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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Landgewinnung in der Nordsee

großem Umfange zugenommen, sodaß sie imstande gewesen ist, nicht nur den
gesteigerten Bevölkerungszuwachs aufzunehmen, sondern auch noch der Landwirt¬
schaft Arbeitskräfte zu entziehen. Die Sache liegt aber doch heute schon so, daß
sich der dermalige Export in seinem Umfange wohl erhalten, vielleicht auch noch
etwas erweitern lassen wird, aber doch niemals in dem Maße, als die Industrie
selbst erweiterungsfähig ist. Ringsum schließt man sich durch Zölle ab, wo
nur einigermaßen europäische Kultur eingewandert ist, da wirft man sich auf
die eigne Warenerzeugung und verschließt fremden Produkten den Eintritt.
Darum wird auch die Landflucht in Deutschland ein Ende nehmen, der Über¬
schuß der Bevölkerung wird sich dann, soweit ihn die Industrie nicht gebrauchen
kann, zur ländlichen Arbeit wieder bequemen oder auswandern müssen. In
Rücksicht auf diese Entwicklungsmöglichkeit der Zukunft denkt man auch schon
an große deutsche Ackerbaukolonien zum Beispiel in Kleinasien.

Die Frage der Landgewinnung steht unter diesen Umständen dauernd im
Vordergrunde, und es ist jede Form derselben von Wichtigkeit. Landgewinnung
durch neue Kolonien oder sonst auf bisher außerdeutschen Gebiete beruht auf
Möglichkeiten der Zukunft, die sich jeder exakten Erörterung entziehen. Vor¬
derhand muß das Schwergewicht auf der Bodenerschließung im eignen Lande
beruhen. Moorkulturen, Aufschließung von Heideboden und andern Ödländereien
sind schon in großem Umfange mit dem besten Erfolg in Angriff genommen worden,
hier soll die Aufmerksamkeit auf die Landgewinnung an der deutschen Nordsee¬
küste gelenkt werden, ein Werk, das zähe Ausdauer und Entschlossenheit
fordert und längere Zeiträume beansprucht, aber doch schon beträchtliche Ergeb¬
nisse erreicht hat. Die Nordsee, das "deutsche Meer", führt unsre in raschen
Zügen entwickelte Handelsflotte in die großen Weltmeere und trägt unsre noch
junge Kriegsmacht zur See; sie hat sich auch schon als bedeutsamer Schutz
gegen feindliche Angriffe erwiesen, aber sie ist nicht in allen Fällen ein Freund
des deutschen Landes. Schon in grauer Vorzeit haben ihre Springfluten den
vordem von Holland bis zur schleswigischen Küste geschlossenen, nur durch die
Mündungen der Ems, Weser und Elbe unterbrochner Dünenwall weggerissen
und durch Ablösung eines breiten Streifens des frühern Festlands die ostfriesische
Inselkette geschaffen, die noch als "goldner Reif" das zurückgetretne Land vor
dem unmittelbaren Andrang der Wogen schützt. Zu Plinius Zeit zählte man
noch fünfundzwanzig dieser Inseln, heute sind sie auf weniger als die Hälfte zu¬
sammengeschmolzen. Unausgesetzt nagt die Welle an dem an mehrern Stellen
durch allmählich vertiefte und verbreiterte Seegaten Wattenströme) unterbrochner
Jnselwall, und es kann die Zeit kommen, wo die dagegen errichteten Seebauten
nicht mehr hinreichen, die noch bestehenden Inseln vor dem Untergange zu retten.
Am geführdetsten ist die Insel Baltrum, aber auch von dem Seegen zwischen
Juist und dem nördlich vorgeschobnen Norderney läßt sich nur bedenkliches sagen.
Seit länger als einem Jahrtausend schon war wohl das Land gegen Sturm¬
fluten durch Deiche geschützt, seit Jahrhunderten sind diese Erdwälle erhöht und


