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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Das Theater als Kirche

kurzen Predigt (wofern er nicht auch diese heimlich für seinen Genuß aus¬
zunutzen versteht) das Recht auf die langen Kirmeskuchen, auf das Tanz-,
sans- und Holzereivergnügen erkaufen muß. Aber die Mehrzahl der Kirch¬
gänger ist doch nicht so frech, daß sie es in der Kirche auf das Verweilen
bei losen Gedanken geradezu absehen sollte. Die meisten versuchen sich einen
Schwung über die Region der Sinnlichkeit und des groben Egoismus hinaus¬
zugehen und haben die Ohren ihrer Herzen für eine ernste Belehrung und
Mahnung geöffnet, und den Nachmittag und Abend des Sonntags verbringt
die Masse unsrer heutigen deutschen Bevölkerung bei einer anständigen Er¬
holung, die die vormittags empfangner Eindrücke nicht vernichtet. Dagegen
die Theaterbesucher?

Was macht ein volles Haus euch froh?
Befehl die Gönner in der Nähe!
Halb sind sie kalt, halb sind sie roh.
Der nach dem Schauspiel hofft ein Kartenspiel,
Der eine wilde Nacht an einer Dirne Busen.
Was plagt ihr arme Toren viel
Zu solchem Zweck die holden Musen?

Also nach des Theaterdirektors Ansicht ist es schon Verschwendung, diesem
Publikum ein Stück vorzuführen, das poetischen Wert hat. Ob die heutigen
Theaterdirektoren auch noch so denken, weiß ich nicht. Manche Dichter
scheinen die Ansicht für richtig zu halten. Ein Journalist, der mitunter
dichtet, erzählte mir, er habe ein Stück geschrieben, das er bei keiner Bühne
habe anbringen können. Seine Frau habe gesagt: Das Stück ist eben viel
^ gut; du bist ein Narr gewesen, daß du dir soviel Mühe gegeben hast.
Da habe er denn eine ganz dumme Posse hingeschmiert, und die habe ihm
unen anständigen Batzen eingebracht. Gerade auf das Premierenpublikum
und die Habitues, die ich freilich nur aus den Schilderungen in Zeitungen
kenne, scheint die Charakteristik im ersten Faustprolog zu passen.

Allerdings hat es gerade in Goethes Zeit naive Leute gegeben die im
Theater eine Stätte der Erbauung sahen, die sie mit Ehrfurcht und Andacht
betraten, und von der sie eine Bestätigung. Neubelebung und Kräftigung ihrer
moralischen Grundsätze erwarteten und forderten. Vor hundert Jahren hatte
Vreslau ein kleines, bescheidnes Theater, die kalte Asche genannt, an der sehr
tüchtige Schauspieler wirkten, und das damals noch ganz kleinstädtische
Breslauer Publikum scheint größtenteils aus solchen naiv-moralischen Kunst¬
liebhabern bestanden zu haben. Von den Anekdoten, die aus dem damaligen
Thenterlebcn erzählt werden, habe ich mir eine gemerkt. Es wird ein Rühr¬
stück gegeben. Eine würdige Matrone fühlt sich im tiefsten Innern erschüttert,
muß unablässig ihre Tränen trocknen und sich oft und heftig schneuzen.
Plötzlich versetzt sie der neben ihr sitzenden Tochter einen kräftigen Rippen¬
stoß und macht'ihrer aus Furcht. Mitleid und Entrüstung gemischten Stimmung
in den Worten Luft: ..Lotte, wenn der schlechte Kerl das arme Mädel sitzen


Grenzboten IV 1908 ^
Das Theater als Kirche

kurzen Predigt (wofern er nicht auch diese heimlich für seinen Genuß aus¬
zunutzen versteht) das Recht auf die langen Kirmeskuchen, auf das Tanz-,
sans- und Holzereivergnügen erkaufen muß. Aber die Mehrzahl der Kirch¬
gänger ist doch nicht so frech, daß sie es in der Kirche auf das Verweilen
bei losen Gedanken geradezu absehen sollte. Die meisten versuchen sich einen
Schwung über die Region der Sinnlichkeit und des groben Egoismus hinaus¬
zugehen und haben die Ohren ihrer Herzen für eine ernste Belehrung und
Mahnung geöffnet, und den Nachmittag und Abend des Sonntags verbringt
die Masse unsrer heutigen deutschen Bevölkerung bei einer anständigen Er¬
holung, die die vormittags empfangner Eindrücke nicht vernichtet. Dagegen
die Theaterbesucher?

Was macht ein volles Haus euch froh?
Befehl die Gönner in der Nähe!
Halb sind sie kalt, halb sind sie roh.
Der nach dem Schauspiel hofft ein Kartenspiel,
Der eine wilde Nacht an einer Dirne Busen.
Was plagt ihr arme Toren viel
Zu solchem Zweck die holden Musen?

Also nach des Theaterdirektors Ansicht ist es schon Verschwendung, diesem
Publikum ein Stück vorzuführen, das poetischen Wert hat. Ob die heutigen
Theaterdirektoren auch noch so denken, weiß ich nicht. Manche Dichter
scheinen die Ansicht für richtig zu halten. Ein Journalist, der mitunter
dichtet, erzählte mir, er habe ein Stück geschrieben, das er bei keiner Bühne
habe anbringen können. Seine Frau habe gesagt: Das Stück ist eben viel
^ gut; du bist ein Narr gewesen, daß du dir soviel Mühe gegeben hast.
Da habe er denn eine ganz dumme Posse hingeschmiert, und die habe ihm
unen anständigen Batzen eingebracht. Gerade auf das Premierenpublikum
und die Habitues, die ich freilich nur aus den Schilderungen in Zeitungen
kenne, scheint die Charakteristik im ersten Faustprolog zu passen.

