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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Deutsch - amerikanische Angelegenheiten

Lenen und viele andre. Wen freilich nicht eine ideale Selbsttäuschung,
sondern die Sehnsucht nach wirtschaftlicher, religiöser und in einzelnen Fällen
politischer Selbständigkeit über das große Wasser trieb, der blieb drüben, und
die Mehrzahl verlor sich im Westen. Von Bedeutung für die Staaten und
Territorien am Mississippi und im Süden der großen Seen wurden die
deutschen Gruppenansiedlungen aus der Pfalz, Rheinpreußen, Württemberg,
überhaupt aus den Gebieten, die infolge der napoleonischen Herrschaft größere
Umwandlungen erfahren hatten, ferner der Altlutheraner aus der Provinz
Sachsen, Pommern usw. Sie bildeten in Iowa, Wisconsin und andern
Gegenden die ersten geschlossenen deutschen Niederlassungen, gelangten in der
Mehrzahl rasch zu einem gewissen Wohlstande und zogen Verwandte, Freunde
und Landsleute nach sich. Wie Hense-Imsen in "Wisconsins Deutsch¬
amerikaner bis zum Schluß des neunzehnten Jahrhunderts" angibt, waren
von den mehr als 300000 weißen Bewohnern Wisconsins im Jahre 1850
über die Hülste deutscher Abstammung. Aber auch die in dichten Gruppen
zusammenwohnenden betrachteten sich nicht als Deutsche, sie blieben Preußen,
Pfälzer oder gar Kölner, Kieler usw., hatten ihren heimischen Kirchturms¬
standpunkt mitgebracht und waren nur für die neuenglischen Aankees eine
Gesamtheit unsympathischer Dutchmen. Doch erhielten sie sich wenigstens auf
dem mitgebrachten Bildungsgrade, während die Mehrzahl der von 1818 bis
1848 nach Nordamerika ausgewanderten Deutschen aus den ärmsten und ge¬
drücktesten Handwerkern und Bauern bestand, die meist in Unwissenheit und
Beschränkung, teilweise auch in Vorurteilen und Aberglauben aller Art auf¬
gewachsen waren. Fast mittellos durch "Seelenverkäufer" ins Land gebracht,
mußten sie das Überfahrtsgeld und andre Vorschüsse als weiße Sklaven auf
Farmer und in Fabriken abverdienen, ihre Nachkommenschaft wuchs ohne jede
Bildung auf, und wenn sie sich endlich freigearbeitet hatten, mußten sie ohne
alle Mittel unter harter Arbeit eine eigne Heimat gründen, die ihnen in der
Regel nicht einmal Gelegenheit bot, die einfachsten Schulkenntnisse zu er¬
werben. So lebten die deutschen Einwandrer vor 1850 in mehr oder weniger
großen Ansiedlungen unter den Angloamerikanern, die mit Geringschätzung
auf die wohl schwer arbeitenden, aber ungebildeten Ankömmlinge herabsahen
und sie wegen ihrer unverstandnen Eigentümlichkeiten verspotteten. Die
deutschen Handwerker und Fabrikarbeiter in den Städten standen ungefähr
auf derselben Höhe, Gelegenheit und Antrieb zum Erwerb auch der elemen¬
tarsten Kenntnisse waren gering, über die Brot- und Existenzfrage hinaus
dachte die Masse nicht.

Das Scheitern der revolutionären Bewegung in Europa brachte nach
1848 eine ganz neue Art der Einwanderung für Nordamerika, ein breiter
Strom teils gebildeter, teils sogar wohlhabender Leute aus Deutschland
wurde ins Land geführt. Daß sich in dieser Menge eine große Anzahl von
schwärmerischen Ideologen befand, die im harten Kampfe ums Dasein als zu


Deutsch - amerikanische Angelegenheiten

Lenen und viele andre. Wen freilich nicht eine ideale Selbsttäuschung,
sondern die Sehnsucht nach wirtschaftlicher, religiöser und in einzelnen Fällen
politischer Selbständigkeit über das große Wasser trieb, der blieb drüben, und
die Mehrzahl verlor sich im Westen. Von Bedeutung für die Staaten und
Territorien am Mississippi und im Süden der großen Seen wurden die
deutschen Gruppenansiedlungen aus der Pfalz, Rheinpreußen, Württemberg,
überhaupt aus den Gebieten, die infolge der napoleonischen Herrschaft größere
Umwandlungen erfahren hatten, ferner der Altlutheraner aus der Provinz
Sachsen, Pommern usw. Sie bildeten in Iowa, Wisconsin und andern
Gegenden die ersten geschlossenen deutschen Niederlassungen, gelangten in der
Mehrzahl rasch zu einem gewissen Wohlstande und zogen Verwandte, Freunde
und Landsleute nach sich. Wie Hense-Imsen in „Wisconsins Deutsch¬
amerikaner bis zum Schluß des neunzehnten Jahrhunderts" angibt, waren
von den mehr als 300000 weißen Bewohnern Wisconsins im Jahre 1850
über die Hülste deutscher Abstammung. Aber auch die in dichten Gruppen
zusammenwohnenden betrachteten sich nicht als Deutsche, sie blieben Preußen,
Pfälzer oder gar Kölner, Kieler usw., hatten ihren heimischen Kirchturms¬
standpunkt mitgebracht und waren nur für die neuenglischen Aankees eine
Gesamtheit unsympathischer Dutchmen. Doch erhielten sie sich wenigstens auf
dem mitgebrachten Bildungsgrade, während die Mehrzahl der von 1818 bis
1848 nach Nordamerika ausgewanderten Deutschen aus den ärmsten und ge¬
drücktesten Handwerkern und Bauern bestand, die meist in Unwissenheit und
Beschränkung, teilweise auch in Vorurteilen und Aberglauben aller Art auf¬
gewachsen waren. Fast mittellos durch „Seelenverkäufer" ins Land gebracht,
mußten sie das Überfahrtsgeld und andre Vorschüsse als weiße Sklaven auf
Farmer und in Fabriken abverdienen, ihre Nachkommenschaft wuchs ohne jede
Bildung auf, und wenn sie sich endlich freigearbeitet hatten, mußten sie ohne
alle Mittel unter harter Arbeit eine eigne Heimat gründen, die ihnen in der
Regel nicht einmal Gelegenheit bot, die einfachsten Schulkenntnisse zu er¬
werben. So lebten die deutschen Einwandrer vor 1850 in mehr oder weniger
großen Ansiedlungen unter den Angloamerikanern, die mit Geringschätzung
auf die wohl schwer arbeitenden, aber ungebildeten Ankömmlinge herabsahen
und sie wegen ihrer unverstandnen Eigentümlichkeiten verspotteten. Die
deutschen Handwerker und Fabrikarbeiter in den Städten standen ungefähr
auf derselben Höhe, Gelegenheit und Antrieb zum Erwerb auch der elemen¬
tarsten Kenntnisse waren gering, über die Brot- und Existenzfrage hinaus
dachte die Masse nicht.

