Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.Goethes letztes Lebensjahr Goethe machte hierin keine Ausnahme. Auch die drei ersten Bände unter¬ Zu derselben Zeit trug der Hochbejahrte aber noch eine ungleich schwerere Goethes letztes Lebensjahr Goethe machte hierin keine Ausnahme. Auch die drei ersten Bände unter¬ Zu derselben Zeit trug der Hochbejahrte aber noch eine ungleich schwerere <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0185" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/310596"/> <fw type="header" place="top"> Goethes letztes Lebensjahr</fw><lb/> <p xml:id="ID_929" prev="#ID_928"> Goethe machte hierin keine Ausnahme. Auch die drei ersten Bände unter¬<lb/> brechen ja öfters den Gang der Erzählung durch allgemeine Kulturbilder und<lb/> Auslassungen über allgemeine Fragen, aber die Einlagen dieser Art, die sie<lb/> bieten, sind zumeist schönstens abgerundet und geschlossen. Dagegen machen<lb/> manche im vierten Bande den Eindruck von langausgesponnenen, mehr oder<lb/> weniger willkürlichen Einschiebseln, die trotz der eingestreuten Goldkörner tiefer<lb/> Lebensweisheit gegen einen Teil der erzählenden Partien stark abfallen. Stil<lb/> und Aufbau mancher, besonders der reflektierenden Abschnitte erinnern sehr an<lb/> die Wanderjahre, inhaltlich an gewisse Gespräche mit Eckermann aus den<lb/> Jahren 1830 und 1831, so zum Beispiel die Digression über „das Dämonische"<lb/> in Buch XX an die Unterredungen vom 28. Februar, 2., 8. und 30. Mürz 1831.<lb/> Die Freiheit, die die Romantiker jener Zeit dem Genie einräumten, die<lb/> des Schriftstellers Seele gerade bewegenden Gedanken unbekümmert um Plan<lb/> und Stilcharakter des Kunstwerks an beliebiger Stelle einzuweben, hat der<lb/> Greis Goethe jedenfalls reichlich für sich in Anspruch genommen.</p><lb/> <p xml:id="ID_930" next="#ID_931"> Zu derselben Zeit trug der Hochbejahrte aber noch eine ungleich schwerere<lb/> Arbeitsbürde. Die Ausgabe letzter Hand hatte im zwölften Bande vom zweiten<lb/> Teil des Faust nur einen beträchtlichen Teil des ersten Aktes und außerdem<lb/> im vierten Bande als „klassisch romantische Phantasmagorie" die Helena ge¬<lb/> bracht. Im Pulte des Dichters hatte aber um 1827 und 1828 noch viel mehr<lb/> gelegen, insbesondre seit mehreren Jahren schon ziemlich abgeschlossen Fausts<lb/> Himmelfahrt. Im Mai 1827 hat bekanntlich der achtundsiebzigjährige Dichter<lb/> den Heldenentschluß gefaßt, dieses Riesenwerk allmählich auszudichten. Ein<lb/> ungeheuerliches Unterfangen für einen so hoch Betagten; man wird an das<lb/> Wort der Mento (Faust II, 2, 5) gemahnt: „den lieb ich, der Unmögliches<lb/> begehrt". Es ist hier nicht der Ort, auszuführen, mit welcher Zähigkeit<lb/> Goethe seit dem 18. Mai 1827 den „Hauptzweck", das „Hauptgeschäft" seines<lb/> Greisenalters im Auge behalten und gefördert hat. Nach unsäglichem, heißem<lb/> Bemühen war es gelungen, bis zum Ende 1830 den ersten und zweiten Akt<lb/> im wesentlichen fertigzustellen (an Zelter, den 4. Januar 1831); der Haupt¬<lb/> teil vom fünften Akt war damals seit längerer Zeit schon abgeschlossen, seit<lb/> dem Juni 1830 (an August von Goethe, den 25. Juni) auch im großen<lb/> ganzen die klassische Walpurgisnacht. Am 20. Februar 1831 hatte John eine<lb/> mehrfach noch lückenhafte Reinschrift der drei ersten Akte hergestellt. Vom<lb/> April bis Juni wurden die Szenen mit Philemon und Baucis (Tagebuch<lb/> vom 9. April) und mit dem Hüttenbrand (Gespräch mit Eckermann vom<lb/> 6. Juni) bewältigt, im Juli bei erfreulicher Aufgelegtheit zu dichterischer<lb/> Arbeit der noch ganz fehlende vierte Akt hinzugefügt und die „Verbindung<lb/> Mit der Hauptpartie" (Tagebuch vom 12. Juli) hergestellt. Am 22. Juli ver¬<lb/> zeichnet der Dichter mit Genugtuung den Abschluß des Hauptgeschäfts; im<lb/> September wird die Reinschrift hergestellt und dann versiegelt (an Boisseree,<lb/> den 7. September und 24. November). Vom 8. bis 29. Januar 1832 wird</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0185]
