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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Neues von Leittiere und über Gobineau

Bourgeoisie. Das Herrschaftsstreben der starken Persönlichkeiten und Völker
ist sittlich berechtigt, ist gesund, dient zu ihrem eignen Wohle wie zu dem der
Unterworfnen. Herrschaftsverhältnisse und Kulturerzeugnisse sind biologische Not¬
wendigkeiten und auf das innigste mit Moral, Sitte und Recht verflochten, die
ihrerseits biologische Notwendigkeiten sind, der Erhaltung, Erhöhung und Ver¬
vollkommnung des Individuums wie der Gattung dienen. Das Ideal, dem die
Entwicklung des Menschengeschlechts zustrebt, ist allerdings nicht eine Abstufung
von Abhängigkeits- und Herrschaftsverhältnissen -- diese sind nur Mittel --,
sondern der "stoische Anarchismus", womit ein Zustand gemeint ist, in dem
ein jeder sich nach den Geboten des kategorischen Imperativs selbst beherrscht
und aus solchem Leben aller nach derselben Richtschnur die vollkommenste Har¬
monie hervorgeht. Den Weg zu diesem Ziele, die Herrschaft der Besten zur
Erziehung der übrigen, verwerfen, nennt er ungesunde Romantik oder roman¬
tischen Imperialismus. Das vermeintliche Ziel beleuchtet er nicht näher (in
Heller Beleuchtung würde es zerfließen; einmal scheint er es selbst eine Utopie
zu nennen; es ist nichts andres als das vollendete Reich Gottes, das die Kirche
weislich ins Jenseits verlegt hat). Er erwähnt es nur flüchtig ein paarmal.
Von Rousseaus Gesellschaftsvertrag schreibt er, man müsse diesen "romantischen
Sozialismus zwar abweisen, aber mit Kant die stoische Anarchie swarum nicht
lieber das neutestamentliche Ideal, wie es besonders im achten Kapitel des
Römerbriefes und im vierten des Galaterbriefes gezeichnet wird?j als letzten
Zweck der Menschheit auf Erden anerkennen". Nicht als letzten Zweck, sondern
als Endzustand, wofern, was sehr unwahrscheinlich ist, ein vollkommner End¬
zustand auf dieser Erde möglich und vou Gott der Entwicklung als Ziel gesetzt
sein sollte. Und von Proudhons Anarchie heißt es, sie sei "eine Anarchie im
stoischen und kantischen Sinne des Wortes, d. h. das vornehmste ethische Ideal
des Menschen". Auf die Ethik nämlich hat es Seilliere in diesem Bande abge¬
sehen. In einer Anmerkung schreibt er: "Der Sinn des Wortes Imperialis¬
mus ist so weit geworden, daß Dr. W. Borgius kürzlich eine Broschüre
"Imperialismus" veröffentlicht hat, in der er ihn, so gut es geht, zu definieren
sucht. Zu diesem Zweck hat er sich an einige englische, amerikanische, französische
und deutsche Soziologen gewandt, ohne übrigens sehr tröstliche Auskunft zu
erlangen. Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich diese Verwirrung noch ver¬
mehre, indem ich das Wort auch auf das Gebiet der Moralphilosophie über¬
trage."

Die Verwirrung, die so schon groß genug ist, uoch zu vermehren, war
wirklich recht überflüssig. Ich meine nicht die Verwirrung in der Begriffs¬
bestimmung von Imperialismus, sondern in den Ansichten über die Gegenstände,
die hier in das Jmperialismusschema hineingezwängt werden. Es sind alte
und oft genug, auch in den Grenzboten, behandelte Gegenstände, die aber doch,
da eben die Ansichten darüber vorläufig noch weit auseinandergehn, von Zeit
zu Zeit immer wieder einmal vorgenommen werden müssen. Es handelt sich


Neues von Leittiere und über Gobineau

Bourgeoisie. Das Herrschaftsstreben der starken Persönlichkeiten und Völker
ist sittlich berechtigt, ist gesund, dient zu ihrem eignen Wohle wie zu dem der
Unterworfnen. Herrschaftsverhältnisse und Kulturerzeugnisse sind biologische Not¬
wendigkeiten und auf das innigste mit Moral, Sitte und Recht verflochten, die
ihrerseits biologische Notwendigkeiten sind, der Erhaltung, Erhöhung und Ver¬
vollkommnung des Individuums wie der Gattung dienen. Das Ideal, dem die
Entwicklung des Menschengeschlechts zustrebt, ist allerdings nicht eine Abstufung
von Abhängigkeits- und Herrschaftsverhältnissen — diese sind nur Mittel —,
sondern der „stoische Anarchismus", womit ein Zustand gemeint ist, in dem
ein jeder sich nach den Geboten des kategorischen Imperativs selbst beherrscht
und aus solchem Leben aller nach derselben Richtschnur die vollkommenste Har¬
monie hervorgeht. Den Weg zu diesem Ziele, die Herrschaft der Besten zur
Erziehung der übrigen, verwerfen, nennt er ungesunde Romantik oder roman¬
tischen Imperialismus. Das vermeintliche Ziel beleuchtet er nicht näher (in
Heller Beleuchtung würde es zerfließen; einmal scheint er es selbst eine Utopie
zu nennen; es ist nichts andres als das vollendete Reich Gottes, das die Kirche
weislich ins Jenseits verlegt hat). Er erwähnt es nur flüchtig ein paarmal.
Von Rousseaus Gesellschaftsvertrag schreibt er, man müsse diesen „romantischen
Sozialismus zwar abweisen, aber mit Kant die stoische Anarchie swarum nicht
lieber das neutestamentliche Ideal, wie es besonders im achten Kapitel des
Römerbriefes und im vierten des Galaterbriefes gezeichnet wird?j als letzten
Zweck der Menschheit auf Erden anerkennen". Nicht als letzten Zweck, sondern
als Endzustand, wofern, was sehr unwahrscheinlich ist, ein vollkommner End¬
zustand auf dieser Erde möglich und vou Gott der Entwicklung als Ziel gesetzt
sein sollte. Und von Proudhons Anarchie heißt es, sie sei „eine Anarchie im
stoischen und kantischen Sinne des Wortes, d. h. das vornehmste ethische Ideal
des Menschen". Auf die Ethik nämlich hat es Seilliere in diesem Bande abge¬
sehen. In einer Anmerkung schreibt er: „Der Sinn des Wortes Imperialis¬
mus ist so weit geworden, daß Dr. W. Borgius kürzlich eine Broschüre
»Imperialismus« veröffentlicht hat, in der er ihn, so gut es geht, zu definieren
sucht. Zu diesem Zweck hat er sich an einige englische, amerikanische, französische
und deutsche Soziologen gewandt, ohne übrigens sehr tröstliche Auskunft zu
erlangen. Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich diese Verwirrung noch ver¬
mehre, indem ich das Wort auch auf das Gebiet der Moralphilosophie über¬
trage."

