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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Junge Richter und junge Rechtsanmälte

weil es ihm an praktischer Erfahrung und Schulung fehlt. Deshalb läßt er
den Beklagten schwören, daß er sich nicht "verbürgt" habe, und weist sodann
die Klage ab. Nunmehr ermittelt der Kläger eiuen Hausgenossen, der vom
Nebenzimmer aus das Gespräch der Parteien bei der angeblichen Bürgschafts¬
leistung gehört hat, und bringt den Beklagten zur Anzeige wegen Meineids.
Der im Untersuchungsverfahren gehörte Zeuge bekundet, er habe genau gehört,
wie der Angeschuldigte dem Kläger erklärte: "Herr Meier, Sie können dem
Mann ruhig borgen, Sie werden an ihm nichts verlieren." Darauf stellt
der Staatsanwalt das Verfahren ein, weil diese Äußerung ja gar keine
"Bürgschaft" ist. Auch der Amtsrichter Hütte wohl ohne Eidesleistung zur
Abweisung der Klage kommen müssen, mindestens aber das Strafverfahren
ersparen können, wenn er auf eine Auslassung der Parteien über die von
ihnen gewechselten Erklärungen gedrungen hätte.

Das Vorgetragne beweist, daß die Kenntnisse, die der Assessor in einer
etwa achtjährigen Vorbildungszeit erlangt hat, und deren Besitz er durch Ab¬
legung der Staatsprüfungen erwiesen hat, noch lange nicht hinreichen, um
einen Rechtsstreit "richtig" zu entscheiden. Die gesetzlichen Vorschriften, die
bei der Entscheidung der oben aufgeführten Fülle in Betracht kommen, sind
wenig an der Zahl und allbekannt, jeder Assessor hat sie unzühligemale gelesen
und gelernt. Aber er hat deshalb noch lange nicht die Fähigkeit, die be¬
zeichnete" gesetzlichen Vorschriften anzuwenden, d. h. den einzelnen Fall in der
kennzeichnenden und von andern Füllen unterscheidenden Weise so zu erfassen,
daß ihm die Anwendbarkeit oder Unanwendbarkeit einer gesetzlichen Vorschrift
zum Bewußtsein kommt. Diese Fähigkeit wird erst erlangt durch eine lange
praktische Beschäftigung; Erfahrungen über die Anwendung des Gesetzes, die
der Richter gemacht hat, die in der Praxis gewonnene Kenntnis der An¬
schauungen und Lebensverhältnisse der Parteien ermöglichen erst eine An¬
wendung des Gesetzes, die den Anforderungen des Rechtsverkehrs entspricht
und zu praktisch brauchbaren Entscheidungen führt. Um dieser eben bezeichneten
Aufgabe des Richters gerecht zu werden, bedarf es des praktischen Tales.
Gerade die Vielgestaltigkeit der im Rechtsverkehr auftretenden Erscheinungen
ist es, die dem Richter Einblick in die anscheinend zusammenhangslosen
einzelnen Lehren des materiellen und formellen Rechts genährt und hiermit
die Fähigkeit bietet, eine praktisch brauchbare Entscheidung zu treffen. Durch
den praktischen Takt wird recht eigentlich der Wert unsrer Rechtsprechung ge¬
tragen; er erzeugt das lebendige Rechtsbewußtsein, den innern Sinn für
Gerechtigkeit. Und dieser praktische Takt wird eben nicht in einer etwa acht¬
jährigen Vorbildungszeit erlangt, sondern nur durch langjährige Beendigung
in der Praxis.




Junge Richter und junge Rechtsanmälte

weil es ihm an praktischer Erfahrung und Schulung fehlt. Deshalb läßt er
den Beklagten schwören, daß er sich nicht „verbürgt" habe, und weist sodann
die Klage ab. Nunmehr ermittelt der Kläger eiuen Hausgenossen, der vom
Nebenzimmer aus das Gespräch der Parteien bei der angeblichen Bürgschafts¬
leistung gehört hat, und bringt den Beklagten zur Anzeige wegen Meineids.
Der im Untersuchungsverfahren gehörte Zeuge bekundet, er habe genau gehört,
wie der Angeschuldigte dem Kläger erklärte: „Herr Meier, Sie können dem
Mann ruhig borgen, Sie werden an ihm nichts verlieren." Darauf stellt
der Staatsanwalt das Verfahren ein, weil diese Äußerung ja gar keine
„Bürgschaft" ist. Auch der Amtsrichter Hütte wohl ohne Eidesleistung zur
Abweisung der Klage kommen müssen, mindestens aber das Strafverfahren
ersparen können, wenn er auf eine Auslassung der Parteien über die von
ihnen gewechselten Erklärungen gedrungen hätte.

Das Vorgetragne beweist, daß die Kenntnisse, die der Assessor in einer
etwa achtjährigen Vorbildungszeit erlangt hat, und deren Besitz er durch Ab¬
legung der Staatsprüfungen erwiesen hat, noch lange nicht hinreichen, um
einen Rechtsstreit „richtig" zu entscheiden. Die gesetzlichen Vorschriften, die
bei der Entscheidung der oben aufgeführten Fülle in Betracht kommen, sind
wenig an der Zahl und allbekannt, jeder Assessor hat sie unzühligemale gelesen
und gelernt. Aber er hat deshalb noch lange nicht die Fähigkeit, die be¬
zeichnete» gesetzlichen Vorschriften anzuwenden, d. h. den einzelnen Fall in der
kennzeichnenden und von andern Füllen unterscheidenden Weise so zu erfassen,
daß ihm die Anwendbarkeit oder Unanwendbarkeit einer gesetzlichen Vorschrift
zum Bewußtsein kommt. Diese Fähigkeit wird erst erlangt durch eine lange
praktische Beschäftigung; Erfahrungen über die Anwendung des Gesetzes, die
der Richter gemacht hat, die in der Praxis gewonnene Kenntnis der An¬
schauungen und Lebensverhältnisse der Parteien ermöglichen erst eine An¬
wendung des Gesetzes, die den Anforderungen des Rechtsverkehrs entspricht
und zu praktisch brauchbaren Entscheidungen führt. Um dieser eben bezeichneten
Aufgabe des Richters gerecht zu werden, bedarf es des praktischen Tales.
Gerade die Vielgestaltigkeit der im Rechtsverkehr auftretenden Erscheinungen
ist es, die dem Richter Einblick in die anscheinend zusammenhangslosen
einzelnen Lehren des materiellen und formellen Rechts genährt und hiermit
die Fähigkeit bietet, eine praktisch brauchbare Entscheidung zu treffen. Durch
den praktischen Takt wird recht eigentlich der Wert unsrer Rechtsprechung ge¬
tragen; er erzeugt das lebendige Rechtsbewußtsein, den innern Sinn für
Gerechtigkeit. Und dieser praktische Takt wird eben nicht in einer etwa acht¬
jährigen Vorbildungszeit erlangt, sondern nur durch langjährige Beendigung
in der Praxis.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/282>, abgerufen am 22.07.2024.