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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Das Theater als Airche

man der untersten Stufe zuweisen, wenn sie nicht, als Erzeugnisse eines be¬
deutenden Kopfes, gedankenreich wären und einzelne Schönheiten aufwiesen.
Sie sind nach dem Rezept angefertigt: "Sucht nur die Menschen zu ver¬
wirren, sie zu befriedigen ist schwer. In bunten Bildern wenig Klarheit,
viel Irrtum und ein Fünkchen Wahrheit, so wird der beste Trank gebraut."

Den Theaterdirektor jedoch und die lustige Person können wir natürlich als
die berufnen Volkserzieher nicht anerkennen. Wenn die zwei Stücke im ganzen
wenig, vielleicht gar kein Unheil anrichten, so haben wir das dem Umstände
zu verdanken, daß unser heutiges Publikum sehr weit davon entfernt ist, im
Theater eine Erziehungsanstalt zu sehen, vielmehr wirklich bloß hineingeht,
um sich zu amüsieren. Wäre es anders, so würden nach jeder Aufführung
von Nora ein paar Dutzend unzufriedne Ehefrauen durchbrennen. Von dem
über die Wildente gesagten will ich wenigstens eins wiederholen; die Grenz¬
botenleser haben es nicht nötig, aber manchem, der andern Leserkreisen an¬
gehört, würde es gut tun, wenn er zufällig dieses Heft aufschlüge und es
läse. Dünger ist ein nützliches und notwendiges Ding: auf dem Acker und
im Garten verwandelt er sich in nährendes Brot, in duftende Blumen und
köstliche Früchte. Aber auf den Eßtisch bringt man die chemischen Elemente
nicht in Düngerform, sondern in der Gestalt von Brot, Fleisch, Früchten und
Blumen. Und eine Theateraufführung soll ein geistiger Festschmaus sein, die
Personen der Wildente aber sind alle zusammen nichts als ein Düngerhaufen
(wobei noch zu beachten wäre, daß verfaulte Menschen nicht einmal in der
Gesellschaft eine so wertvolle Funktion üben wie der Dünger im Garten oder
Weinberg). Hätten wir ein urnaives und dabei urkräftiges Publikum, so
würde dieses bei der Aufführung der Wildente auf die Bühne gestürzt sein
und die Schauspieler samt dem Direktor, die ihm für sein gutes Geld so was
aufzutischen wagen, tüchtig durchgeprügelt haben. Alle diese Stücke -- die
Wildente am meisten -- verstoßen besonders gegen eines der Gesetze, die
Schiller für die Dichtung aufstellt. In der Abhandlung über das Pathetische
zeigt er am Laokoon, daß dessen Wirkung auf dem Wohlgefallen an der Be¬
herrschung der Sinnlichkeit durch den intelligenten Willen beruht. "Je ent¬
scheidender und gewaltsamer der Affekt im Gebiete der Tierheit sich äußert,
ohne doch im Gebiete der Menschheit dieselbe Macht behaupten zu können,
desto mehr wird diese kenntlich, desto glorreicher offenbart sich die moralische
Selbständigkeit des Menschen, desto pathetischer ist die Darstellung und desto
erhabner das Pathos." Was gefalle, das sei besonders die Offenbarung der
Kraft, die das Kraftgefühl im Zuschauer wecke und steigere. Darin bestehe
die unmittelbare, die ästhetische Wirkung, die mittelbar auch die Moral fördere,
denn sich im Guten zu behaupten, dazu gehöre doch eben Kraft. Und darum
gefalle ein kraftvoller Bösewicht mehr und sei ein geeigneterer Gegenstand
fürs Drama als ein gutmütiger Schwächling. Und dieses ästhetische Wohl¬
gefallen schädige nicht, sondern stärke die Moral. Denn ohne Kraft gebe es
keine wirkliche Moral; sei aber die Kraft vorhanden, dann bedürfe es ja nur


Das Theater als Airche

man der untersten Stufe zuweisen, wenn sie nicht, als Erzeugnisse eines be¬
deutenden Kopfes, gedankenreich wären und einzelne Schönheiten aufwiesen.
Sie sind nach dem Rezept angefertigt: „Sucht nur die Menschen zu ver¬
wirren, sie zu befriedigen ist schwer. In bunten Bildern wenig Klarheit,
viel Irrtum und ein Fünkchen Wahrheit, so wird der beste Trank gebraut."

