Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
lNiltonfeier

terrenis und Urteilslosigkeit auf die Stufe des Klopstockscher Messias stellen.
Bei diesem alles Weichheit, zerfließendes Gefühl, verschwimmende Lyrik, sich in
Verzückung überschlagender und verlierender Ausdruck, ermüdende Breite, und
bei jenem alles Geschlossenheit, Kraft und Wucht oder doch feste, klare Zeichnung,
großartige Gestaltungskraft der Phantasie, und eine Sprache von solcher Ge¬
drängtheit und schöpferischer Eigenart, daß mehr als hundert Jahre lang nach
ihm die Dichter seines Landes sie immer wieder nachzuahmen, wo nicht aus
ihr zu schöpfen trachteten.

Nicht als ob dem Gedicht Miltons mit Unrecht üble Seiten nachgesagt
würden. Goethe urteilte nicht leicht ungerecht, gegen englische Poesie am aller¬
wenigsten , und er erklärte sich von karsäisö I-ost abwechselnd immer wieder
angezogen und abgestoßen. Aber es gibt unter den Lesern, in England selbst
wie bei uns in Deutschland, schwerlich einen, der nicht gewissen Teilen der
Dichtung gegenüber unmutig den Kopf schüttelte. Wenn es möglich war, un¬
geheures Geisterstreben, sündhafte Überhebung, gigantischen Trotz, alle Stimmungen
verzweifelten Kampfes, jähen Sturzes und erbitternder Niederlage, das ganze
innere Leben der zu Höllengeistern Gewordnen machtvoll und ergreifend zu
schildern, dazu das Höllenreich selbst und sein Grauen mit dem kühnsten Flug
der Phantasie zu durchmessen, und auch möglich, ein wunderliebliches Paradieses¬
leben hinzumalen, seinen Genuß und seinen Verlust innig miterleben zu lassen:
war es etwa ebenso möglich, Himmelsvorgänge, inneres Leben zwischen den
Personen der Gottheit, die Sphäre der ewig reinen und heiligen Gottesdiener
zu besingen, ja zu besingen im Anschluß an festgehaltn? abstrakte Kirchen¬
lehrer? Jedermann fühlt, wie hier das höchste Wollen scheitern, wie das
absolut Erhabne leer werden, wie die Sinnenschilderung des ewig Unsinnlichen
bis an den Rand des Komischwirkenden gelangen mußte. Und so erhebt sich
die Dichtung nicht etwa aus mittlern zu ansteigenden Höhen, sondern sie sinkt,
mindestens zeitweilig, aus der Höhe in flachere Niederung, um sich verhältnis¬
mäßig wieder zu erhebe". Das Gewaltigste, das Fesselndste, das überwältigend
Große und Originale bildet den Eingang, den ersten Teil, und nur Anmutiges,
lieblich Menschliches oder auch menschlich Ergreifendes ist das Beste, was
weiterhin auftaucht.

Aber die Zahl derer, die darum doch Miltons ganzes Epos lesen und mit
unvergänglichen Eindruck aus der Hand legen, in deren Seele ein Echo dieses
Wundergesangs nie wieder ganz verhallt, ist doch Legion im Vergleich zu den
wenigen einzelnen, die die ermüdende Reihe der Gesänge des "Messias"
^> grundsätzlich und fast genußlos -- bewältigen. Dort ist es schon die Sprache,
die den Leser alsbald in ihren Bann zieht, ihn auch über solche Strecken
mitzieht, in denen der Inhalt an sich leblos heißen müßte; die Sprache und
die stille Verskunst. Freilich ist es ja kaum jemals möglich, von der Dichter¬
sprache in fremder Zunge die völlig gleiche Wirkung zu erfahren, wie der durch
seine gesamte Lebensentwicklung mit diesem Idiom innigst Vertraute. Was uns


lNiltonfeier

terrenis und Urteilslosigkeit auf die Stufe des Klopstockscher Messias stellen.
Bei diesem alles Weichheit, zerfließendes Gefühl, verschwimmende Lyrik, sich in
Verzückung überschlagender und verlierender Ausdruck, ermüdende Breite, und
bei jenem alles Geschlossenheit, Kraft und Wucht oder doch feste, klare Zeichnung,
großartige Gestaltungskraft der Phantasie, und eine Sprache von solcher Ge¬
drängtheit und schöpferischer Eigenart, daß mehr als hundert Jahre lang nach
ihm die Dichter seines Landes sie immer wieder nachzuahmen, wo nicht aus
ihr zu schöpfen trachteten.

