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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Die richterliche Individualität und die Aollegialgerichte

aber habe wohl der mit dem Volk unmittelbar verkehrende Amtsrichter, nicht aber
ein Kollegium von Spruchrichtern, das nur mit den Vertretern der Parteien
amtlich verkehrt, die Möglichkeit und Gelegenheit, die persönlichen und sozialen
Verhältnisse in seinem Wirkungskreis von Grund auf kennen zu lernen; hier¬
durch werde er der Vertrauensmann des Bezirks. Dazu komme der wichtige
Umstand, daß der Amtsrichter unter eigner Verantwortlichkeit arbeite, darum
besser arbeite. Es liege in der menschlichen Natur begründet, daß der allein
Verantwortliche mehr Energie und Aufmerksamkeit aufwendet als der, der die
Verantwortung ganz oder zum Teil auf fremde Schultern abwälzen könne.
Schon Fürst Bismarck habe sich in seinen Gedanken und Erinnerungen Band 1,
Seite 13 nach der Schilderung seiner Erlebnisse bei Gericht und Verwaltungs¬
behörden dahin geäußert, daß die Entscheidung eines Kollegiums grundsätzlich
nicht wertvoller sei als die des Einzelbeamten: bei jener träten rein zufällige
Mehrheiten an die Stelle logischer Begründung, und das Gefühl persönlicher
Verantwortlichkeit, in der die wesentliche Bürgschaft für die Gewissenhaftigkeit
der Entscheidung liegt, gehe sofort verloren, wenn diese durch eine anonyme
Mehrheit erfolge. Als weitere Gründe für die Notwendigkeit einer Erhöhung
der Zuständigkeit des Einzelrichters wird noch angeführt das Sinken des Geld¬
werth, die leichtere Zugänglichkeit des Amtsrichters im Gegensatz zu der Ent¬
ferntheit der Kollegialgerichte und dergleichen.

Die Gegner der geplanten Änderung weisen dagegen darauf hin: dem
Gesetze liege der berechtigte Gedanke zugrunde, daß für alle feinern juristischen
Fragen die Entscheidung durch das Kollegium durchaus der Entscheidung durch
den Einzelrichter vorzuziehn sei, und man müsse davon ausgehn, daß für die
Regel die geringwertigen Sachen auch die einfachern seien. Darum habe man
die Summe von 300 Mark als Grenze zwischen den minderwichtigen und den
wichtigern Sachen bestimmt, und wenn diese Zahl auch, wie jede Zahl, etwas
willkürliches an sich habe, so habe man sich doch in diese Ordnung der Dinge
eingelebt. Ferner walte der Amtsrichter oft an einem kleinen Ort, ohne jede
Verbindung mit Berufsgenossen, ohne jede umfangreichere Bücherei, und deshalb
sei eine Vertiefung seiner Rechtskenntnisse geradezu ausgeschlossen; daß er schneller
arbeite als das Kollegium, erkläre sich eben daraus, weil nur die einfachern
Sachen zur Zuständigkeit der Amtsgerichte gehören, und ein beschleunigtes
Verfahren nach dem Grundsatz des preußischen Kammergerichtspräsidenten
v. Jariges (1746) "Marsch! Marsch! was füllt, das fällt", sei wahrlich nicht
erstrebenswert. Der wahre Wert des Kollegiums bestehe in der Mischung ver-
schiedner Geister, und diese Mischung drücke der Rechtssindung ihren Stempel
auf. Übrigens wird von manchen Seiten umgekehrt die einzelrichterliche
Rechtsprechung als eine so minderwertige bezeichnet, daß sogar eine Herabsetzung
der amtsgerichtlichen Zuständigkeit erstrebt wird. Man weist -- nicht ganz mit
Unrecht -- darauf hin, daß vom Standpunkt der beteiligten Partei ein Rechts¬
streit über 300 Mark oft durchaus keine Bagatelle sei, daß diese Summe, die


