Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Mehl- und Ostdeutsch

Völker, nicht Rassen, und man operiert daneben auch gern mit dem Unterschiede
der Stämme, die doch selbst wieder das Produkt von Mischungen verschiedner
Elemente sind, keineswegs etwas schlechthin Einheitliches, noch weniger etwas
Unveränderliches. Häusig spricht man sogar von Stämmen, wo man korrekter¬
weise von Staaten reden müßte, von der "Einigung der deutschen Stämme"
statt der deutschen "Staaten" 1870/71, und man vergißt ganz, daß die
"Stämme", seitdem das deutsche Kaisertum des Mittelalters die alten Stamm¬
staaten der Sachsen, Bayern, Schwaben, Franken u. a. zertrümmert hat, eine
seiner größten und folgenreichsten Taten, überhaupt keine politischen Rechtssubjekte
mehr sind, sondern nur die Staaten, daß keiner von diesen auch nur das Gebiet
eines der alten Stämme vollständig umfaßt (auch Bayern, der einzige, der den
Namen eines dieser Stämme mit Recht führt, ist zur Hälfte schwäbisch und
fränkisch), daß vielmehr die größern Staaten mehrere Stämme oder größere
Teile solcher (Preußen aller außer dem bayrischen), die kleinern nnr Bruchstücke
eines einzigen vereinigen, daß auch das Sonderbewnßtsein viel mehr an dem
Einzelstaat als an dem Stamme haftet, der nur noch in Charaktereigentümlich¬
keit, Sitte und Mundart fortlebt, aber durch fortgesetzte Volksmischung, wie sie
die moderne Zeit mit sich bringt, fortgesetzte Veränderungen erleidet.

Doch kehren wir zu den alten Grundlagen zurück. Wenn wir auch von
der Mischung der wirklichen Rassen auf jetzt deutschem Boden absehen, die von
Norden nach Süden zunimmt, sodaß in der norddeutschen Tiefebene die blonde
nordische Nasse am reinsten auftritt, im Süden gemischt mit der alpinen Rasse,
es steht doch fest, daß die Westdeutschen einen keltisch-romanischen Zuschuß, die
Ostdeutschen einen stärkern slawischen im Blute haben. Aber wenn man daraus
allein oder vorwiegend den jetzt mit Vorliebe betonten Unterschied zwischen Ost
und West ableiten will, so ist das einseitig und also falsch. Ebenso wichtig
oder noch wichtiger ist die geschichtliche Entwicklung. Und bei dieser wird jetzt
der allerwichtigste Zug meist übersehen (wie beiläufig auch dann, wenn man die
uralte europäische und die ganz junge amerikanische Kultur als etwas Gleich¬
artiges behandelt), daß nämlich der gesamte Osten, das jetzt so viel und oft
so höflich verkannte und unterschätzte "Ostelbien", das weite Land im Osten der
Elbe und Saale, das alte Kolonialland, der Westen das Mutterland ist. Diese
westlichen Gebiete sind seit der Urzeit deutsch, aber im strengsten Sinne gilt das
nur für den schmalen Raum zwischen Elbe, Weser, Thüringer Wald und Nordsee
und auch von diesem dann nicht, wenn die Elbe zu Alexanders des Großen Zeit
wirklich die Grenze zwischen den Kelten und den "Skythen", das heißt hier den
Germanen bezeichnete, nur im weitern Sinne von dem Lande bis an den Rhein
und gar nicht von dem heutigen bis ins dritte Jahrhundert hinein keltisch-ro¬
manischen südwestlichen Deutschland jenseits des Thüringer Waldes und der
sich ihm westlich anschließenden Gebirge, der alten silva Rsrevum, der Grenz¬
scheide, die als ein undurchdringlicher, nach Cäsar neun Tagereisen breiter (etwa
270 Kilometer) und mehr als sechzig Tagereisen (also mindestens 1800 Kilometer)


