem ethnologischen oder religionswisseuschaftlichen Werke erkennt man aus Wundes Darstellung, daß jene Elemente des Katholizismus, die von der protestantischen Wissen¬ schaft Aberglauben und Neste des Heidentums genannt werden, natürliche und unvermeidliche Produkte der religiösen Entwicklung sind. Und da die über¬ wiegende Mehrzahl der Kulturmenschen heute noch auf Stufen steht — vielleicht immer stehn bleiben wird —, denen diese Glaubensmeinungen und Bräuche zukommen, so ist der Hierarchie kein Vorwurf daraus zu machen, daß sie diese Meinungen und Bräuche duldet und als Bestandteile ihres Kultus verwendet. Manche davon, wie die Neiniguugssymbole und die Fastengebote, haben päda¬ gogischen Wert, und die Regelung und Überwachung dieser Dinge durch die Kirche bewahrt die gläubigen Katholiken vor manchen Verirrungen, die heute in der protestantischen Welt uneingeschränkt wuchern. Alle sogenannten okkul¬ tistischen Experimente und das Gebaren schwärmerischer Sekten werden von der katholischen Kirche als Aberglaube gebrandmarkt, und die Beteiligung daran wird als Sünde verboten. Die Schuld der Hierarchie besteht nur darin, daß sie gewisse Formen des Aberglaubens, darunter auch nichts weniger als harmlose, dogmatisicrt und damit eine ganze lange Periode hindurch ent¬ setzliches Unheil angerichtet hat, daß sie weniger schlimme doch immerhin be¬ denkliche Formen des Aberglaubens, wie den Glauben an die Wirkung der Ablässe und an die Wirkungskraft und Verehrungswürdigkeit geweihter toter Gegenstände, zur Befestigung ihrer Herrschaft über die Gemüter aufrecht er¬ hält und begünstigt, und daß sie an Personen, die alle diese Formen des Aberglaubens überwunden haben, die ungeheuerliche Zumutung stellt, zum Glauben daran zurückzukehren, eine doppelt ungeheuerliche Zumutung. weil das psychologisch unmöglich ist. Endlich mag noch erwähnt werden, daß Wundt Seite 153 bis 154 die beiden entgegengesetzten Hypothesen über die Religion oder Mythologie der Naturvölker erwähnt, indem sie von den einen als Ent¬ artungsprodukt aufgefaßt, von den andern, den Entwicklungstheoretikern, als ein Zeugnis für die tierische Abstammung des Menschen verwandt wird oder

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/337>, abgerufen am 22.07.2024.