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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Über die Linseitigkeiten und Gefahren der Schulreformbewegung

ob sie nicht da und dort schon allzu hastig und unüberlegt vorwärts oder
auch rückwärts oder gar bald vorwärts bald rückwärts geschritten ist. Freilich
wer nicht Umbildung, sondern Umsturz, nicht Reform, sondern Revolution
will -- und deren sind nicht wenige --, wird sich dabei nicht beruhigen. Aber
auch deswegen trifft jene Erwägung nicht zu, weil wir Lehrer -- und wir
sind doch schließlich das Hauptwerkzeug des Unterrichts -- doch auch Kinder
unsrer Zeit sind, diese Kindschaft, selbst wenn wir wollten, nicht verleugnen
könnten, vielmehr in vollem Maße beanspruchen müssen, daß auch wir zu
unsrer Zeit gehören, an ihrem Geiste Anteil nehmen und den entsprechenden
Einfluß auf ihre Gestaltung geltend machen wollen, dürfen und sollen. Endlich
noch einer weitern Einschränkung scheint mir jene Begründung bedürftig zu
sein. Es ist ein vortrefflicher Gedanke, der mir einmal irgendwo bei dem
allzufrühe dahingegangnen Oskar Weißenfels aufgestoßen ist, unser Bildungs¬
und Erziehungsziel sei nicht bloß, unsre Jugend in den Geist der Zeit einzu¬
führen, sondern sie über ihn zu erheben. Das eben ist ja das Eigentümliche
unsrer Gymnasialbildung: gewiß soll sie ihre Jünger einführen in das Ver¬
ständnis der charakteristischen allgemeinen Züge der eignen Zeit, aber sie auch
für ihre künftige Entwicklung befähigen, die Einseitigkeiten, die mit jeder
zeitlichen Entwicklung, insbesondre auch mit einem gewissen Geistesprotzentum
der Gegenwart verbunden sind, nicht bloß zu erkennen mit der Schürfe eines
durchgebildeten Geistes, sondern auch ihnen entgegen zu wirken mit dem Mute
eines gefestigten Charakters. Dazu ist die weite Umschau über die Menschheits¬
entwicklung, die wir unsern Schülern, soweit man uns die Möglichkeit
dazu läßt, geben möchten und geben könnten, ein unverächtliches Mittel.
Freilich bedarf es dazu einer Voraussetzung, die hoch über allem Streit um
Berechtigungen und Lehrpläne steht, und die man bei jenem Streit allzusehr
vergessen hat. Nicht Schulrechte noch Schulpläne, nicht Lehrmethoden noch
Lehrkräfte, wie das unausrottbare, für den Mechanismus einer gewissen
Pädagogik so überaus bezeichnende üble Wort lautet, sind die Hauptsache bei
der Erziehung und Bildung der Jugend, sondern die Lehrpersonen. Schaffet
uns, ihr Minister und Volksvertreter, ihr Redakteure und Publizisten, schaffet
uns P^ax"s, so etwa im Sinne der platonischen Tro^rei", Lehrer, die auf
anständiger Höhe äußerer Stellung und Lebensführung stehend und mit gründ¬
licher Beherrschung ihres besondern Faches den weiten Blick ins allgemeine
verbindend mit dem Mute der Wahrheit und der Freiheit selbständiger Über¬
zeugung, nach oben und nach unten, von dem sie selbst getragen sind, auch
ihre Schüler und Jünger zu durchdringen und zu begeistern vermögen, und
die schließlich über der Erwerbs- und Berufserziehung die Ideale, über der
Zeit die Ewigkeit nicht vergessen, dann, aber auch nur dann wird euch das
übrige alles zufallen.

Doch von diesem Ziele sind wir freilich noch weit entfernt, und so müssen
wir eben dem unentbehrlichen Mechanismus -- wie gern würde ich sagen


Über die Linseitigkeiten und Gefahren der Schulreformbewegung

ob sie nicht da und dort schon allzu hastig und unüberlegt vorwärts oder
auch rückwärts oder gar bald vorwärts bald rückwärts geschritten ist. Freilich
wer nicht Umbildung, sondern Umsturz, nicht Reform, sondern Revolution
will — und deren sind nicht wenige —, wird sich dabei nicht beruhigen. Aber
auch deswegen trifft jene Erwägung nicht zu, weil wir Lehrer — und wir
sind doch schließlich das Hauptwerkzeug des Unterrichts — doch auch Kinder
unsrer Zeit sind, diese Kindschaft, selbst wenn wir wollten, nicht verleugnen
könnten, vielmehr in vollem Maße beanspruchen müssen, daß auch wir zu
unsrer Zeit gehören, an ihrem Geiste Anteil nehmen und den entsprechenden
Einfluß auf ihre Gestaltung geltend machen wollen, dürfen und sollen. Endlich
noch einer weitern Einschränkung scheint mir jene Begründung bedürftig zu
sein. Es ist ein vortrefflicher Gedanke, der mir einmal irgendwo bei dem
allzufrühe dahingegangnen Oskar Weißenfels aufgestoßen ist, unser Bildungs¬
und Erziehungsziel sei nicht bloß, unsre Jugend in den Geist der Zeit einzu¬
führen, sondern sie über ihn zu erheben. Das eben ist ja das Eigentümliche
unsrer Gymnasialbildung: gewiß soll sie ihre Jünger einführen in das Ver¬
ständnis der charakteristischen allgemeinen Züge der eignen Zeit, aber sie auch
für ihre künftige Entwicklung befähigen, die Einseitigkeiten, die mit jeder
zeitlichen Entwicklung, insbesondre auch mit einem gewissen Geistesprotzentum
der Gegenwart verbunden sind, nicht bloß zu erkennen mit der Schürfe eines
durchgebildeten Geistes, sondern auch ihnen entgegen zu wirken mit dem Mute
eines gefestigten Charakters. Dazu ist die weite Umschau über die Menschheits¬
entwicklung, die wir unsern Schülern, soweit man uns die Möglichkeit
dazu läßt, geben möchten und geben könnten, ein unverächtliches Mittel.
Freilich bedarf es dazu einer Voraussetzung, die hoch über allem Streit um
Berechtigungen und Lehrpläne steht, und die man bei jenem Streit allzusehr
vergessen hat. Nicht Schulrechte noch Schulpläne, nicht Lehrmethoden noch
Lehrkräfte, wie das unausrottbare, für den Mechanismus einer gewissen
Pädagogik so überaus bezeichnende üble Wort lautet, sind die Hauptsache bei
der Erziehung und Bildung der Jugend, sondern die Lehrpersonen. Schaffet
uns, ihr Minister und Volksvertreter, ihr Redakteure und Publizisten, schaffet
uns P^ax«s, so etwa im Sinne der platonischen Tro^rei«, Lehrer, die auf
anständiger Höhe äußerer Stellung und Lebensführung stehend und mit gründ¬
licher Beherrschung ihres besondern Faches den weiten Blick ins allgemeine
verbindend mit dem Mute der Wahrheit und der Freiheit selbständiger Über¬
zeugung, nach oben und nach unten, von dem sie selbst getragen sind, auch
ihre Schüler und Jünger zu durchdringen und zu begeistern vermögen, und
die schließlich über der Erwerbs- und Berufserziehung die Ideale, über der
Zeit die Ewigkeit nicht vergessen, dann, aber auch nur dann wird euch das
übrige alles zufallen.

