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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Das Wesen der Freimaurerei

zur Geltung, daß bei der Erziehung der Volksgenossen äußerer Zwang der
staatlichen und sonstigen Herrschaftsorganisationen durch rechte Persönlichkeits¬
kultur möglichst entbehrlich gemacht werden muß, da bei derartiger Bevor¬
mundung der Fortschritt der individuellen Sittlichkeit und Wohlfahrt behindert
werde. Unter dem Einfluß einer wahrheits- und fortschrittsfreundlichen Ge¬
meinschaftsmoral soll -- das ist das Ideal des Humanitätsgedankens -- der
einzelne nach Möglichkeit frei sich entschließen, um sich kraft seines Menschen¬
tums zu einem möglichst wertvollen und wahrhaft lebensfreudigen Gliede der
menschlichen Gesellschaft auszubilden.

Die ..Selbstveredlung", die Ausbildung der eignen Persönlichkeit und des
eignen Werth, wie sie bei rechter ..Selbsterkenntnis" und rechter "Aufklärung"
das Gewissen als eigensten Beruf von uns verlangt, gilt den Vertretern des
Humanitätsgedankens als ein fundamentales Gebot der sittlichen Weltordnung,
als das Kernstück aller Sittlichkeit. Zu Beginn des neunzehnten Jahr¬
hunderts -- in der Zeit des klassischen Idealismus - sehn manche in ihr
sogar im allgemeinen die einzige Hauptsache des dem Menschen zngcsprochnen
Humanisierungsberufs. Seitdem aber ist neben der Forderung der Selbstver-
edlung eine andre Seite des Humanitütsgedcmkens immer mehr zur Geltung
gekommen: die soziale. Als ein Humauitütsgebot von höchster Bedeutung
erscheint heute die Forderung, daß ein jeder auch sein Verhalten gegen die
Mitwelt, gegen die engere und weitere menschliche Gesellschaft unter der
Führung seines religiösen und äußern Intellekts so einzurichten hat. wie es
der wahre allgemeine Wohlfahrtsfortschritt und die Zukunft der nationalen
und der allgemeinen menschlichen Lebensgemeinschaft verlangen. Dieser soziale
Gedanke klingt übrigens mannigfach schon in der ältern und ältesten Humanitäts¬
ethik an; die Einsicht, daß es sittlich geboten ist. der gesunden Persönlichkeits¬
entwicklung eine gesunde gesellschaftliche Grundlage zu schaffen, hat sich vielfach
in den dem Humanitären Erziehungsgedanken huldigenden Kreisen und Ge¬
meinschaften durchgerungen. Die Pflicht zur Arbeit am rechten Aufbau des
menschlichen Gemeinlebens auch außerhalb der Selbsterziehungstätigkeit ist
schließlich immer wieder als Forderung des Menschentums und als Inhalt des
den Menschen obliegenden Humanisierungsberufs erkannt worden. Auch Goethe
läßt ja am Ende seinen in gewissem Sinne das Menschentum verkörpernden
Faust zu der Erkenntnis kommen, daß das dem "Gemeindrange" folgende
Schaffen an der Erhöhung der Gemeinschaftskultur jenen eigentlichen Menschen¬
beruf, jene wahre Humanität ausmache, zu der die Menschheit erzogen
werden müsse.

Diese kurze allgemeine Orientierung über das seit alters in der Menschheits¬
geschichte bei einzelnen Persönlichkeiten und bei mehr oder minder großen Ge¬
meinschaften zutage gctretne humanistische Denken und Wollen war nötig, um
jenen Humanitätsgedanken in seinen Grundzügen klarzustellen, in dem der
Kern und das Wesentliche des Freimaurertums zu sehen ist. Die Freimaurer


Das Wesen der Freimaurerei

zur Geltung, daß bei der Erziehung der Volksgenossen äußerer Zwang der
staatlichen und sonstigen Herrschaftsorganisationen durch rechte Persönlichkeits¬
kultur möglichst entbehrlich gemacht werden muß, da bei derartiger Bevor¬
mundung der Fortschritt der individuellen Sittlichkeit und Wohlfahrt behindert
werde. Unter dem Einfluß einer wahrheits- und fortschrittsfreundlichen Ge¬
meinschaftsmoral soll — das ist das Ideal des Humanitätsgedankens — der
einzelne nach Möglichkeit frei sich entschließen, um sich kraft seines Menschen¬
tums zu einem möglichst wertvollen und wahrhaft lebensfreudigen Gliede der
menschlichen Gesellschaft auszubilden.

