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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Nationale politische Erziehung

geistigen und sittliche" Entwicklung eines Volkes. Erreichen werden wir
diese Teilnahme an den Angelegenheiten des Staates aber nur durch die
Schule.

Bis zur Einführung der obligatorischen Fortbildungsschule, die in einigen
süddeutschen Staaten schon besteht, wird in dem größten deutschen Bundes¬
staate wohl noch ein weiter Weg zurückzulegen sein, da hier, besonders in den
zurückgebliebnen östlichen Landesteilen, sehr viel größere Schwierigkeiten zu
überwinden sind. Aber viel wäre schon gewonnen, wenn in allen vorhandnen
Schulen, von der Volksschule beginnend, ein sich mit dem wachsenden Ver¬
ständnis der Schüler erweiternder staatsbürgerlicher Unterricht eingeführt würde,
wenn also zunächst nur der Grundsatz anerkannt und ihm Geltung verschafft
würde, soweit es die Verhältnisse zurzeit gestatten. Ob außerdem nicht auch
die Dienstzeit im Heere ausgenutzt werden könnte, Verständnis für die Auf¬
gaben des Staates und die Pflichten des Staatsbürgers zu wecken, das ist
sicher ernster Erwägung wert. Wir treiben seit Jahren Sozialpolitik, und
aus der letzten Thronrede wissen wir, daß die sozialpolitische Arbeit fortgesetzt
werden soll zum Wohle des Volkes und zur Genugtuung aller, die es gut
mit ihm meinen. Wir sorgen damit für die, die mühselig und beladen sind,
für die Kranken und Schwachen. Unsre Zukunft aber beruht nicht auf den
Kranken, sondern auf denen, die gesund sind, und diese gesund zu erhalten,
sie zu fördern in dem Sinne, wie es in diesem Aufsatz empfohlen worden ist,
ihre Einsicht in den Zusammenhang der Interessen aller Untertanen unter¬
einander und mit denen des Vaterlandes zu heben, das haben wir nicht in
dem Maße getan, als es unsre wirtschaftliche und politische Entwicklung not¬
wendig gemacht hätte. Wir haben Sozialpolitik getrieben, aber wir haben
uns nicht einmal bemüht, durch die Schule zur Kenntnis des Volkes zu
bringen, was durch diese Politik für das Volk geleistet wird, beklagen uns
aber zugleich über Undank.

In einem Lande mit allgemeinem, gleichem Wahlrecht, in dem die Massen
den Ausschlag geben, muß man sich auch in andrer Weise an die Massen
wenden und sie zu erziehen suchen als in einem Lande, in dem man das
Wahlrecht so vorsichtig gestaltet hat wie in England. Berücksichtigt man
ferner den eingebornen politischen Instinkt des Engländers, das Verständnis
für die Angelegenheiten des Staates, das ihm eine vielhundertjährige, an
großen Ereignissen reiche Geschichte verschafft hat, so wird die Notwendigkeit
Planmäßiger nationaler Erziehung für Deutschland noch klarer. Wir dürfen
nicht abwarten, ob im Verlaufe der Geschichte der Deutsche durch Erfahrung
zu einem ebenso einsichtigen Staatsbürger wird wie der Engländer. Wir
haben keine Zeit dazu. Wie wir in wenigen Jahren in drei Kriegen nach¬
geholt haben, was andern glücklichern Völkern längst zuteil geworden war, so
müssen wir jetzt, nachdem das Deutsche Reich gegründet und innerlich gefestigt
worden ist, auch das nachholen, was uns nottut, wenn wir zu einem gesunden


Nationale politische Erziehung

geistigen und sittliche» Entwicklung eines Volkes. Erreichen werden wir
diese Teilnahme an den Angelegenheiten des Staates aber nur durch die
Schule.

Bis zur Einführung der obligatorischen Fortbildungsschule, die in einigen
süddeutschen Staaten schon besteht, wird in dem größten deutschen Bundes¬
staate wohl noch ein weiter Weg zurückzulegen sein, da hier, besonders in den
zurückgebliebnen östlichen Landesteilen, sehr viel größere Schwierigkeiten zu
überwinden sind. Aber viel wäre schon gewonnen, wenn in allen vorhandnen
Schulen, von der Volksschule beginnend, ein sich mit dem wachsenden Ver¬
ständnis der Schüler erweiternder staatsbürgerlicher Unterricht eingeführt würde,
wenn also zunächst nur der Grundsatz anerkannt und ihm Geltung verschafft
würde, soweit es die Verhältnisse zurzeit gestatten. Ob außerdem nicht auch
die Dienstzeit im Heere ausgenutzt werden könnte, Verständnis für die Auf¬
gaben des Staates und die Pflichten des Staatsbürgers zu wecken, das ist
sicher ernster Erwägung wert. Wir treiben seit Jahren Sozialpolitik, und
aus der letzten Thronrede wissen wir, daß die sozialpolitische Arbeit fortgesetzt
werden soll zum Wohle des Volkes und zur Genugtuung aller, die es gut
mit ihm meinen. Wir sorgen damit für die, die mühselig und beladen sind,
für die Kranken und Schwachen. Unsre Zukunft aber beruht nicht auf den
Kranken, sondern auf denen, die gesund sind, und diese gesund zu erhalten,
sie zu fördern in dem Sinne, wie es in diesem Aufsatz empfohlen worden ist,
ihre Einsicht in den Zusammenhang der Interessen aller Untertanen unter¬
einander und mit denen des Vaterlandes zu heben, das haben wir nicht in
dem Maße getan, als es unsre wirtschaftliche und politische Entwicklung not¬
wendig gemacht hätte. Wir haben Sozialpolitik getrieben, aber wir haben
uns nicht einmal bemüht, durch die Schule zur Kenntnis des Volkes zu
bringen, was durch diese Politik für das Volk geleistet wird, beklagen uns
aber zugleich über Undank.

