Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Wahlrecht und Idealismus

Freiheit des Ausdrucks in Schrift, Bild und Wort, höchstmögliche Freiheit der
Presse, öffentliches und mündliches Verfahren bei allen Akten des öffentlichen
Lebens. Und nun frage ich, ist die Funktion eines Wahlmannes nicht der
wichtigste Willensakt in unserm öffentlichen Leben, ist er nicht unzweifelhaft die
Ausübung eines öffentlichen Amtes? Und da wollen Sie plötzlich den Schleier
des Geheimnisses über die Ausübung dieses Ehrenamts breiten? Ich frage
daher: wo sind die tugendhaften Spartaner geblieben, auf die Sie sonst Ihre
Gesetzgebung basieren wollten?"

Daß das Verantwortlichkeitsgefühl der Wähler durch die Heimlichkeit der
Wahl gestärkt werde, kann man jedenfalls nicht sagen, und die Erfahrungen
bei den Neichstagswahlen berechtigen zu der Behauptung, daß unzählige Staats¬
bürger diese Wahl als Gelegenheit benutzen, um ihrer Unzufriedenheit durch
Abgabe ihrer Stimme für den oppositionellsten Kandidaten Luft zu machen,
ohne sich von der Tragweite solcher Handlungsweise Rechenschaft zu geben.
statistisch läßt sich das nicht nachweisen, denn nur selten trifft es sich so wie bei
der vorletzten Neichstagswahl, bei der in einem Kieler Wahlbezirk, wo die Wähler
überwiegend Kreisen angehörten, deren politische Übereinstimmung mit der Sozial¬
demokratie anzunehmen lächerlich wäre, doch die Stimmzettel eine große Mehr¬
heit für den Kandidaten dieser Partei ergaben. Es ist eine irrige Annahme,
daß die geheime Wahl den Ausdruck der wahren politischen Meinung des ge¬
samten Volks gewährleiste, auch darum nicht, weil die Kontrolle der Stimm¬
abgabe auch bei der geheimen Wahl nicht ausgeschlossen ist. Wer die Augen
bei den Neichstagswahlen aufmacht, der wird dem zustimmen, was aus dem
oben erwähnten Anlasse Graf Posadowsky im preußischen Abgeordnetenhause
1883 den Liberalen vorhielt: "Sie verlegen (durch die Einführung des geheimen
Stimmrechts) nur den Zeitpunkt der Wahlbeeinslussung. weiter nichts. Bei der
öffentlichen Wahl wird die Stimme seitens derjenigen, die Wahlbeeinflussung
und eine niedrige Wahlrache üben wollen, in dem Momente notiert, wo die
Stimme öffentlich abgegeben wird. Bei dem geheimen Wahlmodus verlangen
dieselben Agitatoren einfach das Vorzeigen des Stimmzettels... und derjenige
Mann, der den Stimmzettel nicht zeigt, wird auf der schwarzen Liste notiert
und ist der Wahlrache ganz ebenso ausgesetzt wie bei der öffentlichen Stimm¬
abgabe." Wer das typische Bild des Eingangs zum Reichstagswahllokal in
Arbeitervierteln kennt, der weiß genau, was er von der Hoffnung zu halten hat.
die jüngst auf dem nationalliberalen Parteitag zur Empfehlung der Einführung
der geheimen Stimmabgabe in Preußen ausgesprochen wurde: dadurch werde
der Terrorismus der Sozialdemokratie gebrochen werden. Hoffentlich setzt man
nicht auch diese Naivität auf das Konto des deutschen Idealismus.