Nicht als ob dem Gedicht Miltons mit Unrecht üble Seiten nachgesagt
würden. Goethe urteilte nicht leicht ungerecht, gegen englische Poesie am aller¬
wenigsten , und er erklärte sich von karsäisö I-ost abwechselnd immer wieder
angezogen und abgestoßen. Aber es gibt unter den Lesern, in England selbst
wie bei uns in Deutschland, schwerlich einen, der nicht gewissen Teilen der
Dichtung gegenüber unmutig den Kopf schüttelte. Wenn es möglich war, un¬
geheures Geisterstreben, sündhafte Überhebung, gigantischen Trotz, alle Stimmungen
verzweifelten Kampfes, jähen Sturzes und erbitternder Niederlage, das ganze
innere Leben der zu Höllengeistern Gewordnen machtvoll und ergreifend zu
schildern, dazu das Höllenreich selbst und sein Grauen mit dem kühnsten Flug
der Phantasie zu durchmessen, und auch möglich, ein wunderliebliches Paradieses¬
leben hinzumalen, seinen Genuß und seinen Verlust innig miterleben zu lassen:
war es etwa ebenso möglich, Himmelsvorgänge, inneres Leben zwischen den
Personen der Gottheit, die Sphäre der ewig reinen und heiligen Gottesdiener
zu besingen, ja zu besingen im Anschluß an festgehaltn? abstrakte Kirchen¬
lehrer? Jedermann fühlt, wie hier das höchste Wollen scheitern, wie das
absolut Erhabne leer werden, wie die Sinnenschilderung des ewig Unsinnlichen
bis an den Rand des Komischwirkenden gelangen mußte. Und so erhebt sich
die Dichtung nicht etwa aus mittlern zu ansteigenden Höhen, sondern sie sinkt,
mindestens zeitweilig, aus der Höhe in flachere Niederung, um sich verhältnis¬
mäßig wieder zu erhebe«. Das Gewaltigste, das Fesselndste, das überwältigend
Große und Originale bildet den Eingang, den ersten Teil, und nur Anmutiges,
lieblich Menschliches oder auch menschlich Ergreifendes ist das Beste, was
weiterhin auftaucht.

Aber die Zahl derer, die darum doch Miltons ganzes Epos lesen und mit
unvergänglichen Eindruck aus der Hand legen, in deren Seele ein Echo dieses
Wundergesangs nie wieder ganz verhallt, ist doch Legion im Vergleich zu den
wenigen einzelnen, die die ermüdende Reihe der Gesänge des „Messias"
^> grundsätzlich und fast genußlos — bewältigen. Dort ist es schon die Sprache,
die den Leser alsbald in ihren Bann zieht, ihn auch über solche Strecken
mitzieht, in denen der Inhalt an sich leblos heißen müßte; die Sprache und
die stille Verskunst. Freilich ist es ja kaum jemals möglich, von der Dichter¬
sprache in fremder Zunge die völlig gleiche Wirkung zu erfahren, wie der durch
seine gesamte Lebensentwicklung mit diesem Idiom innigst Vertraute. Was uns