Grenzboten IV 1908 16
Landgewinnung in der Nordsee

großem Umfange zugenommen, sodaß sie imstande gewesen ist, nicht nur den
gesteigerten Bevölkerungszuwachs aufzunehmen, sondern auch noch der Landwirt¬
schaft Arbeitskräfte zu entziehen. Die Sache liegt aber doch heute schon so, daß
sich der dermalige Export in seinem Umfange wohl erhalten, vielleicht auch noch
etwas erweitern lassen wird, aber doch niemals in dem Maße, als die Industrie
selbst erweiterungsfähig ist. Ringsum schließt man sich durch Zölle ab, wo
nur einigermaßen europäische Kultur eingewandert ist, da wirft man sich auf
die eigne Warenerzeugung und verschließt fremden Produkten den Eintritt.
Darum wird auch die Landflucht in Deutschland ein Ende nehmen, der Über¬
schuß der Bevölkerung wird sich dann, soweit ihn die Industrie nicht gebrauchen
kann, zur ländlichen Arbeit wieder bequemen oder auswandern müssen. In
Rücksicht auf diese Entwicklungsmöglichkeit der Zukunft denkt man auch schon
an große deutsche Ackerbaukolonien zum Beispiel in Kleinasien.

Die Frage der Landgewinnung steht unter diesen Umständen dauernd im
Vordergrunde, und es ist jede Form derselben von Wichtigkeit. Landgewinnung
durch neue Kolonien oder sonst auf bisher außerdeutschen Gebiete beruht auf
Möglichkeiten der Zukunft, die sich jeder exakten Erörterung entziehen. Vor¬
derhand muß das Schwergewicht auf der Bodenerschließung im eignen Lande
beruhen. Moorkulturen, Aufschließung von Heideboden und andern Ödländereien
sind schon in großem Umfange mit dem besten Erfolg in Angriff genommen worden,
hier soll die Aufmerksamkeit auf die Landgewinnung an der deutschen Nordsee¬
küste gelenkt werden, ein Werk, das zähe Ausdauer und Entschlossenheit
fordert und längere Zeiträume beansprucht, aber doch schon beträchtliche Ergeb¬
nisse erreicht hat. Die Nordsee, das „deutsche Meer", führt unsre in raschen
Zügen entwickelte Handelsflotte in die großen Weltmeere und trägt unsre noch
junge Kriegsmacht zur See; sie hat sich auch schon als bedeutsamer Schutz
gegen feindliche Angriffe erwiesen, aber sie ist nicht in allen Fällen ein Freund
des deutschen Landes. Schon in grauer Vorzeit haben ihre Springfluten den
vordem von Holland bis zur schleswigischen Küste geschlossenen, nur durch die
Mündungen der Ems, Weser und Elbe unterbrochner Dünenwall weggerissen
und durch Ablösung eines breiten Streifens des frühern Festlands die ostfriesische
Inselkette geschaffen, die noch als „goldner Reif" das zurückgetretne Land vor
dem unmittelbaren Andrang der Wogen schützt. Zu Plinius Zeit zählte man
noch fünfundzwanzig dieser Inseln, heute sind sie auf weniger als die Hälfte zu¬
sammengeschmolzen. Unausgesetzt nagt die Welle an dem an mehrern Stellen
durch allmählich vertiefte und verbreiterte Seegaten Wattenströme) unterbrochner
Jnselwall, und es kann die Zeit kommen, wo die dagegen errichteten Seebauten
nicht mehr hinreichen, die noch bestehenden Inseln vor dem Untergange zu retten.
Am geführdetsten ist die Insel Baltrum, aber auch von dem Seegen zwischen
Juist und dem nördlich vorgeschobnen Norderney läßt sich nur bedenkliches sagen.
Seit länger als einem Jahrtausend schon war wohl das Land gegen Sturm¬
fluten durch Deiche geschützt, seit Jahrhunderten sind diese Erdwälle erhöht und


