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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Nationale politische Erziehung

Rechnen, besonders aber auch in Heimat- und Verfassungskunde. Es werden
fünf Noten erteilt, und die Durchschnittsnoten werden veröffentlicht, damit die
Kantone, die in ihren Leistungen zurückgeblieben sind, um so größere An¬
strengungen machen, die Scharte auszuwetzen.*) Auf diese Weise sucht man im
Auslande politische Bildung zu verbreiten, bei uns geschieht nichts. Es wäre
wahrlich an der Zeit, mindestens einmal vorurteilslos und eingehend zu prüfen,
ob es nicht angebracht ist, das Beispiel des Auslandes nachzuahmen. Wir
haben im Sturmschritt nachgeholt, was Jahrhunderte hindurch versäumt worden
war, und haben die politische Einheit errungen; wir haben eine wirtschaftliche
Entwicklung gehabt, die nach dem von Lamprecht geprägten Worte eine völlige
räumliche und soziale Umschichtung unsers Volkes zur Folge hatte; wir haben
diesem noch nicht zu einer Einheit zusammengewachsnen, nicht gleich den Eng¬
ländern in jahrhundertlangen Kämpfen politisch geschulten Volke Rechte ge¬
geben und immer wieder Rechte: die Gewerbefreiheit, die Freizügigkeit, die
Preßfreiheit, das Versammlungsrecht und besonders das demokratischste aller
Wahlrechte, das allgemeine, gleiche und geheime Wahlrecht, und wir haben
die Ausübung dieses Wahlrechts noch durch besondre Schutzmaßregeln in einer
Weise gesichert, über deren Berechtigung sich Wohl streiten läßt. Die
Folgerungen aus diesem Vorgehen haben wir aber nicht gezogen. Wir haben
das Volk sich selbst überlassen und denen, die diese demokratischen Rechte am
besten und rücksichtslosesten auszunutzen verstehen, den Hetzern und Verführern,
die sich kein Gewissen daraus machen, das große Kind, Volk genannt, mit
Versprechungen einzufangen, die sie niemals einlösen können. Wir haben uns
bemüht, Bildung und Fachkenntnisse zu verbreiten, und obgleich wir gesehen
haben, daß das nicht genügt, die Mafien reif zu machen für den Genuß der
ihnen verliehenen Rechte, haben wir bisher nicht einmal den Versuch gemacht,
sie auch politisch zu bilden und zu erziehen.

So gering ist das Interesse und das Verständnis für die Frage einer
nationalen, politischen Erziehung, daß es in unsrer schreiblustigen Zeit kaum
eine Literatur über diesen Gegenstand gibt. Einige wenige haben ihre Stimme
erhoben, ohne daß es ihnen bisher gelungen wäre, sich Gehör zu verschaffen,
und wohl das Beste, was über die Notwendigkeit einer staatsbürgerlichen Er¬
ziehung geschrieben worden ist, hat der Münchner Stadtschulrat Dr. Kerschen-
steiner gesagt in seiner Schrift: staatsbürgerliche Erziehung der deutschen
Jugend, die von der Königlichen Akademie gemeinnütziger Wissenschaften in
Erfurt mit einem Preise ausgezeichnet worden ist. Diese vortreffliche Schrift
sei hier nachdrücklich empfohlen. In ihr stellt ein weitschauender Schulmann
ein Schulprogramm auf, nach dessen Verwirklichung wir mit Recht sagen
könnten, daß wir in der Schulpolitik an der Spitze marschieren. Kerschensteiner



*) Staatsstreich oder Reformen. Politisches Reformbuch sür alle Deutschen von einem
Auslanddeutschen.
Nationale politische Erziehung

Rechnen, besonders aber auch in Heimat- und Verfassungskunde. Es werden
fünf Noten erteilt, und die Durchschnittsnoten werden veröffentlicht, damit die
Kantone, die in ihren Leistungen zurückgeblieben sind, um so größere An¬
strengungen machen, die Scharte auszuwetzen.*) Auf diese Weise sucht man im
Auslande politische Bildung zu verbreiten, bei uns geschieht nichts. Es wäre
wahrlich an der Zeit, mindestens einmal vorurteilslos und eingehend zu prüfen,
ob es nicht angebracht ist, das Beispiel des Auslandes nachzuahmen. Wir
haben im Sturmschritt nachgeholt, was Jahrhunderte hindurch versäumt worden
war, und haben die politische Einheit errungen; wir haben eine wirtschaftliche
Entwicklung gehabt, die nach dem von Lamprecht geprägten Worte eine völlige
räumliche und soziale Umschichtung unsers Volkes zur Folge hatte; wir haben
diesem noch nicht zu einer Einheit zusammengewachsnen, nicht gleich den Eng¬
ländern in jahrhundertlangen Kämpfen politisch geschulten Volke Rechte ge¬
geben und immer wieder Rechte: die Gewerbefreiheit, die Freizügigkeit, die
Preßfreiheit, das Versammlungsrecht und besonders das demokratischste aller
Wahlrechte, das allgemeine, gleiche und geheime Wahlrecht, und wir haben
die Ausübung dieses Wahlrechts noch durch besondre Schutzmaßregeln in einer
Weise gesichert, über deren Berechtigung sich Wohl streiten läßt. Die
Folgerungen aus diesem Vorgehen haben wir aber nicht gezogen. Wir haben
das Volk sich selbst überlassen und denen, die diese demokratischen Rechte am
besten und rücksichtslosesten auszunutzen verstehen, den Hetzern und Verführern,
die sich kein Gewissen daraus machen, das große Kind, Volk genannt, mit
Versprechungen einzufangen, die sie niemals einlösen können. Wir haben uns
bemüht, Bildung und Fachkenntnisse zu verbreiten, und obgleich wir gesehen
haben, daß das nicht genügt, die Mafien reif zu machen für den Genuß der
ihnen verliehenen Rechte, haben wir bisher nicht einmal den Versuch gemacht,
sie auch politisch zu bilden und zu erziehen.

