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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Ästerreich-Ungarn und die U?ehrreform

dieser Zeit den Vorteil einer verkürzten Dienstzeit genießen wird. Nach dem
neuen Wehrgesetz würde also jeder Wehrfähige in Österreich-Ungarn, soweit
er nicht zu den anerkannten Familienernährern gehört, seiner aktiven Dienstpflicht
wirklich genügen und nur, wie bisher, die Geistlichen der staatlich anerkannten
Religionen und die Religionslehrer von jeder Dienstpflicht befreit bleiben.

Wenn auch das endgiltige Schicksal der Wehrreform, die noch nicht einmal
in allen ihren Teilen bekannt gegeben ist, natürlich zurzeit noch nicht feststeht,
so darf man doch wohl schon jetzt mit Sicherheit annehmen, daß sie in ihren
Hauptleiter jedenfalls zur Tatsache werden wird. Denn auch die Magyaren
haben durch die Herren Kossuth und Apponyi anscheinend ihren prinzipiellen
Widerstand dagegen fallen gelassen und in ihrer maßgebenden Presse deutlich
zu erkennen gegeben, daß sie eine Wehrreform aus militärischen Gründen
für unerläßlich erachten und anerkennen, daß man mit den bisher in An¬
wendung gekommnen Aushilfemittelchen und dem kümmerlichen Flickwerk für
die schreiendsten Notstände auf die Dauer nicht auskommen kann. Daß sie
dabei andrerseits auf Kompensationen in der Wahlreformfrage rechnen, ist
schon oben gesagt worden, und sie werden sich, wie es augenblicklich scheint,
über das erwartete Entgegenkommen des Grafen Julius Andrassy auch nicht
getäuscht sehen, da dieser in seiner Wahlvorlage bemüht sein wird, die
Suprematie des Magyarentums gegen die Majorisierung durch die Nationa¬
litätenvertreter zu sichern. Daß aber trotzdem diese eine bedeutende Vermehrung
ihrer Stimmen und ihres Einflusses auf die Regierung erfahren werden,
ebenso wie die katholische Volkspartei und die Sozialdemokratie dabei bedeutend
gewinnen werden, ist ebenfalls als sicher einzusehn.

Bei den bedauerlichen Nationalitütsverhältnissen des österreichisch-ungarischen
Kaiserstaates, in dem sich die Deutschen, Ungaren und Slawen -- diese in
ihren verschiednen Gruppen: Tschechen, Slowenen, Kroaten, Serben, Polen,
Ruthenen --, ferner die Italiener, Rumänen und jüngst anscheinend auch noch die
Mohammedaner mehr oder minder feindlich und eifersüchtig einander gegenüber¬
stehn, zuweilen sich sogar bis aufs Blut bekämpfen, bildet das kaiserliche und
königliche Heer tatsächlich das einzige, wirklich feste Band, das die vielsprachige
große Monarchie noch zusammenhält. Daher sind besonders die Slawen (von
diesen namentlich die Tschechen) und die Magyaren seit lange bemüht gewesen,
bald planmäßig in unterirdischen Minengängen, bald in offnem Angriff dagegen
vorgehend, die Gemeinsamkeit des Heeres und seine durch diese Gemeinsamkeit
noch so starke Organisation zu erschüttern, um ihr letztes Ziel zu erreichen :
die Einheit der Monarchie zu vernichten.

Zwar sagt Arthur Korn in der Zeitschrift "Der Deutsche" (vom 8. August)
in einer kürzern "Die kaiserliche und königliche Armee" betitelten Schilderung,
speziell des ungarischen Heeres und seines Offizierkorps, daß das alte Grill-
Parzersche Wort, das dieser Nationaldichter einst dem siegreichen Feldmarschall
Radetzky zurief: "In deinem Lager ist Österreich!" noch heutigentags "wahrer


Grenzboten IV 1908 36
Ästerreich-Ungarn und die U?ehrreform

dieser Zeit den Vorteil einer verkürzten Dienstzeit genießen wird. Nach dem
neuen Wehrgesetz würde also jeder Wehrfähige in Österreich-Ungarn, soweit
er nicht zu den anerkannten Familienernährern gehört, seiner aktiven Dienstpflicht
wirklich genügen und nur, wie bisher, die Geistlichen der staatlich anerkannten
Religionen und die Religionslehrer von jeder Dienstpflicht befreit bleiben.

Wenn auch das endgiltige Schicksal der Wehrreform, die noch nicht einmal
in allen ihren Teilen bekannt gegeben ist, natürlich zurzeit noch nicht feststeht,
so darf man doch wohl schon jetzt mit Sicherheit annehmen, daß sie in ihren
Hauptleiter jedenfalls zur Tatsache werden wird. Denn auch die Magyaren
haben durch die Herren Kossuth und Apponyi anscheinend ihren prinzipiellen
Widerstand dagegen fallen gelassen und in ihrer maßgebenden Presse deutlich
zu erkennen gegeben, daß sie eine Wehrreform aus militärischen Gründen
für unerläßlich erachten und anerkennen, daß man mit den bisher in An¬
wendung gekommnen Aushilfemittelchen und dem kümmerlichen Flickwerk für
die schreiendsten Notstände auf die Dauer nicht auskommen kann. Daß sie
dabei andrerseits auf Kompensationen in der Wahlreformfrage rechnen, ist
schon oben gesagt worden, und sie werden sich, wie es augenblicklich scheint,
über das erwartete Entgegenkommen des Grafen Julius Andrassy auch nicht
getäuscht sehen, da dieser in seiner Wahlvorlage bemüht sein wird, die
Suprematie des Magyarentums gegen die Majorisierung durch die Nationa¬
litätenvertreter zu sichern. Daß aber trotzdem diese eine bedeutende Vermehrung
ihrer Stimmen und ihres Einflusses auf die Regierung erfahren werden,
ebenso wie die katholische Volkspartei und die Sozialdemokratie dabei bedeutend
gewinnen werden, ist ebenfalls als sicher einzusehn.

