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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Österreich - Ungarn und die Wehrreform

nachdem durch die gefallne Wehrvorlage von 1903 die damals in Aussicht
genommne Kontingentserhöhung der Rekruten vereitelt worden war. Im
Gegenteil wuchs dieser Nachteil durch die einzelnen etatsmäßigen Neu¬
formationen noch, da man von dem schon an und für sich so schwachen Jn-
fanteriestande noch die Mannschaften für jene nehmen und beispielsweise für
den Etat von 1908 nicht weniger als 4824 Mann von der Infanterie ab¬
ziehen mußte, um die neuen Batterien, Maschinengewehrabteilungen und
einzelne technische Formationen aufstellen zu können: hatte doch mit Bezug
darauf der österreichische Landesverteidigungsministcr Georgi selbst das Wort
ausgesprochen, die Stände der Wehrmacht des Landes seien "auf den Null¬
punkt gekommen". (Pester Lloyd vom 22. Juli d. I.)

Einen Einblick in diese Verhältnisse und die Ansichten der Militärs in
unsrer Nachbarmonarchie gewähren die während des Juli und des August dieses
Jahres in dem Neuen Wiener Tageblatt von einem ungenannten, jedenfalls
höhern Offizier veröffentlichten Artikel, in denen die organisatorische Rück-
stündigkeit der gemeinsamen Armee offen kritisiert wurde, und die Erwiderung
oder Erweiterung, die daraufhin das Armecblatt in seiner Nummer 13
(vom 17. September) unter dem Titel "Die Entwicklung unsrer Wehrmacht"
kundgab. Es sei uus gestattet, auf den wesentlichsten Inhalt beider Aus¬
führungen hier kurz einzugehn.

Zunächst wird darin betont, daß unter den im Heerwesen vorhandnen
Übelständen, vor allem an dem einer ganz unzureichenden Standesstärke sowie
einer unzeitgemäßer Organisation, in erster Linie die Hauptwaffe des Heeres,
die Infanterie, zu leiden hat. Daß diese Infanterie "marsch- und schießtüchtig,
geschickt und beweglich ist", wird jeder Kenner des Heeres zugeben, ebenso
daß sie andrerseits nach mehreren Richtungen hin ganz besonders in dem
"Formalismus" steckt, der von jeher eine Schwäche des österreichisch-ungarischen
Heeres gewesen ist. Besonders lebhaft und berechtigt sind die Klagen über
die "rücksichtslosen Standesverstümmlungen", d.h. die großen Abgaben, die
alle Fußtruppen, am meisten aber die Infanterie, zu Diensttütigkeiten und
-Verrichtungen fortgesetzt macheu müssen, die außerhalb des Gefechtszweckes
der Truppe liegen und diese ungemein schädigen: kann doch die Friedens¬
kompagnie durchschnittlich kaum mehr als siebzig Mann für den Dienst ver¬
fügbar machen! Sehr ungünstig ist infolge dieses geringen Friedensstandes
auch das Verhältnis der aktiven zu den Reservemannschaften im Mobil¬
machungsfall: auf einen aktiven Soldaten kommen im österreichisch-ungarischen
Heere etwa vier Reservisten, während zum Beispiel im deutschen Heere das
Verhältnis der aktiven zu den Mannschaften der Reserve beinahe wie 3 : 5 ist.
Sehr bedenklich ist ferner in Österreich-Ungarn der stete Rückgang der Zahl
der militärisch Tauglichen unter der militärpflichtigen Jugend der Bevölkerung.
Obwohl die Bestimmungen über die Tauglichkeitserklärungen schon bis zur
äußersten Grenze heruntergegangen sind, und obwohl zahlreiche Rekruten außerdem


Österreich - Ungarn und die Wehrreform

nachdem durch die gefallne Wehrvorlage von 1903 die damals in Aussicht
genommne Kontingentserhöhung der Rekruten vereitelt worden war. Im
Gegenteil wuchs dieser Nachteil durch die einzelnen etatsmäßigen Neu¬
formationen noch, da man von dem schon an und für sich so schwachen Jn-
fanteriestande noch die Mannschaften für jene nehmen und beispielsweise für
den Etat von 1908 nicht weniger als 4824 Mann von der Infanterie ab¬
ziehen mußte, um die neuen Batterien, Maschinengewehrabteilungen und
einzelne technische Formationen aufstellen zu können: hatte doch mit Bezug
darauf der österreichische Landesverteidigungsministcr Georgi selbst das Wort
ausgesprochen, die Stände der Wehrmacht des Landes seien „auf den Null¬
punkt gekommen". (Pester Lloyd vom 22. Juli d. I.)

Einen Einblick in diese Verhältnisse und die Ansichten der Militärs in
unsrer Nachbarmonarchie gewähren die während des Juli und des August dieses
Jahres in dem Neuen Wiener Tageblatt von einem ungenannten, jedenfalls
höhern Offizier veröffentlichten Artikel, in denen die organisatorische Rück-
stündigkeit der gemeinsamen Armee offen kritisiert wurde, und die Erwiderung
oder Erweiterung, die daraufhin das Armecblatt in seiner Nummer 13
(vom 17. September) unter dem Titel „Die Entwicklung unsrer Wehrmacht"
kundgab. Es sei uus gestattet, auf den wesentlichsten Inhalt beider Aus¬
führungen hier kurz einzugehn.

