Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches auf Bestattung in den vier Kirchen oder auf den fünf Kirchhöfen der innern Stadt. Maßgebliches und Unmaßgebliches auf Bestattung in den vier Kirchen oder auf den fünf Kirchhöfen der innern Stadt. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0599" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/303301"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_3087" prev="#ID_3086" next="#ID_3088"> auf Bestattung in den vier Kirchen oder auf den fünf Kirchhöfen der innern Stadt.<lb/> Infolge allmählicher Erweiterungen bestand schließlich der Johannisfriedhof aus<lb/> fünf Abteilungen., Die erste wurde schon 1846 für Beerdigungen geschlossen; jetzt<lb/> ist auch die letzte säkularisiert. Mehr als eine Viertelmillion Menschen haben hier<lb/> die letzte Ruhe gefunden, darunter viele von berühmtem Namen. Dichter, Künstler,<lb/> Schriftsteller, Gründer weltbekannter Firmen und Stifter bedeutender Vermächtnisse:<lb/> Bach, Gellert, Öser, Christian Felix Weiße. Pölitz, Härtel, Sehfferth, Limburger.<lb/> Tauchintz, Harkort, Grassi usw. Von diesem wichtigen Denkmal der Stadt liegt<lb/> eine mustergiltige und geschmackvoll hergestellte Publikation aus dem Verlage von<lb/> Georg Merseburger in Leipzig vor: „Der alte Leipziger Johannisfriedhof und die<lb/> Rats- oder Hospitalgruft, ein Beitrag zur Stadtgeschichte, von Paul Benndorf.<lb/> Mit siebzig Abbildungen in Lichtdruck nach photographischen Aufnahmen des Ver¬<lb/> fassers und zwei Plänen des Friedhofes." Die Aufnahmen sind sehr schön. Der<lb/> Text, auf 95 Seiten, enthält fünf Kapitel: Die Johanniskirche, der alte Friedhof,<lb/> die Ratsgruft, die 1883 eingezognen Friedhofsabteilungen und die noch bestehenden<lb/> Abteilungen 3. 4. 5. Alle sind mit reichlichen Namenverzeichnissen versehen.<lb/> Soviel von den Äußerlichkeiten, damit sich unsre Leser ungefähr einen Begriff<lb/> machen können, was und wieviel sie für nur acht Mark, das ist der Preis des<lb/> stilvoll in Leinen gebundnen Werkes, bekommen können. Nun noch einige Worte<lb/> über seinen innern Wert zur Begründung unsers Lobes. Wie uns die Grabmäler<lb/> in ihrer äußern Erscheinung den Wandel der Stilformen wiedergeben, von der<lb/> Gotik und der Renaissance bis zum Barock und zum Empire, so spiegeln sich in<lb/> den Grabschriften und Totenregistern die Wendungen der Geschichte, die Refor¬<lb/> mation, der Dreißigjährige, der siebenjährige Krieg, die Franzosenzeit und die Ro¬<lb/> mantik. Alle diese stillen Schläfer nahmen einst teil am Leben ihrer Zeit, und<lb/> jeder Grabstein spricht seine eigne Sprache. Auf den Einzelnen kommen nur wenige<lb/> Zeilen dieser durch Jahrhunderte geführten Chronik. Der Verfasser macht sie uns<lb/> durch kurze Notizen der Erinnerung lebendig. Da liegt zum Beispiel Käthchen<lb/> Schönkopf Goethischen Andenkens. Dort Herloßsohn, der Herausgeber des „Kometen",<lb/> dessen Lieder „Wenn die Schwalben heimwärts ziehn" und „Ob ich dich liebe"<lb/> Wohl noch nicht ganz verklungen sind. Dort der Leipziger Handelsherr Wilhelmi<lb/> Gerhard, der Dichter des einst ebenfalls vielgesungnen „Auf Matrose», die Anker<lb/> gelichtet". Da ruhen Noderich Benedix, Mahlmann, Rochlitz. Höchst interessant<lb/> ist die Behandlung der „Natsgruft", die 1783 an Stelle der Grüfte in der Pau-<lb/> Unerkirche, namentlich für die Honoratioren der Universität, errichtet wurde. Sie<lb/> hat bis 1851. wo sie geschlossen wurde, 107 Leichen aufgenommen, die alle auf¬<lb/> geführt werden. Für jeden Platz mußten fünfzig Taler entrichtet werden. Wieviel<lb/> Ueß man sich damals eine Beisetzung kosten I Diese Gruft ist noch gut erhalten,<lb/> und die Ruhe der Toten ungestört geblieben. Aber ihre Zeit war ja auch noch<lb/> nicht lang, und im übrigen ist auch dieser Friedhof durch die Ansprüche der Lebenden<lb/> zu einer Stätte des Unfriedens geworden. Benndorfs Geschichte des Johannis¬<lb/> sriedhofs verzeichnet getreulich zu jedem Abschnitt die Ausgrabungen und Um-<lb/> bettungen. Es kann ja nicht anders sein, aber in jedem neuen Beispiel berührt<lb/> doch der Gedanke eigentümlich: mit sorgender Mühe sichert eine Generation ihren<lb/> Toten ein enges Ruhebett, und der nächsten oder der folgenden dünkt auch das<lb/> "°es zuviel, sie muß den Raum für ihre Zwecke gebrauchen. Die Kirche nimmt<lb/> den Entschlafnen — gegen reichliches Entgelt — in ihren Schutz und verheißt ihm<lb/> die ewige Ruhe, und dieselbe Kirche gräbt ihn wieder aus und verschachert den<lb/> Totenacker als Baugrund, wenn die Konjunktur dafür gekommen ist. Dieser Gedanke<lb/> hat etwas so Widerwärtiges, daß man schon um deswillen die Feuerbestattung als</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0599]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
auf Bestattung in den vier Kirchen oder auf den fünf Kirchhöfen der innern Stadt.