Den Theaterdirektor jedoch und die lustige Person können wir natürlich als
die berufnen Volkserzieher nicht anerkennen. Wenn die zwei Stücke im ganzen
wenig, vielleicht gar kein Unheil anrichten, so haben wir das dem Umstände
zu verdanken, daß unser heutiges Publikum sehr weit davon entfernt ist, im
Theater eine Erziehungsanstalt zu sehen, vielmehr wirklich bloß hineingeht,
um sich zu amüsieren. Wäre es anders, so würden nach jeder Aufführung
von Nora ein paar Dutzend unzufriedne Ehefrauen durchbrennen. Von dem
über die Wildente gesagten will ich wenigstens eins wiederholen; die Grenz¬
botenleser haben es nicht nötig, aber manchem, der andern Leserkreisen an¬
gehört, würde es gut tun, wenn er zufällig dieses Heft aufschlüge und es
läse. Dünger ist ein nützliches und notwendiges Ding: auf dem Acker und
im Garten verwandelt er sich in nährendes Brot, in duftende Blumen und
köstliche Früchte. Aber auf den Eßtisch bringt man die chemischen Elemente
nicht in Düngerform, sondern in der Gestalt von Brot, Fleisch, Früchten und
Blumen. Und eine Theateraufführung soll ein geistiger Festschmaus sein, die
Personen der Wildente aber sind alle zusammen nichts als ein Düngerhaufen
(wobei noch zu beachten wäre, daß verfaulte Menschen nicht einmal in der
Gesellschaft eine so wertvolle Funktion üben wie der Dünger im Garten oder
Weinberg). Hätten wir ein urnaives und dabei urkräftiges Publikum, so
würde dieses bei der Aufführung der Wildente auf die Bühne gestürzt sein
und die Schauspieler samt dem Direktor, die ihm für sein gutes Geld so was
aufzutischen wagen, tüchtig durchgeprügelt haben. Alle diese Stücke — die
Wildente am meisten — verstoßen besonders gegen eines der Gesetze, die
Schiller für die Dichtung aufstellt. In der Abhandlung über das Pathetische
zeigt er am Laokoon, daß dessen Wirkung auf dem Wohlgefallen an der Be¬
herrschung der Sinnlichkeit durch den intelligenten Willen beruht. „Je ent¬
scheidender und gewaltsamer der Affekt im Gebiete der Tierheit sich äußert,
ohne doch im Gebiete der Menschheit dieselbe Macht behaupten zu können,
desto mehr wird diese kenntlich, desto glorreicher offenbart sich die moralische
Selbständigkeit des Menschen, desto pathetischer ist die Darstellung und desto
erhabner das Pathos." Was gefalle, das sei besonders die Offenbarung der
Kraft, die das Kraftgefühl im Zuschauer wecke und steigere. Darin bestehe
die unmittelbare, die ästhetische Wirkung, die mittelbar auch die Moral fördere,
denn sich im Guten zu behaupten, dazu gehöre doch eben Kraft. Und darum
gefalle ein kraftvoller Bösewicht mehr und sei ein geeigneterer Gegenstand
fürs Drama als ein gutmütiger Schwächling. Und dieses ästhetische Wohl¬
gefallen schädige nicht, sondern stärke die Moral. Denn ohne Kraft gebe es
keine wirkliche Moral; sei aber die Kraft vorhanden, dann bedürfe es ja nur


