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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Neuer deutscher Idealismus

große Verluste erlitten. Das Bürgertum hatte es endlich satt bekommen, sich
seit dem Jenenser Parteitag der Sozialdemokraten mehr oder weniger deutlich
mit den, Massenstreik bedrohen zu lassen und die traurigen Vorgänge in Ru߬
land mit offenbarer Nutzanwendung auf Deutschland von der Rednerbühne und
in den Blättern verherrlicht zu sehen. Das merkte die führende Presse in der
Hauptstadt alles nicht und witzelte noch mit den Sozialdemokraten um die
Wette über die offnen militärischen Vorkehrungen am 21. Januar 1906 in
Berlin gegen die von der roten Internationalen angekündigte Jahresfeier der
russischen Revolution. Die war freilich von den Führern, obgleich Bebel und
Singer den internationalen Aufruf mit unterschrieben hatten, noch rechtzeitig
abgesagt worden, man beschränkte sich auf Redeversammlungen für das all¬
gemeine Wahlrecht, aber die Negierung hatte vorgesorgt, daß sie nicht über¬
rascht werden konnte. In der Bevölkerung verstand man das, und die Witze
der demokratischen Blätter fielen wirkungslos zu Boden.

Berlin ist auch der eigentliche Sitz der Freihandelspresse, die wie in
andern Ländern so auch in Deutschland von alters her eine viel größere Ver¬
breitung hat, als ihren wirklichen Anhängern entspricht. Nach vieljähriger
Vorübung durch die Agitation gegen den Zolltarif nahm sie sich im Vorjahre
die allgemeine Fleischknappheit in Mitteleuropa zum erwünschten Agitations¬
stoff. Infolge des überheißen Sommers hatte das Jahr 1904 eine große
Futternot gebracht, und die Landleute verkauften ihren Viehstand, soweit dies
nur angehn mochte. Die deswegen fallenden Viehpreise fanden in den Fleisch-
Preisen durchaus keine Nachfolge, aber darüber regte sich kein Mensch in der
Presse auf, auch das fleischverzehrende Publikum nicht, denn es wurde ja nichts
teurer. Hätte man nun das lesende Volk darüber aufgeklärt, daß infolge des
stark verminderten Viehstandes in Deutschland selbst, aber auch im größten
Teile von Europa und namentlich in den Zufuhrländern Deutschlands, in den
folgenden Jahren die Schlachtviehpreise steigen müßten, so wäre die mit Not¬
wendigkeit eintretende Flcischteuerung als vorübergehendes Übel ruhig ertragen
worden. Aber daran lag den freihändlerischen Agitatoren nichts, sie hatten ja
schon bei dem Kampf um den Zolltarif so eifrig gegen den "Brotwucher" und
die "Verteuerung der notwendigsten Lebensmittel" gearbeitet, daß richtig die
Sozialdemokraten zum großen Erstaunen des Bürgertums bei den Reichstags¬
wahlen von 1903 mit 81 Mandaten ans der Wahlurne stiegen. Den Frei¬
händlern war das ganz recht, denn die Sozialdemokraten stimmen ja aus Un¬
verstand mit ihnen. Dieser Erfolg ließ sich durch eine geschickte Fleischnothetze
sicher noch vermehren. Man legte sich auch keinen Zwang an und suchte auf
der einen Seite durch Verschweigung der wahren Sachlage (z. B. daß in
Osterreich der Viehmangel noch größer war als bei uns), andrerseits durch
Übertreibung des angeblichen Notstandes und maßlose Beschuldigungen der
"agrarischen" Negierung jenen Sturm in der Bevölkerung zu erregen, der zur
Erreichung des gewollten Ziels: der Durchlöcherung des Zolltarifs, nötig wär.


Neuer deutscher Idealismus

große Verluste erlitten. Das Bürgertum hatte es endlich satt bekommen, sich
seit dem Jenenser Parteitag der Sozialdemokraten mehr oder weniger deutlich
mit den, Massenstreik bedrohen zu lassen und die traurigen Vorgänge in Ru߬
land mit offenbarer Nutzanwendung auf Deutschland von der Rednerbühne und
in den Blättern verherrlicht zu sehen. Das merkte die führende Presse in der
Hauptstadt alles nicht und witzelte noch mit den Sozialdemokraten um die
Wette über die offnen militärischen Vorkehrungen am 21. Januar 1906 in
Berlin gegen die von der roten Internationalen angekündigte Jahresfeier der
russischen Revolution. Die war freilich von den Führern, obgleich Bebel und
Singer den internationalen Aufruf mit unterschrieben hatten, noch rechtzeitig
abgesagt worden, man beschränkte sich auf Redeversammlungen für das all¬
gemeine Wahlrecht, aber die Negierung hatte vorgesorgt, daß sie nicht über¬
rascht werden konnte. In der Bevölkerung verstand man das, und die Witze
der demokratischen Blätter fielen wirkungslos zu Boden.