Zunächst wird darin betont, daß unter den im Heerwesen vorhandnen
Übelständen, vor allem an dem einer ganz unzureichenden Standesstärke sowie
einer unzeitgemäßer Organisation, in erster Linie die Hauptwaffe des Heeres,
die Infanterie, zu leiden hat. Daß diese Infanterie „marsch- und schießtüchtig,
geschickt und beweglich ist", wird jeder Kenner des Heeres zugeben, ebenso
daß sie andrerseits nach mehreren Richtungen hin ganz besonders in dem
„Formalismus" steckt, der von jeher eine Schwäche des österreichisch-ungarischen
Heeres gewesen ist. Besonders lebhaft und berechtigt sind die Klagen über
die „rücksichtslosen Standesverstümmlungen", d.h. die großen Abgaben, die
alle Fußtruppen, am meisten aber die Infanterie, zu Diensttütigkeiten und
-Verrichtungen fortgesetzt macheu müssen, die außerhalb des Gefechtszweckes
der Truppe liegen und diese ungemein schädigen: kann doch die Friedens¬
kompagnie durchschnittlich kaum mehr als siebzig Mann für den Dienst ver¬
fügbar machen! Sehr ungünstig ist infolge dieses geringen Friedensstandes
auch das Verhältnis der aktiven zu den Reservemannschaften im Mobil¬
machungsfall: auf einen aktiven Soldaten kommen im österreichisch-ungarischen
Heere etwa vier Reservisten, während zum Beispiel im deutschen Heere das
Verhältnis der aktiven zu den Mannschaften der Reserve beinahe wie 3 : 5 ist.
Sehr bedenklich ist ferner in Österreich-Ungarn der stete Rückgang der Zahl
der militärisch Tauglichen unter der militärpflichtigen Jugend der Bevölkerung.
Obwohl die Bestimmungen über die Tauglichkeitserklärungen schon bis zur
äußersten Grenze heruntergegangen sind, und obwohl zahlreiche Rekruten außerdem


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[0269] Österreich - Ungarn und die Wehrreform nachdem durch die gefallne Wehrvorlage von 1903 die damals in Aussicht genommne Kontingentserhöhung der Rekruten vereitelt worden war. Im Gegenteil wuchs dieser Nachteil durch die einzelnen etatsmäßigen Neu¬ formationen noch, da man von dem schon an und für sich so schwachen Jn- fanteriestande noch die Mannschaften für jene nehmen und beispielsweise für den Etat von 1908 nicht weniger als 4824 Mann von der Infanterie ab¬ ziehen mußte, um die neuen Batterien, Maschinengewehrabteilungen und einzelne technische Formationen aufstellen zu können: hatte doch mit Bezug darauf der österreichische Landesverteidigungsministcr Georgi selbst das Wort ausgesprochen, die Stände der Wehrmacht des Landes seien „auf den Null¬ punkt gekommen". (Pester Lloyd vom 22. Juli d. I.) Einen Einblick in diese Verhältnisse und die Ansichten der Militärs in unsrer Nachbarmonarchie gewähren die während des Juli und des August dieses Jahres in dem Neuen Wiener Tageblatt von einem ungenannten, jedenfalls höhern Offizier veröffentlichten Artikel, in denen die organisatorische Rück- stündigkeit der gemeinsamen Armee offen kritisiert wurde, und die Erwiderung oder Erweiterung, die daraufhin das Armecblatt in seiner Nummer 13 (vom 17. September) unter dem Titel „Die Entwicklung unsrer Wehrmacht" kundgab. Es sei uus gestattet, auf den wesentlichsten Inhalt beider Aus¬ führungen hier kurz einzugehn. Zunächst wird darin betont, daß unter den im Heerwesen vorhandnen Übelständen, vor allem an dem einer ganz unzureichenden Standesstärke sowie einer unzeitgemäßer Organisation, in erster Linie die Hauptwaffe des Heeres, die Infanterie, zu leiden hat. Daß diese Infanterie „marsch- und schießtüchtig, geschickt und beweglich ist", wird jeder Kenner des Heeres zugeben, ebenso daß sie andrerseits nach mehreren Richtungen hin ganz besonders in dem „Formalismus" steckt, der von jeher eine Schwäche des österreichisch-ungarischen Heeres gewesen ist. Besonders lebhaft und berechtigt sind die Klagen über die „rücksichtslosen Standesverstümmlungen", d.h. die großen Abgaben, die alle Fußtruppen, am meisten aber die Infanterie, zu Diensttütigkeiten und -Verrichtungen fortgesetzt macheu müssen, die außerhalb des Gefechtszweckes der Truppe liegen und diese ungemein schädigen: kann doch die Friedens¬ kompagnie durchschnittlich kaum mehr als siebzig Mann für den Dienst ver¬ fügbar machen! Sehr ungünstig ist infolge dieses geringen Friedensstandes auch das Verhältnis der aktiven zu den Reservemannschaften im Mobil¬ machungsfall: auf einen aktiven Soldaten kommen im österreichisch-ungarischen Heere etwa vier Reservisten, während zum Beispiel im deutschen Heere das Verhältnis der aktiven zu den Mannschaften der Reserve beinahe wie 3 : 5 ist. Sehr bedenklich ist ferner in Österreich-Ungarn der stete Rückgang der Zahl der militärisch Tauglichen unter der militärpflichtigen Jugend der Bevölkerung. Obwohl die Bestimmungen über die Tauglichkeitserklärungen schon bis zur äußersten Grenze heruntergegangen sind, und obwohl zahlreiche Rekruten außerdem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/269>, abgerufen am 22.07.2024.