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0543" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/310954"/>
          <fw type="header" place="top"> lNiltonfeier</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2861" prev="#ID_2860"> terrenis und Urteilslosigkeit auf die Stufe des Klopstockscher Messias stellen.<lb/>
Bei diesem alles Weichheit, zerfließendes Gefühl, verschwimmende Lyrik, sich in<lb/>
Verzückung überschlagender und verlierender Ausdruck, ermüdende Breite, und<lb/>
bei jenem alles Geschlossenheit, Kraft und Wucht oder doch feste, klare Zeichnung,<lb/>
großartige Gestaltungskraft der Phantasie, und eine Sprache von solcher Ge¬<lb/>
drängtheit und schöpferischer Eigenart, daß mehr als hundert Jahre lang nach<lb/>
ihm die Dichter seines Landes sie immer wieder nachzuahmen, wo nicht aus<lb/>
ihr zu schöpfen trachteten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2862"> Nicht als ob dem Gedicht Miltons mit Unrecht üble Seiten nachgesagt<lb/>
würden. Goethe urteilte nicht leicht ungerecht, gegen englische Poesie am aller¬<lb/>
wenigsten , und er erklärte sich von karsäisö I-ost abwechselnd immer wieder<lb/>
angezogen und abgestoßen. Aber es gibt unter den Lesern, in England selbst<lb/>
wie bei uns in Deutschland, schwerlich einen, der nicht gewissen Teilen der<lb/>
Dichtung gegenüber unmutig den Kopf schüttelte. Wenn es möglich war, un¬<lb/>
geheures Geisterstreben, sündhafte Überhebung, gigantischen Trotz, alle Stimmungen<lb/>
verzweifelten Kampfes, jähen Sturzes und erbitternder Niederlage, das ganze<lb/>
innere Leben der zu Höllengeistern Gewordnen machtvoll und ergreifend zu<lb/>
schildern, dazu das Höllenreich selbst und sein Grauen mit dem kühnsten Flug<lb/>
der Phantasie zu durchmessen, und auch möglich, ein wunderliebliches Paradieses¬<lb/>
leben hinzumalen, seinen Genuß und seinen Verlust innig miterleben zu lassen:<lb/>
war es etwa ebenso möglich, Himmelsvorgänge, inneres Leben zwischen den<lb/>
Personen der Gottheit, die Sphäre der ewig reinen und heiligen Gottesdiener<lb/>
zu besingen, ja zu besingen im Anschluß an festgehaltn? abstrakte Kirchen¬<lb/>
lehrer? Jedermann fühlt, wie hier das höchste Wollen scheitern, wie das<lb/>
absolut Erhabne leer werden, wie die Sinnenschilderung des ewig Unsinnlichen<lb/>
bis an den Rand des Komischwirkenden gelangen mußte. Und so erhebt sich<lb/>
die Dichtung nicht etwa aus mittlern zu ansteigenden Höhen, sondern sie sinkt,<lb/>
mindestens zeitweilig, aus der Höhe in flachere Niederung, um sich verhältnis¬<lb/>
mäßig wieder zu erhebe«. Das Gewaltigste, das Fesselndste, das überwältigend<lb/>
Große und Originale bildet den Eingang, den ersten Teil, und nur Anmutiges,<lb/>
lieblich Menschliches oder auch menschlich Ergreifendes ist das Beste, was<lb/>
weiterhin auftaucht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2863" next="#ID_2864"> Aber die Zahl derer, die darum doch Miltons ganzes Epos lesen und mit<lb/>
unvergänglichen Eindruck aus der Hand legen, in deren Seele ein Echo dieses<lb/>
Wundergesangs nie wieder ganz verhallt, ist doch Legion im Vergleich zu den<lb/>
wenigen einzelnen, die die ermüdende Reihe der Gesänge des &#x201E;Messias"<lb/>
^&gt; grundsätzlich und fast genußlos &#x2014; bewältigen. Dort ist es schon die Sprache,<lb/>
die den Leser alsbald in ihren Bann zieht, ihn auch über solche Strecken<lb/>
mitzieht, in denen der Inhalt an sich leblos heißen müßte; die Sprache und<lb/>
die stille Verskunst. Freilich ist es ja kaum jemals möglich, von der Dichter¬<lb/>