Das Scheitern der revolutionären Bewegung in Europa brachte nach
1848 eine ganz neue Art der Einwanderung für Nordamerika, ein breiter
Strom teils gebildeter, teils sogar wohlhabender Leute aus Deutschland
wurde ins Land geführt. Daß sich in dieser Menge eine große Anzahl von
schwärmerischen Ideologen befand, die im harten Kampfe ums Dasein als zu


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[0614] Deutsch - amerikanische Angelegenheiten Lenen und viele andre. Wen freilich nicht eine ideale Selbsttäuschung, sondern die Sehnsucht nach wirtschaftlicher, religiöser und in einzelnen Fällen politischer Selbständigkeit über das große Wasser trieb, der blieb drüben, und die Mehrzahl verlor sich im Westen. Von Bedeutung für die Staaten und Territorien am Mississippi und im Süden der großen Seen wurden die deutschen Gruppenansiedlungen aus der Pfalz, Rheinpreußen, Württemberg, überhaupt aus den Gebieten, die infolge der napoleonischen Herrschaft größere Umwandlungen erfahren hatten, ferner der Altlutheraner aus der Provinz Sachsen, Pommern usw. Sie bildeten in Iowa, Wisconsin und andern Gegenden die ersten geschlossenen deutschen Niederlassungen, gelangten in der Mehrzahl rasch zu einem gewissen Wohlstande und zogen Verwandte, Freunde und Landsleute nach sich. Wie Hense-Imsen in „Wisconsins Deutsch¬ amerikaner bis zum Schluß des neunzehnten Jahrhunderts" angibt, waren von den mehr als 300000 weißen Bewohnern Wisconsins im Jahre 1850 über die Hülste deutscher Abstammung. Aber auch die in dichten Gruppen zusammenwohnenden betrachteten sich nicht als Deutsche, sie blieben Preußen, Pfälzer oder gar Kölner, Kieler usw., hatten ihren heimischen Kirchturms¬ standpunkt mitgebracht und waren nur für die neuenglischen Aankees eine Gesamtheit unsympathischer Dutchmen. Doch erhielten sie sich wenigstens auf dem mitgebrachten Bildungsgrade, während die Mehrzahl der von 1818 bis 1848 nach Nordamerika ausgewanderten Deutschen aus den ärmsten und ge¬ drücktesten Handwerkern und Bauern bestand, die meist in Unwissenheit und Beschränkung, teilweise auch in Vorurteilen und Aberglauben aller Art auf¬ gewachsen waren. Fast mittellos durch „Seelenverkäufer" ins Land gebracht, mußten sie das Überfahrtsgeld und andre Vorschüsse als weiße Sklaven auf Farmer und in Fabriken abverdienen, ihre Nachkommenschaft wuchs ohne jede Bildung auf, und wenn sie sich endlich freigearbeitet hatten, mußten sie ohne alle Mittel unter harter Arbeit eine eigne Heimat gründen, die ihnen in der Regel nicht einmal Gelegenheit bot, die einfachsten Schulkenntnisse zu er¬ werben. So lebten die deutschen Einwandrer vor 1850 in mehr oder weniger großen Ansiedlungen unter den Angloamerikanern, die mit Geringschätzung auf die wohl schwer arbeitenden, aber ungebildeten Ankömmlinge herabsahen und sie wegen ihrer unverstandnen Eigentümlichkeiten verspotteten. Die deutschen Handwerker und Fabrikarbeiter in den Städten standen ungefähr auf derselben Höhe, Gelegenheit und Antrieb zum Erwerb auch der elemen¬ tarsten Kenntnisse waren gering, über die Brot- und Existenzfrage hinaus dachte die Masse nicht. Das Scheitern der revolutionären Bewegung in Europa brachte nach 1848 eine ganz neue Art der Einwanderung für Nordamerika, ein breiter Strom teils gebildeter, teils sogar wohlhabender Leute aus Deutschland wurde ins Land geführt. Daß sich in dieser Menge eine große Anzahl von schwärmerischen Ideologen befand, die im harten Kampfe ums Dasein als zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/614>, abgerufen am 22.07.2024.