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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Vas jugendliche Verbrechertum in Frankreich

Soviel über die Ursachen, die zum Anwachsen des jugendlichen Ver¬
brechertums in Frankreich führen. Einfache und energische Beobachtung der
vorhandnen Gesetze, namentlich über den pflichtmäßigen Schulunterricht, könnte
so manches strauchelnde kleine Menschenkind vor dem Fall bewahren. Aber
an einer solchen zielbewußter sozialen Vorsorge läßt es die französische
Bourgeoisie durchaus fehlen.

Auch in der strafrechtlichen Verfolgung der zu Verbrechern gewordnen
Jugendlichen sind in Frankreich ernsthafte Reformen am Platze. Die jugend¬
lichen Verbrecher werden heute auf Grund des Gesetzes vom 12. Ayrt 1906
abgeurteilt, das die Altersgrenze der Verantwortlichkeit, das heißt die Straf¬
mündigkeit auf achtzehn statt wie früher auf sechzehn Jahre festsetzt. Solange
aber eine Person überhaupt zivilrechtlich nicht mündig ist, kann der Vater in
jedem Fall, ohne jede Begründung oder Rechtfertigung verlangen, daß ihm sem
schuldiges Kind für eine sechsmonatige Unterbringung in einer Besserungsanstalt
überwiesen werde. Das führte in vielen Fällen zur VerÜbung der brutalsten
Willkürakte, in andern provozierten gute Richter diese Maßregel selbst, um dem
Kinde den Leumund nicht zu verderben und einem Jungen namentlich die
Möglichkeit zu sichern, in ein regelrechtes Armeekorps und nicht in eine afri¬
kanische Strafkompagnie eingestellt zu werden. Dem französischen Gesetz nach
erscheinen auch sämtliche jugendlichen Verbrecher vor dem allgemeinen Zucht¬
polizeigericht und werden hier abgeurteilt. Diese Promiskuität ist freilich auch
in Frankreich schon immer als unschicklich und gefährlich für die jugendlichen
Verbrecher empfunden worden. Und ich sehe nur Georges Bonjean, Richter in
Paris, der diesen Zustand aufrecht erhalten will, weil nach seiner Überzeugung
nur der normale Gerichtshof dem Verbrecher alle rechtlichen Bürgschaften bietet,
während der Jugendgerichtshof immer ein Ausnahmegerichtshof bleibt. Aber
seine Stimme ist vereinzelt. Die öffentliche Meinung ist im Anschluß an die
amerikanischen Reformen der Einrichtung von Jugendgerichtshöfen offenbar
günstig. Und seit 1906 wird für sie Propaganda gemacht. Vorläufig ,se man
aber nur auf dem Wege von Verordnungen geblieben, ohne sich zu einer
radikalen Gesetzesreform zu entschließen.

So hat man zunächst einmal in Paris vier Untersuchungsrichter allem und
besonders mit der Verfolgung der Verbrechen Jugendlicher betraut. Aber seitdem
die Strafmündigkeit auf das Alter von achtzehn Jahren verschoben worden ist,
haben diese Richter eine unmenschliche Arbeit zu leisten, da gerade die jugend¬
lichen Verbrecher zwischen siebzehn und achtzehn Jahren das Hauptkontmgent
aller Verbrecher stellen. Nach amerikanischem Muster haben ferner in Paris
°le Richter Julhiet und Rottet Versuche mit der Einsetzung von xrowwu
"Teers angestellt, die den schuldig befundnen, aber nicht bestraften, seinen
Eltern wieder ausgelieferten jugendlichen Verbrecher scharf überwachen. Die
beiden Privatinstitute des ?adroit"As as 1'Lutauoo und des Wuvr" co Souvomr
scheinen sehr befriedigende Ergebnisse zu verzeichnen zu haben, da sich die
Hälfte der so behandelten Kinder wieder auf den rechten Weg zurückfand. Mit


Vas jugendliche Verbrechertum in Frankreich

Soviel über die Ursachen, die zum Anwachsen des jugendlichen Ver¬
brechertums in Frankreich führen. Einfache und energische Beobachtung der
vorhandnen Gesetze, namentlich über den pflichtmäßigen Schulunterricht, könnte
so manches strauchelnde kleine Menschenkind vor dem Fall bewahren. Aber
an einer solchen zielbewußter sozialen Vorsorge läßt es die französische
Bourgeoisie durchaus fehlen.

