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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Ein deutscher Magister als Sansculotte

oder minder lange Periode der Menschheitsgeschichte mit allen ihren Vorzügen
und Fehlern, ihren Bestrebungen und Irrtümern widerspiegelt.

Am 29. April 1822 starb in Kreuznach als "Privatlehrer" in den aller-
elendesten Verhältnissen ein verkommnes Genie, das trotz einer ganzen Reihe
bon ihm verfaßter Bücher schon längst der Vergessenheit anheimgefallen wäre,
wenn es nicht eine Selbstbiographie hinterlassen hätte, die für den Kultur
Historiker zu einer unschätzbaren Quelle der Sittengeschichte der zweiten Hälfte
es achtzehnten Jahrhunderts geworden ist: der ehemalige Theologe Friedrich
Christian Laukhard. Seine 1792 bis 1802 unter dem Titel F. C. Lauk-
hcirds Leben und Schicksale erschienenen Denkwürdigkeiten sind vor kurzem
einer schön ausgestatteten Neuausgabedem großen Publikum wieder zu-
^glich gemacht wordeu. Das ist sehr erfreulich, denn die Aufzeichnungen
leses Mannes, der dank seiner Charakterschwäche eigentlich zeitlebens nur ein
gelehrter Vagabund war, und den ein tückisches Geschick bei allen Versuchen,
Reh zu einer soliden bürgerlichen Existenz durchzuringen, immer wieder in seine
Verkommenheit zurückstieß, sind mehr als ein autobiographischer Roman oder
als eine romanhafte Autobiographie, sie sind vor allem eine wertvolle Ergänzung
Zu den Denkwürdigkeiten größerer, Zeitgenossen, doppelt wertvoll, weil sie die
Ereignisse nicht wie die jener von der Höhe, sondern von der Tiefe des Lebens
aus beleuchten.

Laukhard wurde 1758 als Sohn eines mehr als freigeistigen Pastors zu
. endelsheim in der Unterpfalz geboren und durch die Unvernunft einer in
>einem Vaterhause lebenden unverheirateten Tante schon als Kind systematisch
ZU"! Trunke verführt. Während der Schulzeit knüpfte er ein Liebesverhältnis
"ut einem katholischen Mädchen an, dein zu Gefallen er katholisch zu werden
eabsichtigte, woran er jedoch von seinem Vater noch rechtzeitig verhindert wurde,
ann besuchte er, teils um Vorlesungen zu hören, teils nur um das aka-
emische Leben kennen zu lernen, die Universitäten Gießen, Marburg, Jena und
ottingen und landete, nachdem er schon einmal österreichischen Werbern in
^ Hände gefallen war, sich vergebens um eine Anstellung als Geistlicher in
>e?ner Heimat, im Darmstüdtischen und in Franken bemüht, einem adlichen Herrn
" Jager und Kellermeister gedient und einen andern nach Straßburg begleitet
"'te, "ach Jahren wüstens Lebens, böser Raufereien und noch höhern Schulden-
^anders endlich in Halle. Hier erhielt er durch die Fürsprache angesehener
' "uner, denen er dnrch seine philologischen Kenntnisse zu imponieren gewußt
^ete, eine Stelle als Lehrer an den Franckeschen Stiftungen, befleißigte sich



^ *) Magister F. Ch. LaukhardS Leben und Schicksale, von ihm selbst beschrieben.
Mische,,ut französische Kulturbilder aus dem 18. Jahrhundert. Bearbeitet von or. Viktor
U .^'"Kitung von Prof. Dr. Paul Holzhausen. Stuttgart, Robert Lutz. 2 Bünde geh.
-^arr, in Leinw. geb. 1?. Mark in .Halbst, geb. 15 Mark. (Memoirenbibliothek, II. Serie
"and 14 '
Ein deutscher Magister als Sansculotte

oder minder lange Periode der Menschheitsgeschichte mit allen ihren Vorzügen
und Fehlern, ihren Bestrebungen und Irrtümern widerspiegelt.

Am 29. April 1822 starb in Kreuznach als „Privatlehrer" in den aller-
elendesten Verhältnissen ein verkommnes Genie, das trotz einer ganzen Reihe
bon ihm verfaßter Bücher schon längst der Vergessenheit anheimgefallen wäre,
wenn es nicht eine Selbstbiographie hinterlassen hätte, die für den Kultur
Historiker zu einer unschätzbaren Quelle der Sittengeschichte der zweiten Hälfte
es achtzehnten Jahrhunderts geworden ist: der ehemalige Theologe Friedrich
Christian Laukhard. Seine 1792 bis 1802 unter dem Titel F. C. Lauk-
hcirds Leben und Schicksale erschienenen Denkwürdigkeiten sind vor kurzem
einer schön ausgestatteten Neuausgabedem großen Publikum wieder zu-
^glich gemacht wordeu. Das ist sehr erfreulich, denn die Aufzeichnungen
leses Mannes, der dank seiner Charakterschwäche eigentlich zeitlebens nur ein
gelehrter Vagabund war, und den ein tückisches Geschick bei allen Versuchen,
Reh zu einer soliden bürgerlichen Existenz durchzuringen, immer wieder in seine
Verkommenheit zurückstieß, sind mehr als ein autobiographischer Roman oder
als eine romanhafte Autobiographie, sie sind vor allem eine wertvolle Ergänzung
Zu den Denkwürdigkeiten größerer, Zeitgenossen, doppelt wertvoll, weil sie die
Ereignisse nicht wie die jener von der Höhe, sondern von der Tiefe des Lebens
aus beleuchten.