Allerdings hat es gerade in Goethes Zeit naive Leute gegeben die im
Theater eine Stätte der Erbauung sahen, die sie mit Ehrfurcht und Andacht
betraten, und von der sie eine Bestätigung. Neubelebung und Kräftigung ihrer
moralischen Grundsätze erwarteten und forderten. Vor hundert Jahren hatte
Vreslau ein kleines, bescheidnes Theater, die kalte Asche genannt, an der sehr
tüchtige Schauspieler wirkten, und das damals noch ganz kleinstädtische
Breslauer Publikum scheint größtenteils aus solchen naiv-moralischen Kunst¬
liebhabern bestanden zu haben. Von den Anekdoten, die aus dem damaligen
Thenterlebcn erzählt werden, habe ich mir eine gemerkt. Es wird ein Rühr¬
stück gegeben. Eine würdige Matrone fühlt sich im tiefsten Innern erschüttert,
muß unablässig ihre Tränen trocknen und sich oft und heftig schneuzen.
Plötzlich versetzt sie der neben ihr sitzenden Tochter einen kräftigen Rippen¬
stoß und macht'ihrer aus Furcht. Mitleid und Entrüstung gemischten Stimmung
in den Worten Luft: ..Lotte, wenn der schlechte Kerl das arme Mädel sitzen


Grenzboten IV 1908 ^
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[0341] Das Theater als Kirche kurzen Predigt (wofern er nicht auch diese heimlich für seinen Genuß aus¬ zunutzen versteht) das Recht auf die langen Kirmeskuchen, auf das Tanz-, sans- und Holzereivergnügen erkaufen muß. Aber die Mehrzahl der Kirch¬ gänger ist doch nicht so frech, daß sie es in der Kirche auf das Verweilen bei losen Gedanken geradezu absehen sollte. Die meisten versuchen sich einen Schwung über die Region der Sinnlichkeit und des groben Egoismus hinaus¬ zugehen und haben die Ohren ihrer Herzen für eine ernste Belehrung und Mahnung geöffnet, und den Nachmittag und Abend des Sonntags verbringt die Masse unsrer heutigen deutschen Bevölkerung bei einer anständigen Er¬ holung, die die vormittags empfangner Eindrücke nicht vernichtet. Dagegen die Theaterbesucher? Was macht ein volles Haus euch froh? Befehl die Gönner in der Nähe! Halb sind sie kalt, halb sind sie roh. Der nach dem Schauspiel hofft ein Kartenspiel, Der eine wilde Nacht an einer Dirne Busen. Was plagt ihr arme Toren viel Zu solchem Zweck die holden Musen? Also nach des Theaterdirektors Ansicht ist es schon Verschwendung, diesem Publikum ein Stück vorzuführen, das poetischen Wert hat. Ob die heutigen Theaterdirektoren auch noch so denken, weiß ich nicht. Manche Dichter scheinen die Ansicht für richtig zu halten. Ein Journalist, der mitunter dichtet, erzählte mir, er habe ein Stück geschrieben, das er bei keiner Bühne habe anbringen können. Seine Frau habe gesagt: Das Stück ist eben viel ^ gut; du bist ein Narr gewesen, daß du dir soviel Mühe gegeben hast. Da habe er denn eine ganz dumme Posse hingeschmiert, und die habe ihm unen anständigen Batzen eingebracht. Gerade auf das Premierenpublikum und die Habitues, die ich freilich nur aus den Schilderungen in Zeitungen kenne, scheint die Charakteristik im ersten Faustprolog zu passen. Allerdings hat es gerade in Goethes Zeit naive Leute gegeben die im Theater eine Stätte der Erbauung sahen, die sie mit Ehrfurcht und Andacht betraten, und von der sie eine Bestätigung. Neubelebung und Kräftigung ihrer moralischen Grundsätze erwarteten und forderten. Vor hundert Jahren hatte Vreslau ein kleines, bescheidnes Theater, die kalte Asche genannt, an der sehr tüchtige Schauspieler wirkten, und das damals noch ganz kleinstädtische Breslauer Publikum scheint größtenteils aus solchen naiv-moralischen Kunst¬ liebhabern bestanden zu haben. Von den Anekdoten, die aus dem damaligen Thenterlebcn erzählt werden, habe ich mir eine gemerkt. Es wird ein Rühr¬ stück gegeben. Eine würdige Matrone fühlt sich im tiefsten Innern erschüttert, muß unablässig ihre Tränen trocknen und sich oft und heftig schneuzen. Plötzlich versetzt sie der neben ihr sitzenden Tochter einen kräftigen Rippen¬ stoß und macht'ihrer aus Furcht. Mitleid und Entrüstung gemischten Stimmung in den Worten Luft: ..Lotte, wenn der schlechte Kerl das arme Mädel sitzen Grenzboten IV 1908 ^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/341>, abgerufen am 22.07.2024.