Grenzboten IV 1907 24
Mehl- und Ostdeutsch

Völker, nicht Rassen, und man operiert daneben auch gern mit dem Unterschiede
der Stämme, die doch selbst wieder das Produkt von Mischungen verschiedner
Elemente sind, keineswegs etwas schlechthin Einheitliches, noch weniger etwas
Unveränderliches. Häusig spricht man sogar von Stämmen, wo man korrekter¬
weise von Staaten reden müßte, von der „Einigung der deutschen Stämme"
statt der deutschen „Staaten" 1870/71, und man vergißt ganz, daß die
„Stämme", seitdem das deutsche Kaisertum des Mittelalters die alten Stamm¬
staaten der Sachsen, Bayern, Schwaben, Franken u. a. zertrümmert hat, eine
seiner größten und folgenreichsten Taten, überhaupt keine politischen Rechtssubjekte
mehr sind, sondern nur die Staaten, daß keiner von diesen auch nur das Gebiet
eines der alten Stämme vollständig umfaßt (auch Bayern, der einzige, der den
Namen eines dieser Stämme mit Recht führt, ist zur Hälfte schwäbisch und
fränkisch), daß vielmehr die größern Staaten mehrere Stämme oder größere
Teile solcher (Preußen aller außer dem bayrischen), die kleinern nnr Bruchstücke
eines einzigen vereinigen, daß auch das Sonderbewnßtsein viel mehr an dem
Einzelstaat als an dem Stamme haftet, der nur noch in Charaktereigentümlich¬
keit, Sitte und Mundart fortlebt, aber durch fortgesetzte Volksmischung, wie sie
die moderne Zeit mit sich bringt, fortgesetzte Veränderungen erleidet.

Doch kehren wir zu den alten Grundlagen zurück. Wenn wir auch von
der Mischung der wirklichen Rassen auf jetzt deutschem Boden absehen, die von
Norden nach Süden zunimmt, sodaß in der norddeutschen Tiefebene die blonde
nordische Nasse am reinsten auftritt, im Süden gemischt mit der alpinen Rasse,
es steht doch fest, daß die Westdeutschen einen keltisch-romanischen Zuschuß, die
Ostdeutschen einen stärkern slawischen im Blute haben. Aber wenn man daraus
allein oder vorwiegend den jetzt mit Vorliebe betonten Unterschied zwischen Ost
und West ableiten will, so ist das einseitig und also falsch. Ebenso wichtig
oder noch wichtiger ist die geschichtliche Entwicklung. Und bei dieser wird jetzt
der allerwichtigste Zug meist übersehen (wie beiläufig auch dann, wenn man die
uralte europäische und die ganz junge amerikanische Kultur als etwas Gleich¬
artiges behandelt), daß nämlich der gesamte Osten, das jetzt so viel und oft
so höflich verkannte und unterschätzte „Ostelbien", das weite Land im Osten der
Elbe und Saale, das alte Kolonialland, der Westen das Mutterland ist. Diese
westlichen Gebiete sind seit der Urzeit deutsch, aber im strengsten Sinne gilt das
nur für den schmalen Raum zwischen Elbe, Weser, Thüringer Wald und Nordsee
und auch von diesem dann nicht, wenn die Elbe zu Alexanders des Großen Zeit
wirklich die Grenze zwischen den Kelten und den „Skythen", das heißt hier den
Germanen bezeichnete, nur im weitern Sinne von dem Lande bis an den Rhein
und gar nicht von dem heutigen bis ins dritte Jahrhundert hinein keltisch-ro¬
manischen südwestlichen Deutschland jenseits des Thüringer Waldes und der
sich ihm westlich anschließenden Gebirge, der alten silva Rsrevum, der Grenz¬
scheide, die als ein undurchdringlicher, nach Cäsar neun Tagereisen breiter (etwa
270 Kilometer) und mehr als sechzig Tagereisen (also mindestens 1800 Kilometer)