Die richterliche Individualität und die Aollegialgerichte

aber habe wohl der mit dem Volk unmittelbar verkehrende Amtsrichter, nicht aber
ein Kollegium von Spruchrichtern, das nur mit den Vertretern der Parteien
amtlich verkehrt, die Möglichkeit und Gelegenheit, die persönlichen und sozialen
Verhältnisse in seinem Wirkungskreis von Grund auf kennen zu lernen; hier¬
durch werde er der Vertrauensmann des Bezirks. Dazu komme der wichtige
Umstand, daß der Amtsrichter unter eigner Verantwortlichkeit arbeite, darum
besser arbeite. Es liege in der menschlichen Natur begründet, daß der allein
Verantwortliche mehr Energie und Aufmerksamkeit aufwendet als der, der die
Verantwortung ganz oder zum Teil auf fremde Schultern abwälzen könne.
Schon Fürst Bismarck habe sich in seinen Gedanken und Erinnerungen Band 1,
Seite 13 nach der Schilderung seiner Erlebnisse bei Gericht und Verwaltungs¬
behörden dahin geäußert, daß die Entscheidung eines Kollegiums grundsätzlich
nicht wertvoller sei als die des Einzelbeamten: bei jener träten rein zufällige
Mehrheiten an die Stelle logischer Begründung, und das Gefühl persönlicher
Verantwortlichkeit, in der die wesentliche Bürgschaft für die Gewissenhaftigkeit
der Entscheidung liegt, gehe sofort verloren, wenn diese durch eine anonyme
Mehrheit erfolge. Als weitere Gründe für die Notwendigkeit einer Erhöhung
der Zuständigkeit des Einzelrichters wird noch angeführt das Sinken des Geld¬
werth, die leichtere Zugänglichkeit des Amtsrichters im Gegensatz zu der Ent¬
ferntheit der Kollegialgerichte und dergleichen.

Die Gegner der geplanten Änderung weisen dagegen darauf hin: dem
Gesetze liege der berechtigte Gedanke zugrunde, daß für alle feinern juristischen
Fragen die Entscheidung durch das Kollegium durchaus der Entscheidung durch
den Einzelrichter vorzuziehn sei, und man müsse davon ausgehn, daß für die
Regel die geringwertigen Sachen auch die einfachern seien. Darum habe man
die Summe von 300 Mark als Grenze zwischen den minderwichtigen und den
wichtigern Sachen bestimmt, und wenn diese Zahl auch, wie jede Zahl, etwas
willkürliches an sich habe, so habe man sich doch in diese Ordnung der Dinge
eingelebt. Ferner walte der Amtsrichter oft an einem kleinen Ort, ohne jede
Verbindung mit Berufsgenossen, ohne jede umfangreichere Bücherei, und deshalb
sei eine Vertiefung seiner Rechtskenntnisse geradezu ausgeschlossen; daß er schneller
arbeite als das Kollegium, erkläre sich eben daraus, weil nur die einfachern
Sachen zur Zuständigkeit der Amtsgerichte gehören, und ein beschleunigtes
Verfahren nach dem Grundsatz des preußischen Kammergerichtspräsidenten
v. Jariges (1746) „Marsch! Marsch! was füllt, das fällt", sei wahrlich nicht
erstrebenswert. Der wahre Wert des Kollegiums bestehe in der Mischung ver-
schiedner Geister, und diese Mischung drücke der Rechtssindung ihren Stempel
auf. Übrigens wird von manchen Seiten umgekehrt die einzelrichterliche
Rechtsprechung als eine so minderwertige bezeichnet, daß sogar eine Herabsetzung
der amtsgerichtlichen Zuständigkeit erstrebt wird. Man weist — nicht ganz mit
Unrecht — darauf hin, daß vom Standpunkt der beteiligten Partei ein Rechts¬
streit über 300 Mark oft durchaus keine Bagatelle sei, daß diese Summe, die


