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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Neues von Seilliere und über Gobineau

den gesellschaftlichen Beziehungen. Konflikten. Einrichtungen und Sitten entwickelt,
und solange er es nicht hatte, konnte er auch nichts Böses tun, erfreute sich
also der Schuldlosigkeit des Tieres. Ist der Mensch, wie die Kirche lehrt, von
Gott gerecht und heilig erschaffen worden, so war doch diese Gerechtigkeit und
Heiligkeit nur in der Anlage vorhanden und konnte erst im Verkehr in,t seines¬
gleichen entwickelt werden. Der Unterschied zwischen dem biblischen Adam und
dem hypothetischen Tiermenschen kann so gedacht werden, daß schon beim ersten
Handeln sich das Gewissen in ihm geregt habe, und die Allegorie vom Sünden¬
fall wird darin Recht haben, daß gleich die ersten Schritte auf dem Lebens¬
wege zu Konflikten zwischen Vernunft und Begier führten, in denen jene manch¬
mal unterlag. Aber ohne diese Konflikte und Niederlagen würde es auch keine
Siege, keine Tugenden und überhaupt keine Moralität gegeben haben. Es gilt
auch von der Kulturentwicklung, was wir soeben vom Machtstreben gesagt
haben, sie macht den Menschen nicht gut oder böse, sondern sie ermöglicht es
ihm. ja sie zwingt ihn. seine Güte oder Bosheit auf das mannigfaltigste zu
betätigen oder seine Schlechtigkeit, seine Unbrauchbarkeit zu offenbaren. Die
verschiednen Kulturstufen und Kulturarten entwickeln nun verschiedne gute und
schlimme Eigenschaften. Der Bauer sündigt selbstverständlich nicht durch Üppig¬
keit und raffinierter Sinnengenuß -- den groben und einfachen verschmäht er
keineswegs, wenn er ihn ohne Geldkosten und ohne Störung seiner Wirtschaft
haben kann --; er ist ein gefälliger Nachbar, fleißig und sparsam; doch zeigt
sein Charakter 'auch Schattenseiten, die ja jedermann kennt. Rousseau hatte
nur die Lichtseiten ins Auge gefaßt, die ja als Kontrast zum Leben der da¬
maligen vornehmen Pariser sehr stark auf ihn wirken mußten, und wie immer
die "Wilden", die er nicht aus eigner Anschauung kannte, beschaffen sein mochten,
in der Annahme irrte er ja gewiß nicht, daß sie weder durch übermäßigen
Theaterbesuch noch durch literarische Intrigen sündigten, also insofern bessere
Menschen waren. Arme Lohnarbeiter wissen, wie der Hunger tut, und eine
Fabrikarbeiterin kennt die Sorge um die zu Hause allein gelassenen Kinder; darum
werden großstädtische Fabrikarbeiter gewöhnlich mit andern Armen Mitleid haben
und sich der Kinder ihrer abwesenden Nachbarn und Nachbarinnen annehmen,
auch sonst einander in Nöten hilfreich beispringen. Aus solchen Wahrnehmungen
haben Marx und seine Gläubigen gefolgert, daß der "Proletarier" der moralische
Mensch exoelloueo, der eigentliche Seelenaristokrat sei. und haben den Bour¬
geois, dem sich keine Gelegenheit darbietet, sich in solcher Weise zu Wütigen
(die Philanthropen unter den Bourgeois suchen jedoch die Gelegenheit auf), als
die Verkörperung des bösen Prinzips verschrien. Daß mancher Bourgeois mit
andern Vorzügen glänzt, die dem Lohnarbeiter fehlen, und daß er nicht selten
auch dieselben Tugenden hat. nur sie anders übt, wird übersehen. Das laßt
sich nun verallgemeinern: Berufsstand, Kulturstufe. Wohnort. Zeitumstände
schaffen die Form, in der sich die guten wie die minder guten Eigenschaften und
Anlagen der Einzelnen betätigen.