Doch von diesem Ziele sind wir freilich noch weit entfernt, und so müssen
wir eben dem unentbehrlichen Mechanismus — wie gern würde ich sagen


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[0571] Über die Linseitigkeiten und Gefahren der Schulreformbewegung ob sie nicht da und dort schon allzu hastig und unüberlegt vorwärts oder auch rückwärts oder gar bald vorwärts bald rückwärts geschritten ist. Freilich wer nicht Umbildung, sondern Umsturz, nicht Reform, sondern Revolution will — und deren sind nicht wenige —, wird sich dabei nicht beruhigen. Aber auch deswegen trifft jene Erwägung nicht zu, weil wir Lehrer — und wir sind doch schließlich das Hauptwerkzeug des Unterrichts — doch auch Kinder unsrer Zeit sind, diese Kindschaft, selbst wenn wir wollten, nicht verleugnen könnten, vielmehr in vollem Maße beanspruchen müssen, daß auch wir zu unsrer Zeit gehören, an ihrem Geiste Anteil nehmen und den entsprechenden Einfluß auf ihre Gestaltung geltend machen wollen, dürfen und sollen. Endlich noch einer weitern Einschränkung scheint mir jene Begründung bedürftig zu sein. Es ist ein vortrefflicher Gedanke, der mir einmal irgendwo bei dem allzufrühe dahingegangnen Oskar Weißenfels aufgestoßen ist, unser Bildungs¬ und Erziehungsziel sei nicht bloß, unsre Jugend in den Geist der Zeit einzu¬ führen, sondern sie über ihn zu erheben. Das eben ist ja das Eigentümliche unsrer Gymnasialbildung: gewiß soll sie ihre Jünger einführen in das Ver¬ ständnis der charakteristischen allgemeinen Züge der eignen Zeit, aber sie auch für ihre künftige Entwicklung befähigen, die Einseitigkeiten, die mit jeder zeitlichen Entwicklung, insbesondre auch mit einem gewissen Geistesprotzentum der Gegenwart verbunden sind, nicht bloß zu erkennen mit der Schürfe eines durchgebildeten Geistes, sondern auch ihnen entgegen zu wirken mit dem Mute eines gefestigten Charakters. Dazu ist die weite Umschau über die Menschheits¬ entwicklung, die wir unsern Schülern, soweit man uns die Möglichkeit dazu läßt, geben möchten und geben könnten, ein unverächtliches Mittel. Freilich bedarf es dazu einer Voraussetzung, die hoch über allem Streit um Berechtigungen und Lehrpläne steht, und die man bei jenem Streit allzusehr vergessen hat. Nicht Schulrechte noch Schulpläne, nicht Lehrmethoden noch Lehrkräfte, wie das unausrottbare, für den Mechanismus einer gewissen Pädagogik so überaus bezeichnende üble Wort lautet, sind die Hauptsache bei der Erziehung und Bildung der Jugend, sondern die Lehrpersonen. Schaffet uns, ihr Minister und Volksvertreter, ihr Redakteure und Publizisten, schaffet uns P^ax«s, so etwa im Sinne der platonischen Tro^rei«, Lehrer, die auf anständiger Höhe äußerer Stellung und Lebensführung stehend und mit gründ¬ licher Beherrschung ihres besondern Faches den weiten Blick ins allgemeine verbindend mit dem Mute der Wahrheit und der Freiheit selbständiger Über¬ zeugung, nach oben und nach unten, von dem sie selbst getragen sind, auch ihre Schüler und Jünger zu durchdringen und zu begeistern vermögen, und die schließlich über der Erwerbs- und Berufserziehung die Ideale, über der Zeit die Ewigkeit nicht vergessen, dann, aber auch nur dann wird euch das übrige alles zufallen. Doch von diesem Ziele sind wir freilich noch weit entfernt, und so müssen wir eben dem unentbehrlichen Mechanismus — wie gern würde ich sagen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/571>, abgerufen am 22.07.2024.