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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Sevilla

bunte und zwängen sich zwischen flachen fetten Wiesen durch. Auf diesen Wiesen
weidete einst Geryon seine göttlichen Herden, aber er mußte sie uach Verlauf
weniger Tage in die himmlischen Gefilde hinausbefördern, weil sie bei längerm
Verweilen hienieden vor Fett zu bersten drohten. Nun sind diese Wiesen Eigen¬
tum der großen Viehzüchtereien, die Spaniens zahlreiche Armen versorgen; und
auf ihnen grasen Tausende wilder Stiere mit mächtigen Hörnern. Alle Reisenden
gehn hier in weitem Bogen herum, und die einzige Kenntnis, die die Stiere
von den Menschen haben, besteht darin, daß dann und wann ein Reiter mit
langer spitzer Lanze mitten zwischen sie hineinführt, um ihren Blutdurst zu
erproben. Er jagt ebenso rasch fort, wie er gekommen ist, und die Tiere stoßen
in ohnmächtigem Zorn die Hörner in den Wiesengrund. Und so oft ein Schiff
passiert, laufen sie zum Ufer hinunter und stehn und brüllen ihm herausfordernd
nach. Die lachlustiger Seeleute finden gegen ihre Gewohnheit hierin keinen
Anlaß zur Heiterkeit. Sie gehn jeder abseits, überzählen in Gedanken ihre
Löhnung und spähen hinein nach La Giralda und nach der fröhlichen Stadt.

Und die Tausende von Ausländern, die im April von allen Enden der
Welt zuströmen, um La Feria, den Ostermarkt, und die großen Auferstehungs¬
feste zu sehn, die als die vornehmsten Stiergefechte der Welt gelten, sie beugen
sich weit aus dem Coupefenster hinaus und ergehn sich in begeisterten Ausrufen,
wenn sie die leuchtende Spitze des Turmes in der Ferne unterscheiden. La
Giralda ist 350 Fuß hoch. Ein strahlender Leuchtturm der Freude, winkt er
weit hinaus, den Reisenden zur Botschaft: an seinem Fuße liege eine Klippe,
an der zu stranden herrlich sei. La Giralda bedeutet die Windfahne, der Wetter-
Hahn; und zuoberst auf dem Turme steht eine Bronzefigur -- ein Weib. Es
ist vierzehn Fuß hoch, wiegt etwa dreitausend Pfund und stellt den Glauben
vor -- und es dreht sich bei dem leisesten Winde.

Welch ein Symbol der Stadt da unten!

Sevilla hat eine glänzende Geschichte, die -- wie fast die aller südeuropäischen
Städte -- weit in das Altertum zurückreicht.

Soweit wir zurückschauen können, glitzert die Stadt in Sonnenfreude, stets
festlich gekleidet, stets feiernd und gefeiert, unter dem Schutze des mächtigen
Sonnengottes und der schönen Liebesgöttin. Jedes Jahr, wenn die Sonne am
höchsten auf ihrer Bahn stand, wurde das Bild der Liebesgöttin von den vor¬
nehmsten Schönheiten im Triumph durch die Stadt getragen. Die jungen
Mädchen, die ihr nicht rückhaltlos opferten, wurden zum Tode verurteilt, aber
die Sage kennt durch all die Zeiten nur zwei solche Widerspenstige, die Schwestern
Justa und Rufina. Das fröhliche Volk machte hinterher die beiden keuschen
Schwestern zu Heiligen; und noch heutigentags sind sie Sevillas Schutzpatro¬
ninnen und werden mit jener kalten Ehrfurcht verehrt, die die Menschen dem
Unerreichbarem weihen. Nun hat die Mutter Gottes zu all ihren übrigen
Obliegenheiten auch die des Sonnengottes übernommen, und von allen ihren
etwa dreißig Verkörperungen steht dem Herzen des Sevillcmers keine näher als