Wir sind am Schluß. Wen das eigne Nachdenken dazu führt, sich der
Meinung anzuschließen, daß die Einführung des gleichen und geheimen Stimm¬
rechts für die Wahlen zum Abgeordnetenhause den preußischen Staat in Ge¬
fahren stürzen und zugleich dem Neichsschiffe das Minimum von Ballast nehmen


Wahlrecht und Idealismus

Freiheit des Ausdrucks in Schrift, Bild und Wort, höchstmögliche Freiheit der
Presse, öffentliches und mündliches Verfahren bei allen Akten des öffentlichen
Lebens. Und nun frage ich, ist die Funktion eines Wahlmannes nicht der
wichtigste Willensakt in unserm öffentlichen Leben, ist er nicht unzweifelhaft die
Ausübung eines öffentlichen Amtes? Und da wollen Sie plötzlich den Schleier
des Geheimnisses über die Ausübung dieses Ehrenamts breiten? Ich frage
daher: wo sind die tugendhaften Spartaner geblieben, auf die Sie sonst Ihre
Gesetzgebung basieren wollten?"

Daß das Verantwortlichkeitsgefühl der Wähler durch die Heimlichkeit der
Wahl gestärkt werde, kann man jedenfalls nicht sagen, und die Erfahrungen
bei den Neichstagswahlen berechtigen zu der Behauptung, daß unzählige Staats¬
bürger diese Wahl als Gelegenheit benutzen, um ihrer Unzufriedenheit durch
Abgabe ihrer Stimme für den oppositionellsten Kandidaten Luft zu machen,
ohne sich von der Tragweite solcher Handlungsweise Rechenschaft zu geben.
statistisch läßt sich das nicht nachweisen, denn nur selten trifft es sich so wie bei
der vorletzten Neichstagswahl, bei der in einem Kieler Wahlbezirk, wo die Wähler
überwiegend Kreisen angehörten, deren politische Übereinstimmung mit der Sozial¬
demokratie anzunehmen lächerlich wäre, doch die Stimmzettel eine große Mehr¬
heit für den Kandidaten dieser Partei ergaben. Es ist eine irrige Annahme,
daß die geheime Wahl den Ausdruck der wahren politischen Meinung des ge¬
samten Volks gewährleiste, auch darum nicht, weil die Kontrolle der Stimm¬
abgabe auch bei der geheimen Wahl nicht ausgeschlossen ist. Wer die Augen
bei den Neichstagswahlen aufmacht, der wird dem zustimmen, was aus dem
oben erwähnten Anlasse Graf Posadowsky im preußischen Abgeordnetenhause
1883 den Liberalen vorhielt: „Sie verlegen (durch die Einführung des geheimen
Stimmrechts) nur den Zeitpunkt der Wahlbeeinslussung. weiter nichts. Bei der
öffentlichen Wahl wird die Stimme seitens derjenigen, die Wahlbeeinflussung
und eine niedrige Wahlrache üben wollen, in dem Momente notiert, wo die
Stimme öffentlich abgegeben wird. Bei dem geheimen Wahlmodus verlangen
dieselben Agitatoren einfach das Vorzeigen des Stimmzettels... und derjenige
Mann, der den Stimmzettel nicht zeigt, wird auf der schwarzen Liste notiert
und ist der Wahlrache ganz ebenso ausgesetzt wie bei der öffentlichen Stimm¬
abgabe." Wer das typische Bild des Eingangs zum Reichstagswahllokal in
Arbeitervierteln kennt, der weiß genau, was er von der Hoffnung zu halten hat.
die jüngst auf dem nationalliberalen Parteitag zur Empfehlung der Einführung
der geheimen Stimmabgabe in Preußen ausgesprochen wurde: dadurch werde
der Terrorismus der Sozialdemokratie gebrochen werden. Hoffentlich setzt man
nicht auch diese Naivität auf das Konto des deutschen Idealismus.