Grenzboten IV 1907 24
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0189" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/303605"/>
          <fw type="header" place="top"> Mehl- und Ostdeutsch</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_754" prev="#ID_753"> Völker, nicht Rassen, und man operiert daneben auch gern mit dem Unterschiede<lb/>
der Stämme, die doch selbst wieder das Produkt von Mischungen verschiedner<lb/>
Elemente sind, keineswegs etwas schlechthin Einheitliches, noch weniger etwas<lb/>
Unveränderliches. Häusig spricht man sogar von Stämmen, wo man korrekter¬<lb/>
weise von Staaten reden müßte, von der &#x201E;Einigung der deutschen Stämme"<lb/>
statt der deutschen &#x201E;Staaten" 1870/71, und man vergißt ganz, daß die<lb/>
&#x201E;Stämme", seitdem das deutsche Kaisertum des Mittelalters die alten Stamm¬<lb/>
staaten der Sachsen, Bayern, Schwaben, Franken u. a. zertrümmert hat, eine<lb/>
seiner größten und folgenreichsten Taten, überhaupt keine politischen Rechtssubjekte<lb/>
mehr sind, sondern nur die Staaten, daß keiner von diesen auch nur das Gebiet<lb/>
eines der alten Stämme vollständig umfaßt (auch Bayern, der einzige, der den<lb/>
Namen eines dieser Stämme mit Recht führt, ist zur Hälfte schwäbisch und<lb/>
fränkisch), daß vielmehr die größern Staaten mehrere Stämme oder größere<lb/>
Teile solcher (Preußen aller außer dem bayrischen), die kleinern nnr Bruchstücke<lb/>
eines einzigen vereinigen, daß auch das Sonderbewnßtsein viel mehr an dem<lb/>
Einzelstaat als an dem Stamme haftet, der nur noch in Charaktereigentümlich¬<lb/>
keit, Sitte und Mundart fortlebt, aber durch fortgesetzte Volksmischung, wie sie<lb/>
die moderne Zeit mit sich bringt, fortgesetzte Veränderungen erleidet.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_755" next="#ID_756"> Doch kehren wir zu den alten Grundlagen zurück. Wenn wir auch von<lb/>
der Mischung der wirklichen Rassen auf jetzt deutschem Boden absehen, die von<lb/>
Norden nach Süden zunimmt, sodaß in der norddeutschen Tiefebene die blonde<lb/>
nordische Nasse am reinsten auftritt, im Süden gemischt mit der alpinen Rasse,<lb/>
es steht doch fest, daß die Westdeutschen einen keltisch-romanischen Zuschuß, die<lb/>
Ostdeutschen einen stärkern slawischen im Blute haben. Aber wenn man daraus<lb/>
allein oder vorwiegend den jetzt mit Vorliebe betonten Unterschied zwischen Ost<lb/>
und West ableiten will, so ist das einseitig und also falsch. Ebenso wichtig<lb/>
oder noch wichtiger ist die geschichtliche Entwicklung. Und bei dieser wird jetzt<lb/>
der allerwichtigste Zug meist übersehen (wie beiläufig auch dann, wenn man die<lb/>
uralte europäische und die ganz junge amerikanische Kultur als etwas Gleich¬<lb/>
artiges behandelt), daß nämlich der gesamte Osten, das jetzt so viel und oft<lb/>
so höflich verkannte und unterschätzte &#x201E;Ostelbien", das weite Land im Osten der<lb/>
Elbe und Saale, das alte Kolonialland, der Westen das Mutterland ist. Diese<lb/>
westlichen Gebiete sind seit der Urzeit deutsch, aber im strengsten Sinne gilt das<lb/>
nur für den schmalen Raum zwischen Elbe, Weser, Thüringer Wald und Nordsee<lb/>
und auch von diesem dann nicht, wenn die Elbe zu Alexanders des Großen Zeit<lb/>
wirklich die Grenze zwischen den Kelten und den &#x201E;Skythen", das heißt hier den<lb/>
Germanen bezeichnete, nur im weitern Sinne von dem Lande bis an den Rhein<lb/>
und gar nicht von dem heutigen bis ins dritte Jahrhundert hinein keltisch-ro¬<lb/>
manischen südwestlichen Deutschland jenseits des Thüringer Waldes und der<lb/>
sich ihm westlich anschließenden Gebirge, der alten silva Rsrevum, der Grenz¬<lb/>