In einem Lande mit allgemeinem, gleichem Wahlrecht, in dem die Massen
den Ausschlag geben, muß man sich auch in andrer Weise an die Massen
wenden und sie zu erziehen suchen als in einem Lande, in dem man das
Wahlrecht so vorsichtig gestaltet hat wie in England. Berücksichtigt man
ferner den eingebornen politischen Instinkt des Engländers, das Verständnis
für die Angelegenheiten des Staates, das ihm eine vielhundertjährige, an
großen Ereignissen reiche Geschichte verschafft hat, so wird die Notwendigkeit
Planmäßiger nationaler Erziehung für Deutschland noch klarer. Wir dürfen
nicht abwarten, ob im Verlaufe der Geschichte der Deutsche durch Erfahrung
zu einem ebenso einsichtigen Staatsbürger wird wie der Engländer. Wir
haben keine Zeit dazu. Wie wir in wenigen Jahren in drei Kriegen nach¬
geholt haben, was andern glücklichern Völkern längst zuteil geworden war, so
müssen wir jetzt, nachdem das Deutsche Reich gegründet und innerlich gefestigt
worden ist, auch das nachholen, was uns nottut, wenn wir zu einem gesunden


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[0085] Nationale politische Erziehung geistigen und sittliche» Entwicklung eines Volkes. Erreichen werden wir diese Teilnahme an den Angelegenheiten des Staates aber nur durch die Schule. Bis zur Einführung der obligatorischen Fortbildungsschule, die in einigen süddeutschen Staaten schon besteht, wird in dem größten deutschen Bundes¬ staate wohl noch ein weiter Weg zurückzulegen sein, da hier, besonders in den zurückgebliebnen östlichen Landesteilen, sehr viel größere Schwierigkeiten zu überwinden sind. Aber viel wäre schon gewonnen, wenn in allen vorhandnen Schulen, von der Volksschule beginnend, ein sich mit dem wachsenden Ver¬ ständnis der Schüler erweiternder staatsbürgerlicher Unterricht eingeführt würde, wenn also zunächst nur der Grundsatz anerkannt und ihm Geltung verschafft würde, soweit es die Verhältnisse zurzeit gestatten. Ob außerdem nicht auch die Dienstzeit im Heere ausgenutzt werden könnte, Verständnis für die Auf¬ gaben des Staates und die Pflichten des Staatsbürgers zu wecken, das ist sicher ernster Erwägung wert. Wir treiben seit Jahren Sozialpolitik, und aus der letzten Thronrede wissen wir, daß die sozialpolitische Arbeit fortgesetzt werden soll zum Wohle des Volkes und zur Genugtuung aller, die es gut mit ihm meinen. Wir sorgen damit für die, die mühselig und beladen sind, für die Kranken und Schwachen. Unsre Zukunft aber beruht nicht auf den Kranken, sondern auf denen, die gesund sind, und diese gesund zu erhalten, sie zu fördern in dem Sinne, wie es in diesem Aufsatz empfohlen worden ist, ihre Einsicht in den Zusammenhang der Interessen aller Untertanen unter¬ einander und mit denen des Vaterlandes zu heben, das haben wir nicht in dem Maße getan, als es unsre wirtschaftliche und politische Entwicklung not¬ wendig gemacht hätte. Wir haben Sozialpolitik getrieben, aber wir haben uns nicht einmal bemüht, durch die Schule zur Kenntnis des Volkes zu bringen, was durch diese Politik für das Volk geleistet wird, beklagen uns aber zugleich über Undank. In einem Lande mit allgemeinem, gleichem Wahlrecht, in dem die Massen den Ausschlag geben, muß man sich auch in andrer Weise an die Massen wenden und sie zu erziehen suchen als in einem Lande, in dem man das Wahlrecht so vorsichtig gestaltet hat wie in England. Berücksichtigt man ferner den eingebornen politischen Instinkt des Engländers, das Verständnis für die Angelegenheiten des Staates, das ihm eine vielhundertjährige, an großen Ereignissen reiche Geschichte verschafft hat, so wird die Notwendigkeit Planmäßiger nationaler Erziehung für Deutschland noch klarer. Wir dürfen nicht abwarten, ob im Verlaufe der Geschichte der Deutsche durch Erfahrung zu einem ebenso einsichtigen Staatsbürger wird wie der Engländer. Wir haben keine Zeit dazu. Wie wir in wenigen Jahren in drei Kriegen nach¬ geholt haben, was andern glücklichern Völkern längst zuteil geworden war, so müssen wir jetzt, nachdem das Deutsche Reich gegründet und innerlich gefestigt worden ist, auch das nachholen, was uns nottut, wenn wir zu einem gesunden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/85>, abgerufen am 25.08.2024.