Wir sind am Schluß. Wen das eigne Nachdenken dazu führt, sich der
Meinung anzuschließen, daß die Einführung des gleichen und geheimen Stimm¬
rechts für die Wahlen zum Abgeordnetenhause den preußischen Staat in Ge¬
fahren stürzen und zugleich dem Neichsschiffe das Minimum von Ballast nehmen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0509" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/303925"/>
          <fw type="header" place="top"> Wahlrecht und Idealismus</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2270" prev="#ID_2269"> Freiheit des Ausdrucks in Schrift, Bild und Wort, höchstmögliche Freiheit der<lb/>
Presse, öffentliches und mündliches Verfahren bei allen Akten des öffentlichen<lb/>
Lebens. Und nun frage ich, ist die Funktion eines Wahlmannes nicht der<lb/>
wichtigste Willensakt in unserm öffentlichen Leben, ist er nicht unzweifelhaft die<lb/>
Ausübung eines öffentlichen Amtes? Und da wollen Sie plötzlich den Schleier<lb/>
des Geheimnisses über die Ausübung dieses Ehrenamts breiten? Ich frage<lb/>
daher: wo sind die tugendhaften Spartaner geblieben, auf die Sie sonst Ihre<lb/>
Gesetzgebung basieren wollten?"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2271"> Daß das Verantwortlichkeitsgefühl der Wähler durch die Heimlichkeit der<lb/>
Wahl gestärkt werde, kann man jedenfalls nicht sagen, und die Erfahrungen<lb/>
bei den Neichstagswahlen berechtigen zu der Behauptung, daß unzählige Staats¬<lb/>
bürger diese Wahl als Gelegenheit benutzen, um ihrer Unzufriedenheit durch<lb/>
Abgabe ihrer Stimme für den oppositionellsten Kandidaten Luft zu machen,<lb/>
ohne sich von der Tragweite solcher Handlungsweise Rechenschaft zu geben.<lb/>
statistisch läßt sich das nicht nachweisen, denn nur selten trifft es sich so wie bei<lb/>
der vorletzten Neichstagswahl, bei der in einem Kieler Wahlbezirk, wo die Wähler<lb/>
überwiegend Kreisen angehörten, deren politische Übereinstimmung mit der Sozial¬<lb/>
demokratie anzunehmen lächerlich wäre, doch die Stimmzettel eine große Mehr¬<lb/>
heit für den Kandidaten dieser Partei ergaben.  Es ist eine irrige Annahme,<lb/>
daß die geheime Wahl den Ausdruck der wahren politischen Meinung des ge¬<lb/>
samten Volks gewährleiste, auch darum nicht, weil die Kontrolle der Stimm¬<lb/>
abgabe auch bei der geheimen Wahl nicht ausgeschlossen ist. Wer die Augen<lb/>
bei den Neichstagswahlen aufmacht, der wird dem zustimmen, was aus dem<lb/>
oben erwähnten Anlasse Graf Posadowsky im preußischen Abgeordnetenhause<lb/>
1883 den Liberalen vorhielt: &#x201E;Sie verlegen (durch die Einführung des geheimen<lb/>
Stimmrechts) nur den Zeitpunkt der Wahlbeeinslussung. weiter nichts. Bei der<lb/>
öffentlichen Wahl wird die Stimme seitens derjenigen, die Wahlbeeinflussung<lb/>
und eine niedrige Wahlrache üben wollen, in dem Momente notiert, wo die<lb/>
Stimme öffentlich abgegeben wird.  Bei dem geheimen Wahlmodus verlangen<lb/>
dieselben Agitatoren einfach das Vorzeigen des Stimmzettels... und derjenige<lb/>
Mann, der den Stimmzettel nicht zeigt, wird auf der schwarzen Liste notiert<lb/>
und ist der Wahlrache ganz ebenso ausgesetzt wie bei der öffentlichen Stimm¬<lb/>
abgabe."  Wer das typische Bild des Eingangs zum Reichstagswahllokal in<lb/>
Arbeitervierteln kennt, der weiß genau, was er von der Hoffnung zu halten hat.<lb/>
die jüngst auf dem nationalliberalen Parteitag zur Empfehlung der Einführung<lb/>
der geheimen Stimmabgabe in Preußen ausgesprochen wurde: dadurch werde<lb/>
der Terrorismus der Sozialdemokratie gebrochen werden. Hoffentlich setzt man<lb/>
nicht auch diese Naivität auf das Konto des deutschen Idealismus.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2272" next="#ID_2273"> Wir sind am Schluß. Wen das eigne Nachdenken dazu führt, sich der<lb/>