Infolge allmählicher Erweiterungen bestand schließlich der Johannisfriedhof aus
fünf Abteilungen., Die erste wurde schon 1846 für Beerdigungen geschlossen; jetzt
ist auch die letzte säkularisiert. Mehr als eine Viertelmillion Menschen haben hier
die letzte Ruhe gefunden, darunter viele von berühmtem Namen. Dichter, Künstler,
Schriftsteller, Gründer weltbekannter Firmen und Stifter bedeutender Vermächtnisse:
Bach, Gellert, Öser, Christian Felix Weiße. Pölitz, Härtel, Sehfferth, Limburger.
Tauchintz, Harkort, Grassi usw. Von diesem wichtigen Denkmal der Stadt liegt
eine mustergiltige und geschmackvoll hergestellte Publikation aus dem Verlage von
Georg Merseburger in Leipzig vor: „Der alte Leipziger Johannisfriedhof und die
Rats- oder Hospitalgruft, ein Beitrag zur Stadtgeschichte, von Paul Benndorf.
Mit siebzig Abbildungen in Lichtdruck nach photographischen Aufnahmen des Ver¬
fassers und zwei Plänen des Friedhofes." Die Aufnahmen sind sehr schön. Der
Text, auf 95 Seiten, enthält fünf Kapitel: Die Johanniskirche, der alte Friedhof,
die Ratsgruft, die 1883 eingezognen Friedhofsabteilungen und die noch bestehenden
Abteilungen 3. 4. 5. Alle sind mit reichlichen Namenverzeichnissen versehen.
Soviel von den Äußerlichkeiten, damit sich unsre Leser ungefähr einen Begriff
machen können, was und wieviel sie für nur acht Mark, das ist der Preis des
stilvoll in Leinen gebundnen Werkes, bekommen können. Nun noch einige Worte
über seinen innern Wert zur Begründung unsers Lobes. Wie uns die Grabmäler
in ihrer äußern Erscheinung den Wandel der Stilformen wiedergeben, von der
Gotik und der Renaissance bis zum Barock und zum Empire, so spiegeln sich in
den Grabschriften und Totenregistern die Wendungen der Geschichte, die Refor¬
mation, der Dreißigjährige, der siebenjährige Krieg, die Franzosenzeit und die Ro¬
mantik. Alle diese stillen Schläfer nahmen einst teil am Leben ihrer Zeit, und
jeder Grabstein spricht seine eigne Sprache. Auf den Einzelnen kommen nur wenige
Zeilen dieser durch Jahrhunderte geführten Chronik. Der Verfasser macht sie uns
durch kurze Notizen der Erinnerung lebendig. Da liegt zum Beispiel Käthchen
Schönkopf Goethischen Andenkens. Dort Herloßsohn, der Herausgeber des „Kometen",
dessen Lieder „Wenn die Schwalben heimwärts ziehn" und „Ob ich dich liebe"
Wohl noch nicht ganz verklungen sind. Dort der Leipziger Handelsherr Wilhelmi
Gerhard, der Dichter des einst ebenfalls vielgesungnen „Auf Matrose», die Anker
gelichtet". Da ruhen Noderich Benedix, Mahlmann, Rochlitz. Höchst interessant
ist die Behandlung der „Natsgruft", die 1783 an Stelle der Grüfte in der Pau-
Unerkirche, namentlich für die Honoratioren der Universität, errichtet wurde. Sie
hat bis 1851. wo sie geschlossen wurde, 107 Leichen aufgenommen, die alle auf¬
geführt werden. Für jeden Platz mußten fünfzig Taler entrichtet werden. Wieviel
Ueß man sich damals eine Beisetzung kosten I Diese Gruft ist noch gut erhalten,
und die Ruhe der Toten ungestört geblieben. Aber ihre Zeit war ja auch noch
nicht lang, und im übrigen ist auch dieser Friedhof durch die Ansprüche der Lebenden
zu einer Stätte des Unfriedens geworden. Benndorfs Geschichte des Johannis¬
sriedhofs verzeichnet getreulich zu jedem Abschnitt die Ausgrabungen und Um-
bettungen. Es kann ja nicht anders sein, aber in jedem neuen Beispiel berührt
doch der Gedanke eigentümlich: mit sorgender Mühe sichert eine Generation ihren
Toten ein enges Ruhebett, und der nächsten oder der folgenden dünkt auch das
"°es zuviel, sie muß den Raum für ihre Zwecke gebrauchen. Die Kirche nimmt
den Entschlafnen — gegen reichliches Entgelt — in ihren Schutz und verheißt ihm
die ewige Ruhe, und dieselbe Kirche gräbt ihn wieder aus und verschachert den
Totenacker als Baugrund, wenn die Konjunktur dafür gekommen ist. Dieser Gedanke
hat etwas so Widerwärtiges, daß man schon um deswillen die Feuerbestattung als
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