Auch in der strafrechtlichen Verfolgung der zu Verbrechern gewordnen
Jugendlichen sind in Frankreich ernsthafte Reformen am Platze. Die jugend¬
lichen Verbrecher werden heute auf Grund des Gesetzes vom 12. Ayrt 1906
abgeurteilt, das die Altersgrenze der Verantwortlichkeit, das heißt die Straf¬
mündigkeit auf achtzehn statt wie früher auf sechzehn Jahre festsetzt. Solange
aber eine Person überhaupt zivilrechtlich nicht mündig ist, kann der Vater in
jedem Fall, ohne jede Begründung oder Rechtfertigung verlangen, daß ihm sem
schuldiges Kind für eine sechsmonatige Unterbringung in einer Besserungsanstalt
überwiesen werde. Das führte in vielen Fällen zur VerÜbung der brutalsten
Willkürakte, in andern provozierten gute Richter diese Maßregel selbst, um dem
Kinde den Leumund nicht zu verderben und einem Jungen namentlich die
Möglichkeit zu sichern, in ein regelrechtes Armeekorps und nicht in eine afri¬
kanische Strafkompagnie eingestellt zu werden. Dem französischen Gesetz nach
erscheinen auch sämtliche jugendlichen Verbrecher vor dem allgemeinen Zucht¬
polizeigericht und werden hier abgeurteilt. Diese Promiskuität ist freilich auch
in Frankreich schon immer als unschicklich und gefährlich für die jugendlichen
Verbrecher empfunden worden. Und ich sehe nur Georges Bonjean, Richter in
Paris, der diesen Zustand aufrecht erhalten will, weil nach seiner Überzeugung
nur der normale Gerichtshof dem Verbrecher alle rechtlichen Bürgschaften bietet,
während der Jugendgerichtshof immer ein Ausnahmegerichtshof bleibt. Aber
seine Stimme ist vereinzelt. Die öffentliche Meinung ist im Anschluß an die
amerikanischen Reformen der Einrichtung von Jugendgerichtshöfen offenbar
günstig. Und seit 1906 wird für sie Propaganda gemacht. Vorläufig ,se man
aber nur auf dem Wege von Verordnungen geblieben, ohne sich zu einer
radikalen Gesetzesreform zu entschließen.

So hat man zunächst einmal in Paris vier Untersuchungsrichter allem und
besonders mit der Verfolgung der Verbrechen Jugendlicher betraut. Aber seitdem
die Strafmündigkeit auf das Alter von achtzehn Jahren verschoben worden ist,
haben diese Richter eine unmenschliche Arbeit zu leisten, da gerade die jugend¬
lichen Verbrecher zwischen siebzehn und achtzehn Jahren das Hauptkontmgent
aller Verbrecher stellen. Nach amerikanischem Muster haben ferner in Paris
°le Richter Julhiet und Rottet Versuche mit der Einsetzung von xrowwu
"Teers angestellt, die den schuldig befundnen, aber nicht bestraften, seinen
Eltern wieder ausgelieferten jugendlichen Verbrecher scharf überwachen. Die
beiden Privatinstitute des ?adroit»As as 1'Lutauoo und des Wuvr« co Souvomr
scheinen sehr befriedigende Ergebnisse zu verzeichnen zu haben, da sich die
Hälfte der so behandelten Kinder wieder auf den rechten Weg zurückfand. Mit