Meinung anzuschließen, daß die Einführung des gleichen und geheimen Stimm¬<lb/>
rechts für die Wahlen zum Abgeordnetenhause den preußischen Staat in Ge¬<lb/>
fahren stürzen und zugleich dem Neichsschiffe das Minimum von Ballast nehmen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0509] Wahlrecht und Idealismus Freiheit des Ausdrucks in Schrift, Bild und Wort, höchstmögliche Freiheit der Presse, öffentliches und mündliches Verfahren bei allen Akten des öffentlichen Lebens. Und nun frage ich, ist die Funktion eines Wahlmannes nicht der wichtigste Willensakt in unserm öffentlichen Leben, ist er nicht unzweifelhaft die Ausübung eines öffentlichen Amtes? Und da wollen Sie plötzlich den Schleier des Geheimnisses über die Ausübung dieses Ehrenamts breiten? Ich frage daher: wo sind die tugendhaften Spartaner geblieben, auf die Sie sonst Ihre Gesetzgebung basieren wollten?" Daß das Verantwortlichkeitsgefühl der Wähler durch die Heimlichkeit der Wahl gestärkt werde, kann man jedenfalls nicht sagen, und die Erfahrungen bei den Neichstagswahlen berechtigen zu der Behauptung, daß unzählige Staats¬ bürger diese Wahl als Gelegenheit benutzen, um ihrer Unzufriedenheit durch Abgabe ihrer Stimme für den oppositionellsten Kandidaten Luft zu machen, ohne sich von der Tragweite solcher Handlungsweise Rechenschaft zu geben. statistisch läßt sich das nicht nachweisen, denn nur selten trifft es sich so wie bei der vorletzten Neichstagswahl, bei der in einem Kieler Wahlbezirk, wo die Wähler überwiegend Kreisen angehörten, deren politische Übereinstimmung mit der Sozial¬ demokratie anzunehmen lächerlich wäre, doch die Stimmzettel eine große Mehr¬ heit für den Kandidaten dieser Partei ergaben. Es ist eine irrige Annahme, daß die geheime Wahl den Ausdruck der wahren politischen Meinung des ge¬ samten Volks gewährleiste, auch darum nicht, weil die Kontrolle der Stimm¬ abgabe auch bei der geheimen Wahl nicht ausgeschlossen ist. Wer die Augen bei den Neichstagswahlen aufmacht, der wird dem zustimmen, was aus dem oben erwähnten Anlasse Graf Posadowsky im preußischen Abgeordnetenhause 1883 den Liberalen vorhielt: „Sie verlegen (durch die Einführung des geheimen Stimmrechts) nur den Zeitpunkt der Wahlbeeinslussung. weiter nichts. Bei der öffentlichen Wahl wird die Stimme seitens derjenigen, die Wahlbeeinflussung und eine niedrige Wahlrache üben wollen, in dem Momente notiert, wo die Stimme öffentlich abgegeben wird. Bei dem geheimen Wahlmodus verlangen dieselben Agitatoren einfach das Vorzeigen des Stimmzettels... und derjenige Mann, der den Stimmzettel nicht zeigt, wird auf der schwarzen Liste notiert und ist der Wahlrache ganz ebenso ausgesetzt wie bei der öffentlichen Stimm¬ abgabe." Wer das typische Bild des Eingangs zum Reichstagswahllokal in Arbeitervierteln kennt, der weiß genau, was er von der Hoffnung zu halten hat. die jüngst auf dem nationalliberalen Parteitag zur Empfehlung der Einführung der geheimen Stimmabgabe in Preußen ausgesprochen wurde: dadurch werde der Terrorismus der Sozialdemokratie gebrochen werden. Hoffentlich setzt man nicht auch diese Naivität auf das Konto des deutschen Idealismus. Wir sind am Schluß. Wen das eigne Nachdenken dazu führt, sich der Meinung anzuschließen, daß die Einführung des gleichen und geheimen Stimm¬ rechts für die Wahlen zum Abgeordnetenhause den preußischen Staat in Ge¬ fahren stürzen und zugleich dem Neichsschiffe das Minimum von Ballast nehmen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/509
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/509>, abgerufen am 03.07.2024.