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[0684] Die richterliche Individualität und die Aollegialgerichte aber habe wohl der mit dem Volk unmittelbar verkehrende Amtsrichter, nicht aber ein Kollegium von Spruchrichtern, das nur mit den Vertretern der Parteien amtlich verkehrt, die Möglichkeit und Gelegenheit, die persönlichen und sozialen Verhältnisse in seinem Wirkungskreis von Grund auf kennen zu lernen; hier¬ durch werde er der Vertrauensmann des Bezirks. Dazu komme der wichtige Umstand, daß der Amtsrichter unter eigner Verantwortlichkeit arbeite, darum besser arbeite. Es liege in der menschlichen Natur begründet, daß der allein Verantwortliche mehr Energie und Aufmerksamkeit aufwendet als der, der die Verantwortung ganz oder zum Teil auf fremde Schultern abwälzen könne. Schon Fürst Bismarck habe sich in seinen Gedanken und Erinnerungen Band 1, Seite 13 nach der Schilderung seiner Erlebnisse bei Gericht und Verwaltungs¬ behörden dahin geäußert, daß die Entscheidung eines Kollegiums grundsätzlich nicht wertvoller sei als die des Einzelbeamten: bei jener träten rein zufällige Mehrheiten an die Stelle logischer Begründung, und das Gefühl persönlicher Verantwortlichkeit, in der die wesentliche Bürgschaft für die Gewissenhaftigkeit der Entscheidung liegt, gehe sofort verloren, wenn diese durch eine anonyme Mehrheit erfolge. Als weitere Gründe für die Notwendigkeit einer Erhöhung der Zuständigkeit des Einzelrichters wird noch angeführt das Sinken des Geld¬ werth, die leichtere Zugänglichkeit des Amtsrichters im Gegensatz zu der Ent¬ ferntheit der Kollegialgerichte und dergleichen. Die Gegner der geplanten Änderung weisen dagegen darauf hin: dem Gesetze liege der berechtigte Gedanke zugrunde, daß für alle feinern juristischen Fragen die Entscheidung durch das Kollegium durchaus der Entscheidung durch den Einzelrichter vorzuziehn sei, und man müsse davon ausgehn, daß für die Regel die geringwertigen Sachen auch die einfachern seien. Darum habe man die Summe von 300 Mark als Grenze zwischen den minderwichtigen und den wichtigern Sachen bestimmt, und wenn diese Zahl auch, wie jede Zahl, etwas willkürliches an sich habe, so habe man sich doch in diese Ordnung der Dinge eingelebt. Ferner walte der Amtsrichter oft an einem kleinen Ort, ohne jede Verbindung mit Berufsgenossen, ohne jede umfangreichere Bücherei, und deshalb sei eine Vertiefung seiner Rechtskenntnisse geradezu ausgeschlossen; daß er schneller arbeite als das Kollegium, erkläre sich eben daraus, weil nur die einfachern Sachen zur Zuständigkeit der Amtsgerichte gehören, und ein beschleunigtes Verfahren nach dem Grundsatz des preußischen Kammergerichtspräsidenten v. Jariges (1746) „Marsch! Marsch! was füllt, das fällt", sei wahrlich nicht erstrebenswert. Der wahre Wert des Kollegiums bestehe in der Mischung ver- schiedner Geister, und diese Mischung drücke der Rechtssindung ihren Stempel auf. Übrigens wird von manchen Seiten umgekehrt die einzelrichterliche Rechtsprechung als eine so minderwertige bezeichnet, daß sogar eine Herabsetzung der amtsgerichtlichen Zuständigkeit erstrebt wird. Man weist — nicht ganz mit Unrecht — darauf hin, daß vom Standpunkt der beteiligten Partei ein Rechts¬ streit über 300 Mark oft durchaus keine Bagatelle sei, daß diese Summe, die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/684>, abgerufen am 22.07.2024.