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[0442] Das Theater als Airche man der untersten Stufe zuweisen, wenn sie nicht, als Erzeugnisse eines be¬ deutenden Kopfes, gedankenreich wären und einzelne Schönheiten aufwiesen. Sie sind nach dem Rezept angefertigt: „Sucht nur die Menschen zu ver¬ wirren, sie zu befriedigen ist schwer. In bunten Bildern wenig Klarheit, viel Irrtum und ein Fünkchen Wahrheit, so wird der beste Trank gebraut." Den Theaterdirektor jedoch und die lustige Person können wir natürlich als die berufnen Volkserzieher nicht anerkennen. Wenn die zwei Stücke im ganzen wenig, vielleicht gar kein Unheil anrichten, so haben wir das dem Umstände zu verdanken, daß unser heutiges Publikum sehr weit davon entfernt ist, im Theater eine Erziehungsanstalt zu sehen, vielmehr wirklich bloß hineingeht, um sich zu amüsieren. Wäre es anders, so würden nach jeder Aufführung von Nora ein paar Dutzend unzufriedne Ehefrauen durchbrennen. Von dem über die Wildente gesagten will ich wenigstens eins wiederholen; die Grenz¬ botenleser haben es nicht nötig, aber manchem, der andern Leserkreisen an¬ gehört, würde es gut tun, wenn er zufällig dieses Heft aufschlüge und es läse. Dünger ist ein nützliches und notwendiges Ding: auf dem Acker und im Garten verwandelt er sich in nährendes Brot, in duftende Blumen und köstliche Früchte. Aber auf den Eßtisch bringt man die chemischen Elemente nicht in Düngerform, sondern in der Gestalt von Brot, Fleisch, Früchten und Blumen. Und eine Theateraufführung soll ein geistiger Festschmaus sein, die Personen der Wildente aber sind alle zusammen nichts als ein Düngerhaufen (wobei noch zu beachten wäre, daß verfaulte Menschen nicht einmal in der Gesellschaft eine so wertvolle Funktion üben wie der Dünger im Garten oder Weinberg). Hätten wir ein urnaives und dabei urkräftiges Publikum, so würde dieses bei der Aufführung der Wildente auf die Bühne gestürzt sein und die Schauspieler samt dem Direktor, die ihm für sein gutes Geld so was aufzutischen wagen, tüchtig durchgeprügelt haben. Alle diese Stücke — die Wildente am meisten — verstoßen besonders gegen eines der Gesetze, die Schiller für die Dichtung aufstellt. In der Abhandlung über das Pathetische zeigt er am Laokoon, daß dessen Wirkung auf dem Wohlgefallen an der Be¬ herrschung der Sinnlichkeit durch den intelligenten Willen beruht. „Je ent¬ scheidender und gewaltsamer der Affekt im Gebiete der Tierheit sich äußert, ohne doch im Gebiete der Menschheit dieselbe Macht behaupten zu können, desto mehr wird diese kenntlich, desto glorreicher offenbart sich die moralische Selbständigkeit des Menschen, desto pathetischer ist die Darstellung und desto erhabner das Pathos." Was gefalle, das sei besonders die Offenbarung der Kraft, die das Kraftgefühl im Zuschauer wecke und steigere. Darin bestehe die unmittelbare, die ästhetische Wirkung, die mittelbar auch die Moral fördere, denn sich im Guten zu behaupten, dazu gehöre doch eben Kraft. Und darum gefalle ein kraftvoller Bösewicht mehr und sei ein geeigneterer Gegenstand fürs Drama als ein gutmütiger Schwächling. Und dieses ästhetische Wohl¬ gefallen schädige nicht, sondern stärke die Moral. Denn ohne Kraft gebe es keine wirkliche Moral; sei aber die Kraft vorhanden, dann bedürfe es ja nur

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/442>, abgerufen am 22.07.2024.