scheide, die als ein undurchdringlicher, nach Cäsar neun Tagereisen breiter (etwa<lb/>
270 Kilometer) und mehr als sechzig Tagereisen (also mindestens 1800 Kilometer)</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV 1907 24</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0189] Mehl- und Ostdeutsch Völker, nicht Rassen, und man operiert daneben auch gern mit dem Unterschiede der Stämme, die doch selbst wieder das Produkt von Mischungen verschiedner Elemente sind, keineswegs etwas schlechthin Einheitliches, noch weniger etwas Unveränderliches. Häusig spricht man sogar von Stämmen, wo man korrekter¬ weise von Staaten reden müßte, von der „Einigung der deutschen Stämme" statt der deutschen „Staaten" 1870/71, und man vergißt ganz, daß die „Stämme", seitdem das deutsche Kaisertum des Mittelalters die alten Stamm¬ staaten der Sachsen, Bayern, Schwaben, Franken u. a. zertrümmert hat, eine seiner größten und folgenreichsten Taten, überhaupt keine politischen Rechtssubjekte mehr sind, sondern nur die Staaten, daß keiner von diesen auch nur das Gebiet eines der alten Stämme vollständig umfaßt (auch Bayern, der einzige, der den Namen eines dieser Stämme mit Recht führt, ist zur Hälfte schwäbisch und fränkisch), daß vielmehr die größern Staaten mehrere Stämme oder größere Teile solcher (Preußen aller außer dem bayrischen), die kleinern nnr Bruchstücke eines einzigen vereinigen, daß auch das Sonderbewnßtsein viel mehr an dem Einzelstaat als an dem Stamme haftet, der nur noch in Charaktereigentümlich¬ keit, Sitte und Mundart fortlebt, aber durch fortgesetzte Volksmischung, wie sie die moderne Zeit mit sich bringt, fortgesetzte Veränderungen erleidet. Doch kehren wir zu den alten Grundlagen zurück. Wenn wir auch von der Mischung der wirklichen Rassen auf jetzt deutschem Boden absehen, die von Norden nach Süden zunimmt, sodaß in der norddeutschen Tiefebene die blonde nordische Nasse am reinsten auftritt, im Süden gemischt mit der alpinen Rasse, es steht doch fest, daß die Westdeutschen einen keltisch-romanischen Zuschuß, die Ostdeutschen einen stärkern slawischen im Blute haben. Aber wenn man daraus allein oder vorwiegend den jetzt mit Vorliebe betonten Unterschied zwischen Ost und West ableiten will, so ist das einseitig und also falsch. Ebenso wichtig oder noch wichtiger ist die geschichtliche Entwicklung. Und bei dieser wird jetzt der allerwichtigste Zug meist übersehen (wie beiläufig auch dann, wenn man die uralte europäische und die ganz junge amerikanische Kultur als etwas Gleich¬ artiges behandelt), daß nämlich der gesamte Osten, das jetzt so viel und oft so höflich verkannte und unterschätzte „Ostelbien", das weite Land im Osten der Elbe und Saale, das alte Kolonialland, der Westen das Mutterland ist. Diese westlichen Gebiete sind seit der Urzeit deutsch, aber im strengsten Sinne gilt das nur für den schmalen Raum zwischen Elbe, Weser, Thüringer Wald und Nordsee und auch von diesem dann nicht, wenn die Elbe zu Alexanders des Großen Zeit wirklich die Grenze zwischen den Kelten und den „Skythen", das heißt hier den Germanen bezeichnete, nur im weitern Sinne von dem Lande bis an den Rhein und gar nicht von dem heutigen bis ins dritte Jahrhundert hinein keltisch-ro¬ manischen südwestlichen Deutschland jenseits des Thüringer Waldes und der sich ihm westlich anschließenden Gebirge, der alten silva Rsrevum, der Grenz¬ scheide, die als ein undurchdringlicher, nach Cäsar neun Tagereisen breiter (etwa 270 Kilometer) und mehr als sechzig Tagereisen (also mindestens 1800 Kilometer) Grenzboten IV 1907 24

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/189
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/189>, abgerufen am 01.07.2024.