Die ..Selbstveredlung", die Ausbildung der eignen Persönlichkeit und des
eignen Werth, wie sie bei rechter ..Selbsterkenntnis" und rechter „Aufklärung"
das Gewissen als eigensten Beruf von uns verlangt, gilt den Vertretern des
Humanitätsgedankens als ein fundamentales Gebot der sittlichen Weltordnung,
als das Kernstück aller Sittlichkeit. Zu Beginn des neunzehnten Jahr¬
hunderts — in der Zeit des klassischen Idealismus - sehn manche in ihr
sogar im allgemeinen die einzige Hauptsache des dem Menschen zngcsprochnen
Humanisierungsberufs. Seitdem aber ist neben der Forderung der Selbstver-
edlung eine andre Seite des Humanitütsgedcmkens immer mehr zur Geltung
gekommen: die soziale. Als ein Humauitütsgebot von höchster Bedeutung
erscheint heute die Forderung, daß ein jeder auch sein Verhalten gegen die
Mitwelt, gegen die engere und weitere menschliche Gesellschaft unter der
Führung seines religiösen und äußern Intellekts so einzurichten hat. wie es
der wahre allgemeine Wohlfahrtsfortschritt und die Zukunft der nationalen
und der allgemeinen menschlichen Lebensgemeinschaft verlangen. Dieser soziale
Gedanke klingt übrigens mannigfach schon in der ältern und ältesten Humanitäts¬
ethik an; die Einsicht, daß es sittlich geboten ist. der gesunden Persönlichkeits¬
entwicklung eine gesunde gesellschaftliche Grundlage zu schaffen, hat sich vielfach
in den dem Humanitären Erziehungsgedanken huldigenden Kreisen und Ge¬
meinschaften durchgerungen. Die Pflicht zur Arbeit am rechten Aufbau des
menschlichen Gemeinlebens auch außerhalb der Selbsterziehungstätigkeit ist
schließlich immer wieder als Forderung des Menschentums und als Inhalt des
den Menschen obliegenden Humanisierungsberufs erkannt worden. Auch Goethe
läßt ja am Ende seinen in gewissem Sinne das Menschentum verkörpernden
Faust zu der Erkenntnis kommen, daß das dem „Gemeindrange" folgende
Schaffen an der Erhöhung der Gemeinschaftskultur jenen eigentlichen Menschen¬
beruf, jene wahre Humanität ausmache, zu der die Menschheit erzogen
werden müsse.

Diese kurze allgemeine Orientierung über das seit alters in der Menschheits¬
geschichte bei einzelnen Persönlichkeiten und bei mehr oder minder großen Ge¬
meinschaften zutage gctretne humanistische Denken und Wollen war nötig, um
jenen Humanitätsgedanken in seinen Grundzügen klarzustellen, in dem der
Kern und das Wesentliche des Freimaurertums zu sehen ist. Die Freimaurer


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[0035] Das Wesen der Freimaurerei zur Geltung, daß bei der Erziehung der Volksgenossen äußerer Zwang der staatlichen und sonstigen Herrschaftsorganisationen durch rechte Persönlichkeits¬ kultur möglichst entbehrlich gemacht werden muß, da bei derartiger Bevor¬ mundung der Fortschritt der individuellen Sittlichkeit und Wohlfahrt behindert werde. Unter dem Einfluß einer wahrheits- und fortschrittsfreundlichen Ge¬ meinschaftsmoral soll — das ist das Ideal des Humanitätsgedankens — der einzelne nach Möglichkeit frei sich entschließen, um sich kraft seines Menschen¬ tums zu einem möglichst wertvollen und wahrhaft lebensfreudigen Gliede der menschlichen Gesellschaft auszubilden. Die ..Selbstveredlung", die Ausbildung der eignen Persönlichkeit und des eignen Werth, wie sie bei rechter ..Selbsterkenntnis" und rechter „Aufklärung" das Gewissen als eigensten Beruf von uns verlangt, gilt den Vertretern des Humanitätsgedankens als ein fundamentales Gebot der sittlichen Weltordnung, als das Kernstück aller Sittlichkeit. Zu Beginn des neunzehnten Jahr¬ hunderts — in der Zeit des klassischen Idealismus - sehn manche in ihr sogar im allgemeinen die einzige Hauptsache des dem Menschen zngcsprochnen Humanisierungsberufs. Seitdem aber ist neben der Forderung der Selbstver- edlung eine andre Seite des Humanitütsgedcmkens immer mehr zur Geltung gekommen: die soziale. Als ein Humauitütsgebot von höchster Bedeutung erscheint heute die Forderung, daß ein jeder auch sein Verhalten gegen die Mitwelt, gegen die engere und weitere menschliche Gesellschaft unter der Führung seines religiösen und äußern Intellekts so einzurichten hat. wie es der wahre allgemeine Wohlfahrtsfortschritt und die Zukunft der nationalen und der allgemeinen menschlichen Lebensgemeinschaft verlangen. Dieser soziale Gedanke klingt übrigens mannigfach schon in der ältern und ältesten Humanitäts¬ ethik an; die Einsicht, daß es sittlich geboten ist. der gesunden Persönlichkeits¬ entwicklung eine gesunde gesellschaftliche Grundlage zu schaffen, hat sich vielfach in den dem Humanitären Erziehungsgedanken huldigenden Kreisen und Ge¬ meinschaften durchgerungen. Die Pflicht zur Arbeit am rechten Aufbau des menschlichen Gemeinlebens auch außerhalb der Selbsterziehungstätigkeit ist schließlich immer wieder als Forderung des Menschentums und als Inhalt des den Menschen obliegenden Humanisierungsberufs erkannt worden. Auch Goethe läßt ja am Ende seinen in gewissem Sinne das Menschentum verkörpernden Faust zu der Erkenntnis kommen, daß das dem „Gemeindrange" folgende Schaffen an der Erhöhung der Gemeinschaftskultur jenen eigentlichen Menschen¬ beruf, jene wahre Humanität ausmache, zu der die Menschheit erzogen werden müsse. Diese kurze allgemeine Orientierung über das seit alters in der Menschheits¬ geschichte bei einzelnen Persönlichkeiten und bei mehr oder minder großen Ge¬ meinschaften zutage gctretne humanistische Denken und Wollen war nötig, um jenen Humanitätsgedanken in seinen Grundzügen klarzustellen, in dem der Kern und das Wesentliche des Freimaurertums zu sehen ist. Die Freimaurer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/35>, abgerufen am 22.07.2024.