So gering ist das Interesse und das Verständnis für die Frage einer
nationalen, politischen Erziehung, daß es in unsrer schreiblustigen Zeit kaum
eine Literatur über diesen Gegenstand gibt. Einige wenige haben ihre Stimme
erhoben, ohne daß es ihnen bisher gelungen wäre, sich Gehör zu verschaffen,
und wohl das Beste, was über die Notwendigkeit einer staatsbürgerlichen Er¬
ziehung geschrieben worden ist, hat der Münchner Stadtschulrat Dr. Kerschen-
steiner gesagt in seiner Schrift: staatsbürgerliche Erziehung der deutschen
Jugend, die von der Königlichen Akademie gemeinnütziger Wissenschaften in
Erfurt mit einem Preise ausgezeichnet worden ist. Diese vortreffliche Schrift
sei hier nachdrücklich empfohlen. In ihr stellt ein weitschauender Schulmann
ein Schulprogramm auf, nach dessen Verwirklichung wir mit Recht sagen
könnten, daß wir in der Schulpolitik an der Spitze marschieren. Kerschensteiner



*) Staatsstreich oder Reformen. Politisches Reformbuch sür alle Deutschen von einem
Auslanddeutschen.
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[0083] Nationale politische Erziehung Rechnen, besonders aber auch in Heimat- und Verfassungskunde. Es werden fünf Noten erteilt, und die Durchschnittsnoten werden veröffentlicht, damit die Kantone, die in ihren Leistungen zurückgeblieben sind, um so größere An¬ strengungen machen, die Scharte auszuwetzen.*) Auf diese Weise sucht man im Auslande politische Bildung zu verbreiten, bei uns geschieht nichts. Es wäre wahrlich an der Zeit, mindestens einmal vorurteilslos und eingehend zu prüfen, ob es nicht angebracht ist, das Beispiel des Auslandes nachzuahmen. Wir haben im Sturmschritt nachgeholt, was Jahrhunderte hindurch versäumt worden war, und haben die politische Einheit errungen; wir haben eine wirtschaftliche Entwicklung gehabt, die nach dem von Lamprecht geprägten Worte eine völlige räumliche und soziale Umschichtung unsers Volkes zur Folge hatte; wir haben diesem noch nicht zu einer Einheit zusammengewachsnen, nicht gleich den Eng¬ ländern in jahrhundertlangen Kämpfen politisch geschulten Volke Rechte ge¬ geben und immer wieder Rechte: die Gewerbefreiheit, die Freizügigkeit, die Preßfreiheit, das Versammlungsrecht und besonders das demokratischste aller Wahlrechte, das allgemeine, gleiche und geheime Wahlrecht, und wir haben die Ausübung dieses Wahlrechts noch durch besondre Schutzmaßregeln in einer Weise gesichert, über deren Berechtigung sich Wohl streiten läßt. Die Folgerungen aus diesem Vorgehen haben wir aber nicht gezogen. Wir haben das Volk sich selbst überlassen und denen, die diese demokratischen Rechte am besten und rücksichtslosesten auszunutzen verstehen, den Hetzern und Verführern, die sich kein Gewissen daraus machen, das große Kind, Volk genannt, mit Versprechungen einzufangen, die sie niemals einlösen können. Wir haben uns bemüht, Bildung und Fachkenntnisse zu verbreiten, und obgleich wir gesehen haben, daß das nicht genügt, die Mafien reif zu machen für den Genuß der ihnen verliehenen Rechte, haben wir bisher nicht einmal den Versuch gemacht, sie auch politisch zu bilden und zu erziehen. So gering ist das Interesse und das Verständnis für die Frage einer nationalen, politischen Erziehung, daß es in unsrer schreiblustigen Zeit kaum eine Literatur über diesen Gegenstand gibt. Einige wenige haben ihre Stimme erhoben, ohne daß es ihnen bisher gelungen wäre, sich Gehör zu verschaffen, und wohl das Beste, was über die Notwendigkeit einer staatsbürgerlichen Er¬ ziehung geschrieben worden ist, hat der Münchner Stadtschulrat Dr. Kerschen- steiner gesagt in seiner Schrift: staatsbürgerliche Erziehung der deutschen Jugend, die von der Königlichen Akademie gemeinnütziger Wissenschaften in Erfurt mit einem Preise ausgezeichnet worden ist. Diese vortreffliche Schrift sei hier nachdrücklich empfohlen. In ihr stellt ein weitschauender Schulmann ein Schulprogramm auf, nach dessen Verwirklichung wir mit Recht sagen könnten, daß wir in der Schulpolitik an der Spitze marschieren. Kerschensteiner *) Staatsstreich oder Reformen. Politisches Reformbuch sür alle Deutschen von einem Auslanddeutschen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/83>, abgerufen am 23.07.2024.