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[0485] Vas jugendliche Verbrechertum in Frankreich Soviel über die Ursachen, die zum Anwachsen des jugendlichen Ver¬ brechertums in Frankreich führen. Einfache und energische Beobachtung der vorhandnen Gesetze, namentlich über den pflichtmäßigen Schulunterricht, könnte so manches strauchelnde kleine Menschenkind vor dem Fall bewahren. Aber an einer solchen zielbewußter sozialen Vorsorge läßt es die französische Bourgeoisie durchaus fehlen. Auch in der strafrechtlichen Verfolgung der zu Verbrechern gewordnen Jugendlichen sind in Frankreich ernsthafte Reformen am Platze. Die jugend¬ lichen Verbrecher werden heute auf Grund des Gesetzes vom 12. Ayrt 1906 abgeurteilt, das die Altersgrenze der Verantwortlichkeit, das heißt die Straf¬ mündigkeit auf achtzehn statt wie früher auf sechzehn Jahre festsetzt. Solange aber eine Person überhaupt zivilrechtlich nicht mündig ist, kann der Vater in jedem Fall, ohne jede Begründung oder Rechtfertigung verlangen, daß ihm sem schuldiges Kind für eine sechsmonatige Unterbringung in einer Besserungsanstalt überwiesen werde. Das führte in vielen Fällen zur VerÜbung der brutalsten Willkürakte, in andern provozierten gute Richter diese Maßregel selbst, um dem Kinde den Leumund nicht zu verderben und einem Jungen namentlich die Möglichkeit zu sichern, in ein regelrechtes Armeekorps und nicht in eine afri¬ kanische Strafkompagnie eingestellt zu werden. Dem französischen Gesetz nach erscheinen auch sämtliche jugendlichen Verbrecher vor dem allgemeinen Zucht¬ polizeigericht und werden hier abgeurteilt. Diese Promiskuität ist freilich auch in Frankreich schon immer als unschicklich und gefährlich für die jugendlichen Verbrecher empfunden worden. Und ich sehe nur Georges Bonjean, Richter in Paris, der diesen Zustand aufrecht erhalten will, weil nach seiner Überzeugung nur der normale Gerichtshof dem Verbrecher alle rechtlichen Bürgschaften bietet, während der Jugendgerichtshof immer ein Ausnahmegerichtshof bleibt. Aber seine Stimme ist vereinzelt. Die öffentliche Meinung ist im Anschluß an die amerikanischen Reformen der Einrichtung von Jugendgerichtshöfen offenbar günstig. Und seit 1906 wird für sie Propaganda gemacht. Vorläufig ,se man aber nur auf dem Wege von Verordnungen geblieben, ohne sich zu einer radikalen Gesetzesreform zu entschließen. So hat man zunächst einmal in Paris vier Untersuchungsrichter allem und besonders mit der Verfolgung der Verbrechen Jugendlicher betraut. Aber seitdem die Strafmündigkeit auf das Alter von achtzehn Jahren verschoben worden ist, haben diese Richter eine unmenschliche Arbeit zu leisten, da gerade die jugend¬ lichen Verbrecher zwischen siebzehn und achtzehn Jahren das Hauptkontmgent aller Verbrecher stellen. Nach amerikanischem Muster haben ferner in Paris °le Richter Julhiet und Rottet Versuche mit der Einsetzung von xrowwu "Teers angestellt, die den schuldig befundnen, aber nicht bestraften, seinen Eltern wieder ausgelieferten jugendlichen Verbrecher scharf überwachen. Die beiden Privatinstitute des ?adroit»As as 1'Lutauoo und des Wuvr« co Souvomr scheinen sehr befriedigende Ergebnisse zu verzeichnen zu haben, da sich die Hälfte der so behandelten Kinder wieder auf den rechten Weg zurückfand. Mit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/485>, abgerufen am 22.07.2024.