Die Verwirrung, die so schon groß genug ist, uoch zu vermehren, war
wirklich recht überflüssig. Ich meine nicht die Verwirrung in der Begriffs¬
bestimmung von Imperialismus, sondern in den Ansichten über die Gegenstände,
die hier in das Jmperialismusschema hineingezwängt werden. Es sind alte
und oft genug, auch in den Grenzboten, behandelte Gegenstände, die aber doch,
da eben die Ansichten darüber vorläufig noch weit auseinandergehn, von Zeit
zu Zeit immer wieder einmal vorgenommen werden müssen. Es handelt sich


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[0620] Neues von Leittiere und über Gobineau Bourgeoisie. Das Herrschaftsstreben der starken Persönlichkeiten und Völker ist sittlich berechtigt, ist gesund, dient zu ihrem eignen Wohle wie zu dem der Unterworfnen. Herrschaftsverhältnisse und Kulturerzeugnisse sind biologische Not¬ wendigkeiten und auf das innigste mit Moral, Sitte und Recht verflochten, die ihrerseits biologische Notwendigkeiten sind, der Erhaltung, Erhöhung und Ver¬ vollkommnung des Individuums wie der Gattung dienen. Das Ideal, dem die Entwicklung des Menschengeschlechts zustrebt, ist allerdings nicht eine Abstufung von Abhängigkeits- und Herrschaftsverhältnissen — diese sind nur Mittel —, sondern der „stoische Anarchismus", womit ein Zustand gemeint ist, in dem ein jeder sich nach den Geboten des kategorischen Imperativs selbst beherrscht und aus solchem Leben aller nach derselben Richtschnur die vollkommenste Har¬ monie hervorgeht. Den Weg zu diesem Ziele, die Herrschaft der Besten zur Erziehung der übrigen, verwerfen, nennt er ungesunde Romantik oder roman¬ tischen Imperialismus. Das vermeintliche Ziel beleuchtet er nicht näher (in Heller Beleuchtung würde es zerfließen; einmal scheint er es selbst eine Utopie zu nennen; es ist nichts andres als das vollendete Reich Gottes, das die Kirche weislich ins Jenseits verlegt hat). Er erwähnt es nur flüchtig ein paarmal. Von Rousseaus Gesellschaftsvertrag schreibt er, man müsse diesen „romantischen Sozialismus zwar abweisen, aber mit Kant die stoische Anarchie swarum nicht lieber das neutestamentliche Ideal, wie es besonders im achten Kapitel des Römerbriefes und im vierten des Galaterbriefes gezeichnet wird?j als letzten Zweck der Menschheit auf Erden anerkennen". Nicht als letzten Zweck, sondern als Endzustand, wofern, was sehr unwahrscheinlich ist, ein vollkommner End¬ zustand auf dieser Erde möglich und vou Gott der Entwicklung als Ziel gesetzt sein sollte. Und von Proudhons Anarchie heißt es, sie sei „eine Anarchie im stoischen und kantischen Sinne des Wortes, d. h. das vornehmste ethische Ideal des Menschen". Auf die Ethik nämlich hat es Seilliere in diesem Bande abge¬ sehen. In einer Anmerkung schreibt er: „Der Sinn des Wortes Imperialis¬ mus ist so weit geworden, daß Dr. W. Borgius kürzlich eine Broschüre »Imperialismus« veröffentlicht hat, in der er ihn, so gut es geht, zu definieren sucht. Zu diesem Zweck hat er sich an einige englische, amerikanische, französische und deutsche Soziologen gewandt, ohne übrigens sehr tröstliche Auskunft zu erlangen. Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich diese Verwirrung noch ver¬ mehre, indem ich das Wort auch auf das Gebiet der Moralphilosophie über¬ trage." Die Verwirrung, die so schon groß genug ist, uoch zu vermehren, war wirklich recht überflüssig. Ich meine nicht die Verwirrung in der Begriffs¬ bestimmung von Imperialismus, sondern in den Ansichten über die Gegenstände, die hier in das Jmperialismusschema hineingezwängt werden. Es sind alte und oft genug, auch in den Grenzboten, behandelte Gegenstände, die aber doch, da eben die Ansichten darüber vorläufig noch weit auseinandergehn, von Zeit zu Zeit immer wieder einmal vorgenommen werden müssen. Es handelt sich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/620>, abgerufen am 01.09.2024.