sprache in fremder Zunge die völlig gleiche Wirkung zu erfahren, wie der durch<lb/>
seine gesamte Lebensentwicklung mit diesem Idiom innigst Vertraute. Was uns</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0543] lNiltonfeier terrenis und Urteilslosigkeit auf die Stufe des Klopstockscher Messias stellen. Bei diesem alles Weichheit, zerfließendes Gefühl, verschwimmende Lyrik, sich in Verzückung überschlagender und verlierender Ausdruck, ermüdende Breite, und bei jenem alles Geschlossenheit, Kraft und Wucht oder doch feste, klare Zeichnung, großartige Gestaltungskraft der Phantasie, und eine Sprache von solcher Ge¬ drängtheit und schöpferischer Eigenart, daß mehr als hundert Jahre lang nach ihm die Dichter seines Landes sie immer wieder nachzuahmen, wo nicht aus ihr zu schöpfen trachteten. Nicht als ob dem Gedicht Miltons mit Unrecht üble Seiten nachgesagt würden. Goethe urteilte nicht leicht ungerecht, gegen englische Poesie am aller¬ wenigsten , und er erklärte sich von karsäisö I-ost abwechselnd immer wieder angezogen und abgestoßen. Aber es gibt unter den Lesern, in England selbst wie bei uns in Deutschland, schwerlich einen, der nicht gewissen Teilen der Dichtung gegenüber unmutig den Kopf schüttelte. Wenn es möglich war, un¬ geheures Geisterstreben, sündhafte Überhebung, gigantischen Trotz, alle Stimmungen verzweifelten Kampfes, jähen Sturzes und erbitternder Niederlage, das ganze innere Leben der zu Höllengeistern Gewordnen machtvoll und ergreifend zu schildern, dazu das Höllenreich selbst und sein Grauen mit dem kühnsten Flug der Phantasie zu durchmessen, und auch möglich, ein wunderliebliches Paradieses¬ leben hinzumalen, seinen Genuß und seinen Verlust innig miterleben zu lassen: war es etwa ebenso möglich, Himmelsvorgänge, inneres Leben zwischen den Personen der Gottheit, die Sphäre der ewig reinen und heiligen Gottesdiener zu besingen, ja zu besingen im Anschluß an festgehaltn? abstrakte Kirchen¬ lehrer? Jedermann fühlt, wie hier das höchste Wollen scheitern, wie das absolut Erhabne leer werden, wie die Sinnenschilderung des ewig Unsinnlichen bis an den Rand des Komischwirkenden gelangen mußte. Und so erhebt sich die Dichtung nicht etwa aus mittlern zu ansteigenden Höhen, sondern sie sinkt, mindestens zeitweilig, aus der Höhe in flachere Niederung, um sich verhältnis¬ mäßig wieder zu erhebe«. Das Gewaltigste, das Fesselndste, das überwältigend Große und Originale bildet den Eingang, den ersten Teil, und nur Anmutiges, lieblich Menschliches oder auch menschlich Ergreifendes ist das Beste, was weiterhin auftaucht. Aber die Zahl derer, die darum doch Miltons ganzes Epos lesen und mit unvergänglichen Eindruck aus der Hand legen, in deren Seele ein Echo dieses Wundergesangs nie wieder ganz verhallt, ist doch Legion im Vergleich zu den wenigen einzelnen, die die ermüdende Reihe der Gesänge des „Messias" ^> grundsätzlich und fast genußlos — bewältigen. Dort ist es schon die Sprache, die den Leser alsbald in ihren Bann zieht, ihn auch über solche Strecken mitzieht, in denen der Inhalt an sich leblos heißen müßte; die Sprache und die stille Verskunst. Freilich ist es ja kaum jemals möglich, von der Dichter¬ sprache in fremder Zunge die völlig gleiche Wirkung zu erfahren, wie der durch seine gesamte Lebensentwicklung mit diesem Idiom innigst Vertraute. Was uns

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/543
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/543>, abgerufen am 24.08.2024.