Neues von Seilliere und über Gobineau

den gesellschaftlichen Beziehungen. Konflikten. Einrichtungen und Sitten entwickelt,
und solange er es nicht hatte, konnte er auch nichts Böses tun, erfreute sich
also der Schuldlosigkeit des Tieres. Ist der Mensch, wie die Kirche lehrt, von
Gott gerecht und heilig erschaffen worden, so war doch diese Gerechtigkeit und
Heiligkeit nur in der Anlage vorhanden und konnte erst im Verkehr in,t seines¬
gleichen entwickelt werden. Der Unterschied zwischen dem biblischen Adam und
dem hypothetischen Tiermenschen kann so gedacht werden, daß schon beim ersten
Handeln sich das Gewissen in ihm geregt habe, und die Allegorie vom Sünden¬
fall wird darin Recht haben, daß gleich die ersten Schritte auf dem Lebens¬
wege zu Konflikten zwischen Vernunft und Begier führten, in denen jene manch¬
mal unterlag. Aber ohne diese Konflikte und Niederlagen würde es auch keine
Siege, keine Tugenden und überhaupt keine Moralität gegeben haben. Es gilt
auch von der Kulturentwicklung, was wir soeben vom Machtstreben gesagt
haben, sie macht den Menschen nicht gut oder böse, sondern sie ermöglicht es
ihm. ja sie zwingt ihn. seine Güte oder Bosheit auf das mannigfaltigste zu
betätigen oder seine Schlechtigkeit, seine Unbrauchbarkeit zu offenbaren. Die
verschiednen Kulturstufen und Kulturarten entwickeln nun verschiedne gute und
schlimme Eigenschaften. Der Bauer sündigt selbstverständlich nicht durch Üppig¬
keit und raffinierter Sinnengenuß — den groben und einfachen verschmäht er
keineswegs, wenn er ihn ohne Geldkosten und ohne Störung seiner Wirtschaft
haben kann —; er ist ein gefälliger Nachbar, fleißig und sparsam; doch zeigt
sein Charakter 'auch Schattenseiten, die ja jedermann kennt. Rousseau hatte
nur die Lichtseiten ins Auge gefaßt, die ja als Kontrast zum Leben der da¬
maligen vornehmen Pariser sehr stark auf ihn wirken mußten, und wie immer
die „Wilden", die er nicht aus eigner Anschauung kannte, beschaffen sein mochten,
in der Annahme irrte er ja gewiß nicht, daß sie weder durch übermäßigen
Theaterbesuch noch durch literarische Intrigen sündigten, also insofern bessere
Menschen waren. Arme Lohnarbeiter wissen, wie der Hunger tut, und eine
Fabrikarbeiterin kennt die Sorge um die zu Hause allein gelassenen Kinder; darum
werden großstädtische Fabrikarbeiter gewöhnlich mit andern Armen Mitleid haben
und sich der Kinder ihrer abwesenden Nachbarn und Nachbarinnen annehmen,
auch sonst einander in Nöten hilfreich beispringen. Aus solchen Wahrnehmungen
haben Marx und seine Gläubigen gefolgert, daß der „Proletarier" der moralische
Mensch exoelloueo, der eigentliche Seelenaristokrat sei. und haben den Bour¬
geois, dem sich keine Gelegenheit darbietet, sich in solcher Weise zu Wütigen
(die Philanthropen unter den Bourgeois suchen jedoch die Gelegenheit auf), als
die Verkörperung des bösen Prinzips verschrien. Daß mancher Bourgeois mit
andern Vorzügen glänzt, die dem Lohnarbeiter fehlen, und daß er nicht selten
auch dieselben Tugenden hat. nur sie anders übt, wird übersehen. Das laßt
sich nun verallgemeinern: Berufsstand, Kulturstufe. Wohnort. Zeitumstände
schaffen die Form, in der sich die guten wie die minder guten Eigenschaften und
Anlagen der Einzelnen betätigen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/623>, abgerufen am 01.09.2024.