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[0121] Landgewinnung in der Nordsee großem Umfange zugenommen, sodaß sie imstande gewesen ist, nicht nur den gesteigerten Bevölkerungszuwachs aufzunehmen, sondern auch noch der Landwirt¬ schaft Arbeitskräfte zu entziehen. Die Sache liegt aber doch heute schon so, daß sich der dermalige Export in seinem Umfange wohl erhalten, vielleicht auch noch etwas erweitern lassen wird, aber doch niemals in dem Maße, als die Industrie selbst erweiterungsfähig ist. Ringsum schließt man sich durch Zölle ab, wo nur einigermaßen europäische Kultur eingewandert ist, da wirft man sich auf die eigne Warenerzeugung und verschließt fremden Produkten den Eintritt. Darum wird auch die Landflucht in Deutschland ein Ende nehmen, der Über¬ schuß der Bevölkerung wird sich dann, soweit ihn die Industrie nicht gebrauchen kann, zur ländlichen Arbeit wieder bequemen oder auswandern müssen. In Rücksicht auf diese Entwicklungsmöglichkeit der Zukunft denkt man auch schon an große deutsche Ackerbaukolonien zum Beispiel in Kleinasien. Die Frage der Landgewinnung steht unter diesen Umständen dauernd im Vordergrunde, und es ist jede Form derselben von Wichtigkeit. Landgewinnung durch neue Kolonien oder sonst auf bisher außerdeutschen Gebiete beruht auf Möglichkeiten der Zukunft, die sich jeder exakten Erörterung entziehen. Vor¬ derhand muß das Schwergewicht auf der Bodenerschließung im eignen Lande beruhen. Moorkulturen, Aufschließung von Heideboden und andern Ödländereien sind schon in großem Umfange mit dem besten Erfolg in Angriff genommen worden, hier soll die Aufmerksamkeit auf die Landgewinnung an der deutschen Nordsee¬ küste gelenkt werden, ein Werk, das zähe Ausdauer und Entschlossenheit fordert und längere Zeiträume beansprucht, aber doch schon beträchtliche Ergeb¬ nisse erreicht hat. Die Nordsee, das „deutsche Meer", führt unsre in raschen Zügen entwickelte Handelsflotte in die großen Weltmeere und trägt unsre noch junge Kriegsmacht zur See; sie hat sich auch schon als bedeutsamer Schutz gegen feindliche Angriffe erwiesen, aber sie ist nicht in allen Fällen ein Freund des deutschen Landes. Schon in grauer Vorzeit haben ihre Springfluten den vordem von Holland bis zur schleswigischen Küste geschlossenen, nur durch die Mündungen der Ems, Weser und Elbe unterbrochner Dünenwall weggerissen und durch Ablösung eines breiten Streifens des frühern Festlands die ostfriesische Inselkette geschaffen, die noch als „goldner Reif" das zurückgetretne Land vor dem unmittelbaren Andrang der Wogen schützt. Zu Plinius Zeit zählte man noch fünfundzwanzig dieser Inseln, heute sind sie auf weniger als die Hälfte zu¬ sammengeschmolzen. Unausgesetzt nagt die Welle an dem an mehrern Stellen durch allmählich vertiefte und verbreiterte Seegaten Wattenströme) unterbrochner Jnselwall, und es kann die Zeit kommen, wo die dagegen errichteten Seebauten nicht mehr hinreichen, die noch bestehenden Inseln vor dem Untergange zu retten. Am geführdetsten ist die Insel Baltrum, aber auch von dem Seegen zwischen Juist und dem nördlich vorgeschobnen Norderney läßt sich nur bedenkliches sagen. Seit länger als einem Jahrtausend schon war wohl das Land gegen Sturm¬ fluten durch Deiche geschützt, seit Jahrhunderten sind diese Erdwälle erhöht und Grenzboten IV 1908 16

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/121>, abgerufen am 24.08.2024.