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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Die siete und Aussichten der Gartenstadtbewöguüg

Jahre 1850 war unter 38 Deutschen ein Großstädter, 1905 war es schon
jeder fünfte Mann. Noch stehn wir nicht am Ende dieser städtischen Ent¬
wicklung, aber es mehren sich die Stimmen derer, die in der fortschreitenden
Verödung des Landes und vor allem in dem wasserkopfartigen Anschwellen
der Städte eine große, ja die größte Gefahr für unser Volksleben sehen. In
der Tat sind mannigfache Übelstände, wie sie sich wohl schon früher im kleinen
zeigten, durch diese Entwicklung ins riesenhafte gesteigert worden. Erst jetzt
ist die Wohnungs- und Bodenfrage zu einem Problem geworden, für dessen
Lösung eine Reihe unsrer bedeutendsten Volkswirte, Politiker, Hygieniker und
Künstler ihre besten Kräfte einsetzt.

Während der letzten Jahre ist im schreiblustigen Deutschland eine umfang¬
reiche Literatur über die Wohnungsnot und die Mittel zu ihrer Beseitigung
entstanden, und auch eine Fülle praktischer Reformarbeit ist von Staat und
Gemeinde, von gemeinnützigen Einzelpersonen und von Vereinen und Genossen¬
schaften geleistet worden. Das neuste Glied in der Kette dieser Reform-
bestrebungen, auf die ich hier nicht näher eingehn kann, ist die Gartenstadt¬
bewegung.

Fast zu gleicher Zeit ist der Gartcustadtgedanke in Deutschland, England
und Rußland aufgetaucht. Innerhalb weniger Jahre sind dann in den
meisten Kulturländern Gesellschaften entstanden, die diesen Gedanken zu ver¬
breiten und zu verwirklichen wünschen. Sie haben in den weitesten Kreisen
der Bevölkerung so viele begeisterte Freunde gefunden, daß es sich wohl um
einen Gedanken handeln muß, der den Bedürfnissen unsrer Zeit Rechnung
trägt, und für den diese Zeit auch reif ist.

Da die Bezeichnung "Gartenstadt" heute schon zum Schlagwort geworden
ist, zu einem üxitustcm ornavs für jede beliebige Stadt oder Spekulations¬
gründung, in der ein paar Bäume und Blumen vorhanden sind, so muß ich
den Leser nachdrücklich darauf aufmerksam machen, daß dieses Wort eine scharf um-
rissene volkswirtschaftliche Bedeutung hat. Im Paragraph 1 ihrer Satzungen
gibt die Deutsche Gartenstadtgesellschnft die nachstehende Definition: "Die
Gartenstadt ist eine planmäßig gestaltete Siedlung auf wohlfeilein Gelände,
das im Obereigentum der Gemeinschaft erhalten wird derart, daß jede
Spekulation mit dem Grund und Boden dauernd unmöglich ist. Sie ist ein
neuer Stadttypus, der eine durchgreifende Wohuungsreform ermöglicht, für
Industrie und Handwerk vorteilhafte Produktionsbedingungen gewährleistet
und einen großen Teil seines Gebiets dauernd dem Garten- und Ackerbau
sichert."

Die grundlegenden Forderungen, die an eine "Gartenstadt" gestellt werden,
sind also: Anlage auf wohlfeilen Gelände, Obereigentnm der Gemeinschaft
und Ausschluß aller Spekulation. Die beiden zuletzt genannten Ziele können
auf verschiednen Wegen erreicht werden. Vor allem durch das neue Rechts-
institut des Erbbaurechts, das jetzt immer mehr von Gemeinden angewandt


Grenzboten IV 1908 82
Die siete und Aussichten der Gartenstadtbewöguüg

Jahre 1850 war unter 38 Deutschen ein Großstädter, 1905 war es schon
jeder fünfte Mann. Noch stehn wir nicht am Ende dieser städtischen Ent¬
wicklung, aber es mehren sich die Stimmen derer, die in der fortschreitenden
Verödung des Landes und vor allem in dem wasserkopfartigen Anschwellen
der Städte eine große, ja die größte Gefahr für unser Volksleben sehen. In
der Tat sind mannigfache Übelstände, wie sie sich wohl schon früher im kleinen
zeigten, durch diese Entwicklung ins riesenhafte gesteigert worden. Erst jetzt
ist die Wohnungs- und Bodenfrage zu einem Problem geworden, für dessen
Lösung eine Reihe unsrer bedeutendsten Volkswirte, Politiker, Hygieniker und
Künstler ihre besten Kräfte einsetzt.

Während der letzten Jahre ist im schreiblustigen Deutschland eine umfang¬
reiche Literatur über die Wohnungsnot und die Mittel zu ihrer Beseitigung
entstanden, und auch eine Fülle praktischer Reformarbeit ist von Staat und
Gemeinde, von gemeinnützigen Einzelpersonen und von Vereinen und Genossen¬
schaften geleistet worden. Das neuste Glied in der Kette dieser Reform-
bestrebungen, auf die ich hier nicht näher eingehn kann, ist die Gartenstadt¬
bewegung.

Fast zu gleicher Zeit ist der Gartcustadtgedanke in Deutschland, England
und Rußland aufgetaucht. Innerhalb weniger Jahre sind dann in den
meisten Kulturländern Gesellschaften entstanden, die diesen Gedanken zu ver¬
breiten und zu verwirklichen wünschen. Sie haben in den weitesten Kreisen
der Bevölkerung so viele begeisterte Freunde gefunden, daß es sich wohl um
einen Gedanken handeln muß, der den Bedürfnissen unsrer Zeit Rechnung
trägt, und für den diese Zeit auch reif ist.

Da die Bezeichnung „Gartenstadt" heute schon zum Schlagwort geworden
ist, zu einem üxitustcm ornavs für jede beliebige Stadt oder Spekulations¬
gründung, in der ein paar Bäume und Blumen vorhanden sind, so muß ich
den Leser nachdrücklich darauf aufmerksam machen, daß dieses Wort eine scharf um-
rissene volkswirtschaftliche Bedeutung hat. Im Paragraph 1 ihrer Satzungen
gibt die Deutsche Gartenstadtgesellschnft die nachstehende Definition: „Die
Gartenstadt ist eine planmäßig gestaltete Siedlung auf wohlfeilein Gelände,
das im Obereigentum der Gemeinschaft erhalten wird derart, daß jede
Spekulation mit dem Grund und Boden dauernd unmöglich ist. Sie ist ein
neuer Stadttypus, der eine durchgreifende Wohuungsreform ermöglicht, für
Industrie und Handwerk vorteilhafte Produktionsbedingungen gewährleistet
und einen großen Teil seines Gebiets dauernd dem Garten- und Ackerbau
sichert."

Die grundlegenden Forderungen, die an eine „Gartenstadt" gestellt werden,
sind also: Anlage auf wohlfeilen Gelände, Obereigentnm der Gemeinschaft
und Ausschluß aller Spekulation. Die beiden zuletzt genannten Ziele können
auf verschiednen Wegen erreicht werden. Vor allem durch das neue Rechts-
institut des Erbbaurechts, das jetzt immer mehr von Gemeinden angewandt


Grenzboten IV 1908 82
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/241>, abgerufen am 22.07.2024.