Berlin ist auch der eigentliche Sitz der Freihandelspresse, die wie in
andern Ländern so auch in Deutschland von alters her eine viel größere Ver¬
breitung hat, als ihren wirklichen Anhängern entspricht. Nach vieljähriger
Vorübung durch die Agitation gegen den Zolltarif nahm sie sich im Vorjahre
die allgemeine Fleischknappheit in Mitteleuropa zum erwünschten Agitations¬
stoff. Infolge des überheißen Sommers hatte das Jahr 1904 eine große
Futternot gebracht, und die Landleute verkauften ihren Viehstand, soweit dies
nur angehn mochte. Die deswegen fallenden Viehpreise fanden in den Fleisch-
Preisen durchaus keine Nachfolge, aber darüber regte sich kein Mensch in der
Presse auf, auch das fleischverzehrende Publikum nicht, denn es wurde ja nichts
teurer. Hätte man nun das lesende Volk darüber aufgeklärt, daß infolge des
stark verminderten Viehstandes in Deutschland selbst, aber auch im größten
Teile von Europa und namentlich in den Zufuhrländern Deutschlands, in den
folgenden Jahren die Schlachtviehpreise steigen müßten, so wäre die mit Not¬
wendigkeit eintretende Flcischteuerung als vorübergehendes Übel ruhig ertragen
worden. Aber daran lag den freihändlerischen Agitatoren nichts, sie hatten ja
schon bei dem Kampf um den Zolltarif so eifrig gegen den „Brotwucher" und
die „Verteuerung der notwendigsten Lebensmittel" gearbeitet, daß richtig die
Sozialdemokraten zum großen Erstaunen des Bürgertums bei den Reichstags¬
wahlen von 1903 mit 81 Mandaten ans der Wahlurne stiegen. Den Frei¬
händlern war das ganz recht, denn die Sozialdemokraten stimmen ja aus Un¬
verstand mit ihnen. Dieser Erfolg ließ sich durch eine geschickte Fleischnothetze
sicher noch vermehren. Man legte sich auch keinen Zwang an und suchte auf
der einen Seite durch Verschweigung der wahren Sachlage (z. B. daß in
Osterreich der Viehmangel noch größer war als bei uns), andrerseits durch
Übertreibung des angeblichen Notstandes und maßlose Beschuldigungen der
»agrarischen" Negierung jenen Sturm in der Bevölkerung zu erregen, der zur
Erreichung des gewollten Ziels: der Durchlöcherung des Zolltarifs, nötig wär.


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[0447] Neuer deutscher Idealismus große Verluste erlitten. Das Bürgertum hatte es endlich satt bekommen, sich seit dem Jenenser Parteitag der Sozialdemokraten mehr oder weniger deutlich mit den, Massenstreik bedrohen zu lassen und die traurigen Vorgänge in Ru߬ land mit offenbarer Nutzanwendung auf Deutschland von der Rednerbühne und in den Blättern verherrlicht zu sehen. Das merkte die führende Presse in der Hauptstadt alles nicht und witzelte noch mit den Sozialdemokraten um die Wette über die offnen militärischen Vorkehrungen am 21. Januar 1906 in Berlin gegen die von der roten Internationalen angekündigte Jahresfeier der russischen Revolution. Die war freilich von den Führern, obgleich Bebel und Singer den internationalen Aufruf mit unterschrieben hatten, noch rechtzeitig abgesagt worden, man beschränkte sich auf Redeversammlungen für das all¬ gemeine Wahlrecht, aber die Negierung hatte vorgesorgt, daß sie nicht über¬ rascht werden konnte. In der Bevölkerung verstand man das, und die Witze der demokratischen Blätter fielen wirkungslos zu Boden. Berlin ist auch der eigentliche Sitz der Freihandelspresse, die wie in andern Ländern so auch in Deutschland von alters her eine viel größere Ver¬ breitung hat, als ihren wirklichen Anhängern entspricht. Nach vieljähriger Vorübung durch die Agitation gegen den Zolltarif nahm sie sich im Vorjahre die allgemeine Fleischknappheit in Mitteleuropa zum erwünschten Agitations¬ stoff. Infolge des überheißen Sommers hatte das Jahr 1904 eine große Futternot gebracht, und die Landleute verkauften ihren Viehstand, soweit dies nur angehn mochte. Die deswegen fallenden Viehpreise fanden in den Fleisch- Preisen durchaus keine Nachfolge, aber darüber regte sich kein Mensch in der Presse auf, auch das fleischverzehrende Publikum nicht, denn es wurde ja nichts teurer. Hätte man nun das lesende Volk darüber aufgeklärt, daß infolge des stark verminderten Viehstandes in Deutschland selbst, aber auch im größten Teile von Europa und namentlich in den Zufuhrländern Deutschlands, in den folgenden Jahren die Schlachtviehpreise steigen müßten, so wäre die mit Not¬ wendigkeit eintretende Flcischteuerung als vorübergehendes Übel ruhig ertragen worden. Aber daran lag den freihändlerischen Agitatoren nichts, sie hatten ja schon bei dem Kampf um den Zolltarif so eifrig gegen den „Brotwucher" und die „Verteuerung der notwendigsten Lebensmittel" gearbeitet, daß richtig die Sozialdemokraten zum großen Erstaunen des Bürgertums bei den Reichstags¬ wahlen von 1903 mit 81 Mandaten ans der Wahlurne stiegen. Den Frei¬ händlern war das ganz recht, denn die Sozialdemokraten stimmen ja aus Un¬ verstand mit ihnen. Dieser Erfolg ließ sich durch eine geschickte Fleischnothetze sicher noch vermehren. Man legte sich auch keinen Zwang an und suchte auf der einen Seite durch Verschweigung der wahren Sachlage (z. B. daß in Osterreich der Viehmangel noch größer war als bei uns), andrerseits durch Übertreibung des angeblichen Notstandes und maßlose Beschuldigungen der »agrarischen" Negierung jenen Sturm in der Bevölkerung zu erregen, der zur Erreichung des gewollten Ziels: der Durchlöcherung des Zolltarifs, nötig wär.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/447>, abgerufen am 23.07.2024.