Laukhard wurde 1758 als Sohn eines mehr als freigeistigen Pastors zu
. endelsheim in der Unterpfalz geboren und durch die Unvernunft einer in
>einem Vaterhause lebenden unverheirateten Tante schon als Kind systematisch
ZU"! Trunke verführt. Während der Schulzeit knüpfte er ein Liebesverhältnis
"ut einem katholischen Mädchen an, dein zu Gefallen er katholisch zu werden
eabsichtigte, woran er jedoch von seinem Vater noch rechtzeitig verhindert wurde,
ann besuchte er, teils um Vorlesungen zu hören, teils nur um das aka-
emische Leben kennen zu lernen, die Universitäten Gießen, Marburg, Jena und
ottingen und landete, nachdem er schon einmal österreichischen Werbern in
^ Hände gefallen war, sich vergebens um eine Anstellung als Geistlicher in
>e?ner Heimat, im Darmstüdtischen und in Franken bemüht, einem adlichen Herrn
" Jager und Kellermeister gedient und einen andern nach Straßburg begleitet
"'te, „ach Jahren wüstens Lebens, böser Raufereien und noch höhern Schulden-
^anders endlich in Halle. Hier erhielt er durch die Fürsprache angesehener
' "uner, denen er dnrch seine philologischen Kenntnisse zu imponieren gewußt
^ete, eine Stelle als Lehrer an den Franckeschen Stiftungen, befleißigte sich



^ *) Magister F. Ch. LaukhardS Leben und Schicksale, von ihm selbst beschrieben.
Mische,,ut französische Kulturbilder aus dem 18. Jahrhundert. Bearbeitet von or. Viktor
U .^'"Kitung von Prof. Dr. Paul Holzhausen. Stuttgart, Robert Lutz. 2 Bünde geh.
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[0487] Ein deutscher Magister als Sansculotte oder minder lange Periode der Menschheitsgeschichte mit allen ihren Vorzügen und Fehlern, ihren Bestrebungen und Irrtümern widerspiegelt. Am 29. April 1822 starb in Kreuznach als „Privatlehrer" in den aller- elendesten Verhältnissen ein verkommnes Genie, das trotz einer ganzen Reihe bon ihm verfaßter Bücher schon längst der Vergessenheit anheimgefallen wäre, wenn es nicht eine Selbstbiographie hinterlassen hätte, die für den Kultur Historiker zu einer unschätzbaren Quelle der Sittengeschichte der zweiten Hälfte es achtzehnten Jahrhunderts geworden ist: der ehemalige Theologe Friedrich Christian Laukhard. Seine 1792 bis 1802 unter dem Titel F. C. Lauk- hcirds Leben und Schicksale erschienenen Denkwürdigkeiten sind vor kurzem einer schön ausgestatteten Neuausgabedem großen Publikum wieder zu- ^glich gemacht wordeu. Das ist sehr erfreulich, denn die Aufzeichnungen leses Mannes, der dank seiner Charakterschwäche eigentlich zeitlebens nur ein gelehrter Vagabund war, und den ein tückisches Geschick bei allen Versuchen, Reh zu einer soliden bürgerlichen Existenz durchzuringen, immer wieder in seine Verkommenheit zurückstieß, sind mehr als ein autobiographischer Roman oder als eine romanhafte Autobiographie, sie sind vor allem eine wertvolle Ergänzung Zu den Denkwürdigkeiten größerer, Zeitgenossen, doppelt wertvoll, weil sie die Ereignisse nicht wie die jener von der Höhe, sondern von der Tiefe des Lebens aus beleuchten. Laukhard wurde 1758 als Sohn eines mehr als freigeistigen Pastors zu . endelsheim in der Unterpfalz geboren und durch die Unvernunft einer in >einem Vaterhause lebenden unverheirateten Tante schon als Kind systematisch ZU"! Trunke verführt. Während der Schulzeit knüpfte er ein Liebesverhältnis "ut einem katholischen Mädchen an, dein zu Gefallen er katholisch zu werden eabsichtigte, woran er jedoch von seinem Vater noch rechtzeitig verhindert wurde, ann besuchte er, teils um Vorlesungen zu hören, teils nur um das aka- emische Leben kennen zu lernen, die Universitäten Gießen, Marburg, Jena und ottingen und landete, nachdem er schon einmal österreichischen Werbern in ^ Hände gefallen war, sich vergebens um eine Anstellung als Geistlicher in >e?ner Heimat, im Darmstüdtischen und in Franken bemüht, einem adlichen Herrn " Jager und Kellermeister gedient und einen andern nach Straßburg begleitet "'te, „ach Jahren wüstens Lebens, böser Raufereien und noch höhern Schulden- ^anders endlich in Halle. Hier erhielt er durch die Fürsprache angesehener ' "uner, denen er dnrch seine philologischen Kenntnisse zu imponieren gewußt ^ete, eine Stelle als Lehrer an den Franckeschen Stiftungen, befleißigte sich ^ *) Magister F. Ch. LaukhardS Leben und Schicksale, von ihm selbst beschrieben. Mische,,ut französische Kulturbilder aus dem 18. Jahrhundert. Bearbeitet von or. Viktor U .^'"Kitung von Prof. Dr. Paul Holzhausen. Stuttgart, Robert Lutz. 2 Bünde geh. -^arr, in Leinw. geb. 1?. Mark in .Halbst, geb. 15 Mark. (Memoirenbibliothek, II. Serie «and 14 '

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/487>, abgerufen am 24.08.2024.