Sevilla

bunte und zwängen sich zwischen flachen fetten Wiesen durch. Auf diesen Wiesen
weidete einst Geryon seine göttlichen Herden, aber er mußte sie uach Verlauf
weniger Tage in die himmlischen Gefilde hinausbefördern, weil sie bei längerm
Verweilen hienieden vor Fett zu bersten drohten. Nun sind diese Wiesen Eigen¬
tum der großen Viehzüchtereien, die Spaniens zahlreiche Armen versorgen; und
auf ihnen grasen Tausende wilder Stiere mit mächtigen Hörnern. Alle Reisenden
gehn hier in weitem Bogen herum, und die einzige Kenntnis, die die Stiere
von den Menschen haben, besteht darin, daß dann und wann ein Reiter mit
langer spitzer Lanze mitten zwischen sie hineinführt, um ihren Blutdurst zu
erproben. Er jagt ebenso rasch fort, wie er gekommen ist, und die Tiere stoßen
in ohnmächtigem Zorn die Hörner in den Wiesengrund. Und so oft ein Schiff
passiert, laufen sie zum Ufer hinunter und stehn und brüllen ihm herausfordernd
nach. Die lachlustiger Seeleute finden gegen ihre Gewohnheit hierin keinen
Anlaß zur Heiterkeit. Sie gehn jeder abseits, überzählen in Gedanken ihre
Löhnung und spähen hinein nach La Giralda und nach der fröhlichen Stadt.

Und die Tausende von Ausländern, die im April von allen Enden der
Welt zuströmen, um La Feria, den Ostermarkt, und die großen Auferstehungs¬
feste zu sehn, die als die vornehmsten Stiergefechte der Welt gelten, sie beugen
sich weit aus dem Coupefenster hinaus und ergehn sich in begeisterten Ausrufen,
wenn sie die leuchtende Spitze des Turmes in der Ferne unterscheiden. La
Giralda ist 350 Fuß hoch. Ein strahlender Leuchtturm der Freude, winkt er
weit hinaus, den Reisenden zur Botschaft: an seinem Fuße liege eine Klippe,
an der zu stranden herrlich sei. La Giralda bedeutet die Windfahne, der Wetter-
Hahn; und zuoberst auf dem Turme steht eine Bronzefigur — ein Weib. Es
ist vierzehn Fuß hoch, wiegt etwa dreitausend Pfund und stellt den Glauben
vor — und es dreht sich bei dem leisesten Winde.

Welch ein Symbol der Stadt da unten!

Sevilla hat eine glänzende Geschichte, die — wie fast die aller südeuropäischen
Städte — weit in das Altertum zurückreicht.

Soweit wir zurückschauen können, glitzert die Stadt in Sonnenfreude, stets
festlich gekleidet, stets feiernd und gefeiert, unter dem Schutze des mächtigen
Sonnengottes und der schönen Liebesgöttin. Jedes Jahr, wenn die Sonne am
höchsten auf ihrer Bahn stand, wurde das Bild der Liebesgöttin von den vor¬
nehmsten Schönheiten im Triumph durch die Stadt getragen. Die jungen
Mädchen, die ihr nicht rückhaltlos opferten, wurden zum Tode verurteilt, aber
die Sage kennt durch all die Zeiten nur zwei solche Widerspenstige, die Schwestern
Justa und Rufina. Das fröhliche Volk machte hinterher die beiden keuschen
Schwestern zu Heiligen; und noch heutigentags sind sie Sevillas Schutzpatro¬
ninnen und werden mit jener kalten Ehrfurcht verehrt, die die Menschen dem
Unerreichbarem weihen. Nun hat die Mutter Gottes zu all ihren übrigen
Obliegenheiten auch die des Sonnengottes übernommen, und von allen ihren
etwa dreißig Verkörperungen steht dem Herzen des Sevillcmers keine näher als


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/634>, abgerufen am 04.12.2024.