Bei den bedauerlichen Nationalitütsverhältnissen des österreichisch-ungarischen
Kaiserstaates, in dem sich die Deutschen, Ungaren und Slawen — diese in
ihren verschiednen Gruppen: Tschechen, Slowenen, Kroaten, Serben, Polen,
Ruthenen —, ferner die Italiener, Rumänen und jüngst anscheinend auch noch die
Mohammedaner mehr oder minder feindlich und eifersüchtig einander gegenüber¬
stehn, zuweilen sich sogar bis aufs Blut bekämpfen, bildet das kaiserliche und
königliche Heer tatsächlich das einzige, wirklich feste Band, das die vielsprachige
große Monarchie noch zusammenhält. Daher sind besonders die Slawen (von
diesen namentlich die Tschechen) und die Magyaren seit lange bemüht gewesen,
bald planmäßig in unterirdischen Minengängen, bald in offnem Angriff dagegen
vorgehend, die Gemeinsamkeit des Heeres und seine durch diese Gemeinsamkeit
noch so starke Organisation zu erschüttern, um ihr letztes Ziel zu erreichen :
die Einheit der Monarchie zu vernichten.

Zwar sagt Arthur Korn in der Zeitschrift „Der Deutsche" (vom 8. August)
in einer kürzern „Die kaiserliche und königliche Armee" betitelten Schilderung,
speziell des ungarischen Heeres und seines Offizierkorps, daß das alte Grill-
Parzersche Wort, das dieser Nationaldichter einst dem siegreichen Feldmarschall
Radetzky zurief: „In deinem Lager ist Österreich!" noch heutigentags „wahrer


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[0273] Ästerreich-Ungarn und die U?ehrreform dieser Zeit den Vorteil einer verkürzten Dienstzeit genießen wird. Nach dem neuen Wehrgesetz würde also jeder Wehrfähige in Österreich-Ungarn, soweit er nicht zu den anerkannten Familienernährern gehört, seiner aktiven Dienstpflicht wirklich genügen und nur, wie bisher, die Geistlichen der staatlich anerkannten Religionen und die Religionslehrer von jeder Dienstpflicht befreit bleiben. Wenn auch das endgiltige Schicksal der Wehrreform, die noch nicht einmal in allen ihren Teilen bekannt gegeben ist, natürlich zurzeit noch nicht feststeht, so darf man doch wohl schon jetzt mit Sicherheit annehmen, daß sie in ihren Hauptleiter jedenfalls zur Tatsache werden wird. Denn auch die Magyaren haben durch die Herren Kossuth und Apponyi anscheinend ihren prinzipiellen Widerstand dagegen fallen gelassen und in ihrer maßgebenden Presse deutlich zu erkennen gegeben, daß sie eine Wehrreform aus militärischen Gründen für unerläßlich erachten und anerkennen, daß man mit den bisher in An¬ wendung gekommnen Aushilfemittelchen und dem kümmerlichen Flickwerk für die schreiendsten Notstände auf die Dauer nicht auskommen kann. Daß sie dabei andrerseits auf Kompensationen in der Wahlreformfrage rechnen, ist schon oben gesagt worden, und sie werden sich, wie es augenblicklich scheint, über das erwartete Entgegenkommen des Grafen Julius Andrassy auch nicht getäuscht sehen, da dieser in seiner Wahlvorlage bemüht sein wird, die Suprematie des Magyarentums gegen die Majorisierung durch die Nationa¬ litätenvertreter zu sichern. Daß aber trotzdem diese eine bedeutende Vermehrung ihrer Stimmen und ihres Einflusses auf die Regierung erfahren werden, ebenso wie die katholische Volkspartei und die Sozialdemokratie dabei bedeutend gewinnen werden, ist ebenfalls als sicher einzusehn. Bei den bedauerlichen Nationalitütsverhältnissen des österreichisch-ungarischen Kaiserstaates, in dem sich die Deutschen, Ungaren und Slawen — diese in ihren verschiednen Gruppen: Tschechen, Slowenen, Kroaten, Serben, Polen, Ruthenen —, ferner die Italiener, Rumänen und jüngst anscheinend auch noch die Mohammedaner mehr oder minder feindlich und eifersüchtig einander gegenüber¬ stehn, zuweilen sich sogar bis aufs Blut bekämpfen, bildet das kaiserliche und königliche Heer tatsächlich das einzige, wirklich feste Band, das die vielsprachige große Monarchie noch zusammenhält. Daher sind besonders die Slawen (von diesen namentlich die Tschechen) und die Magyaren seit lange bemüht gewesen, bald planmäßig in unterirdischen Minengängen, bald in offnem Angriff dagegen vorgehend, die Gemeinsamkeit des Heeres und seine durch diese Gemeinsamkeit noch so starke Organisation zu erschüttern, um ihr letztes Ziel zu erreichen : die Einheit der Monarchie zu vernichten. Zwar sagt Arthur Korn in der Zeitschrift „Der Deutsche" (vom 8. August) in einer kürzern „Die kaiserliche und königliche Armee" betitelten Schilderung, speziell des ungarischen Heeres und seines Offizierkorps, daß das alte Grill- Parzersche Wort, das dieser Nationaldichter einst dem siegreichen Feldmarschall Radetzky zurief: „In deinem Lager ist Österreich!" noch heutigentags „wahrer Grenzboten IV 1908 36

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/273>, abgerufen am 22.07.2024.