Goethes letztes Lebensjahr
Goethe machte hierin keine Ausnahme. Auch die drei ersten Bände unter¬
brechen ja öfters den Gang der Erzählung durch allgemeine Kulturbilder und
Auslassungen über allgemeine Fragen, aber die Einlagen dieser Art, die sie
bieten, sind zumeist schönstens abgerundet und geschlossen. Dagegen machen
manche im vierten Bande den Eindruck von langausgesponnenen, mehr oder
weniger willkürlichen Einschiebseln, die trotz der eingestreuten Goldkörner tiefer
Lebensweisheit gegen einen Teil der erzählenden Partien stark abfallen. Stil
und Aufbau mancher, besonders der reflektierenden Abschnitte erinnern sehr an
die Wanderjahre, inhaltlich an gewisse Gespräche mit Eckermann aus den
Jahren 1830 und 1831, so zum Beispiel die Digression über „das Dämonische"
in Buch XX an die Unterredungen vom 28. Februar, 2., 8. und 30. Mürz 1831.
Die Freiheit, die die Romantiker jener Zeit dem Genie einräumten, die
des Schriftstellers Seele gerade bewegenden Gedanken unbekümmert um Plan
und Stilcharakter des Kunstwerks an beliebiger Stelle einzuweben, hat der
Greis Goethe jedenfalls reichlich für sich in Anspruch genommen.
Zu derselben Zeit trug der Hochbejahrte aber noch eine ungleich schwerere
Arbeitsbürde. Die Ausgabe letzter Hand hatte im zwölften Bande vom zweiten
Teil des Faust nur einen beträchtlichen Teil des ersten Aktes und außerdem
im vierten Bande als „klassisch romantische Phantasmagorie" die Helena ge¬
bracht. Im Pulte des Dichters hatte aber um 1827 und 1828 noch viel mehr
gelegen, insbesondre seit mehreren Jahren schon ziemlich abgeschlossen Fausts
Himmelfahrt. Im Mai 1827 hat bekanntlich der achtundsiebzigjährige Dichter
den Heldenentschluß gefaßt, dieses Riesenwerk allmählich auszudichten. Ein
ungeheuerliches Unterfangen für einen so hoch Betagten; man wird an das
Wort der Mento (Faust II, 2, 5) gemahnt: „den lieb ich, der Unmögliches
begehrt". Es ist hier nicht der Ort, auszuführen, mit welcher Zähigkeit
Goethe seit dem 18. Mai 1827 den „Hauptzweck", das „Hauptgeschäft" seines
Greisenalters im Auge behalten und gefördert hat. Nach unsäglichem, heißem
Bemühen war es gelungen, bis zum Ende 1830 den ersten und zweiten Akt
im wesentlichen fertigzustellen (an Zelter, den 4. Januar 1831); der Haupt¬
teil vom fünften Akt war damals seit längerer Zeit schon abgeschlossen, seit
dem Juni 1830 (an August von Goethe, den 25. Juni) auch im großen
ganzen die klassische Walpurgisnacht. Am 20. Februar 1831 hatte John eine
mehrfach noch lückenhafte Reinschrift der drei ersten Akte hergestellt. Vom
April bis Juni wurden die Szenen mit Philemon und Baucis (Tagebuch
vom 9. April) und mit dem Hüttenbrand (Gespräch mit Eckermann vom
6. Juni) bewältigt, im Juli bei erfreulicher Aufgelegtheit zu dichterischer
Arbeit der noch ganz fehlende vierte Akt hinzugefügt und die „Verbindung
Mit der Hauptpartie" (Tagebuch vom 12. Juli) hergestellt. Am 22. Juli ver¬
zeichnet der Dichter mit Genugtuung den Abschluß des Hauptgeschäfts; im
September wird die Reinschrift hergestellt und dann versiegelt (an Boisseree,
den 7. September und 24. November). Vom 8. bis 29. Januar 1832 wird
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