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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Sozialpolitik, Nationalökonomie und Reichsfinanz¬
reform v or. Friedrich BendixeII, Direktor der Hypothekenbank onin

ern man die Zeitalter kennzeichnet nach den Ideen, die sie be¬
herrschen, so wird man das unsrige als das Zeitalter des sozialen
Gedankens ansprechen dürfen. Denn seitdem die nationale Idee in
der Begründung der Neichseinheit ihre Erfüllung gefunden hat,
hat keine der unsre Zeit bewegenden geistigen Strömungen eine
solche Macht über die Gemüter gewonnen wie die Idee der sozialen Gerechtig¬
keit, des Schutzes der wirtschaftlich schwachen.

Dieser unsre Zeit erfüllende soziale Gedanke ist nicht das Rescrvatrecht
einer einzelnen Parteirichtung. Er ist nationaler Gemeinbesitz, nicht liberales
Sondergut. Sind doch die großen sozialen Reichsgesetze gegen die Stimmen
der Sozialdemokraten und des demokratischen Freisinns zustande gekommen
unter der Ägide eines nichts weniger als demokratischen großen Staats¬
mannes. Aber freilich keine Partei hat unter dem Einfluß der sozialen Idee
ewe solche Wandlung ihrer politischen Prinzipien erlebt wie der in der Linken
bis tief in die Reihen der Nationalliberalen hinein verkörperte freihändlerische
Liberalismus.

Wie haben sich doch die Argumente auf dem Felde der Wirtschafts¬
politik verändert! Wo früher der Liberalismus die Schutzzölle mit dem
Rüstzeug der Manchesterschule bekämpfte und im Namen der individuellen
Freiheit das freie Spiel der wirtschaftlichen Kräfte und den Freihandel forderte,
^ finden wir heute nur noch sozialpolitische Argumente, die Berufung auf
das Wohl der arbeitenden Klassen, deren Lebensunterhalt durch die Schutz¬
zölle nicht verteuert werden dürfte. So ist der liberale Individualismus



*) Von demselben Verfasser erscheint in diesen Tagen bei Lucas Gräfe und Sitten in
Hamburg eine Broschüre: Die Reichsfinanzreform, ein nationalökonomisches Problem.
Grenzboten IV 1908 49


Sozialpolitik, Nationalökonomie und Reichsfinanz¬
reform v or. Friedrich BendixeII, Direktor der Hypothekenbank onin

ern man die Zeitalter kennzeichnet nach den Ideen, die sie be¬
herrschen, so wird man das unsrige als das Zeitalter des sozialen
Gedankens ansprechen dürfen. Denn seitdem die nationale Idee in
der Begründung der Neichseinheit ihre Erfüllung gefunden hat,
hat keine der unsre Zeit bewegenden geistigen Strömungen eine
solche Macht über die Gemüter gewonnen wie die Idee der sozialen Gerechtig¬
keit, des Schutzes der wirtschaftlich schwachen.

Dieser unsre Zeit erfüllende soziale Gedanke ist nicht das Rescrvatrecht
einer einzelnen Parteirichtung. Er ist nationaler Gemeinbesitz, nicht liberales
Sondergut. Sind doch die großen sozialen Reichsgesetze gegen die Stimmen
der Sozialdemokraten und des demokratischen Freisinns zustande gekommen
unter der Ägide eines nichts weniger als demokratischen großen Staats¬
mannes. Aber freilich keine Partei hat unter dem Einfluß der sozialen Idee
ewe solche Wandlung ihrer politischen Prinzipien erlebt wie der in der Linken
bis tief in die Reihen der Nationalliberalen hinein verkörperte freihändlerische
Liberalismus.

Wie haben sich doch die Argumente auf dem Felde der Wirtschafts¬
politik verändert! Wo früher der Liberalismus die Schutzzölle mit dem
Rüstzeug der Manchesterschule bekämpfte und im Namen der individuellen
Freiheit das freie Spiel der wirtschaftlichen Kräfte und den Freihandel forderte,
^ finden wir heute nur noch sozialpolitische Argumente, die Berufung auf
das Wohl der arbeitenden Klassen, deren Lebensunterhalt durch die Schutz¬
zölle nicht verteuert werden dürfte. So ist der liberale Individualismus



*) Von demselben Verfasser erscheint in diesen Tagen bei Lucas Gräfe und Sitten in
Hamburg eine Broschüre: Die Reichsfinanzreform, ein nationalökonomisches Problem.
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[0369] [Abbildung] Sozialpolitik, Nationalökonomie und Reichsfinanz¬ reform v or. Friedrich BendixeII, Direktor der Hypothekenbank onin ern man die Zeitalter kennzeichnet nach den Ideen, die sie be¬ herrschen, so wird man das unsrige als das Zeitalter des sozialen Gedankens ansprechen dürfen. Denn seitdem die nationale Idee in der Begründung der Neichseinheit ihre Erfüllung gefunden hat, hat keine der unsre Zeit bewegenden geistigen Strömungen eine solche Macht über die Gemüter gewonnen wie die Idee der sozialen Gerechtig¬ keit, des Schutzes der wirtschaftlich schwachen. Dieser unsre Zeit erfüllende soziale Gedanke ist nicht das Rescrvatrecht einer einzelnen Parteirichtung. Er ist nationaler Gemeinbesitz, nicht liberales Sondergut. Sind doch die großen sozialen Reichsgesetze gegen die Stimmen der Sozialdemokraten und des demokratischen Freisinns zustande gekommen unter der Ägide eines nichts weniger als demokratischen großen Staats¬ mannes. Aber freilich keine Partei hat unter dem Einfluß der sozialen Idee ewe solche Wandlung ihrer politischen Prinzipien erlebt wie der in der Linken bis tief in die Reihen der Nationalliberalen hinein verkörperte freihändlerische Liberalismus. Wie haben sich doch die Argumente auf dem Felde der Wirtschafts¬ politik verändert! Wo früher der Liberalismus die Schutzzölle mit dem Rüstzeug der Manchesterschule bekämpfte und im Namen der individuellen Freiheit das freie Spiel der wirtschaftlichen Kräfte und den Freihandel forderte, ^ finden wir heute nur noch sozialpolitische Argumente, die Berufung auf das Wohl der arbeitenden Klassen, deren Lebensunterhalt durch die Schutz¬ zölle nicht verteuert werden dürfte. So ist der liberale Individualismus *) Von demselben Verfasser erscheint in diesen Tagen bei Lucas Gräfe und Sitten in Hamburg eine Broschüre: Die Reichsfinanzreform, ein nationalökonomisches Problem. Grenzboten IV 1908 49

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/369>, abgerufen am 22.07.2024.