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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Die Raiserrede in Münster

und die protestantischen früher erworbnen, in denen, soweit sie aus der jülich-
klevischen Erbschaft stammen, schon seit dem Rezeß von 1672 Lutheraner,
Kalvinisten und Katholiken gleichberechtigt nebeneinander wohnen, das erste
Beispiel konfessionell gemischter Territorien in Deutschland. Auch der Kaiser
macht keinen Unterschied zwischen den Untertanen verschiedner Konfessionen:
"stehn sie doch beide auf dem Boden des Christentums, und beide sind bestrebt,
treue Bürger und gehorsame Untertanen zu sein". Darauf wendet der Redner
den Blick auf das blühende westfälische Erwerbsleben der Gegenwart. Er sieht
vor sich den zähen, fleißigen, fest am Überlieferten haltenden Bauern, den
ruhigen Bürger, der seine Städte immer vollkommner aufbaut, Bergbau und
Industrie, "den Stolz unsrer Nation", zu mächtigem Aufschwünge gebracht hat,
und die Arbeitermassen, die in beiden schaffen und "mit nerviger Faust ihr
Werk verrichten". Mit dieser Schilderung verflicht sich ein soziales Programm.
Auf der einen Seite sieht der Kaiser im Bauernstande "eine feste Grundlage
für unser Staatswesen" und fügt hinzu: "Darum wird Mir der Schutz der
Landwirtschaft stets besonders am Herzen liegen", ans der andern Seite be¬
zeichnet er die Sorge um Wohlstand und Wohlfahrt der Arbeiter als ein
teures Erbe seines Großvaters und als seinen "Wunsch und Willen", "daß
wir auf dem Gebiete der sozialen Fürsorge festhalten an den Grundsätzen, die
in der unvergeßlichen Botschaft Kaiser Wilhelms des Großen (17. November 1881)
niedergelegt sind". Inwiefern er dabei an eine "Fortsetzung" der Sozialreform
denkt, sagt er nicht direkt; genug, daß er sich zur Sozialpolitik bekennt. Das
ist weder neu noch überraschend; seine sozialen Anschauungen sind es ja ge¬
wesen, wie man jetzt ganz genau weiß, die vor allem Bismarcks Entlassung
veranlaßt haben, und er hat immer daran festgehalten; etwaige Zweifel daran
sind völlig grundlos gewesen. Trotzdem wird in manchen Kommentaren der
Rede auf diesen Punkt allein der Ton gelegt und von dem ebenso nachdrücklich
hervorgehobnen Schutz der Landwirtschaft kaum geredet, eine Erklärung, die
heute, wo in manchen Kreisen und Parteien alles "Agrarische" fast als etwas
Unberechtigtes, den Interessen der Industrie weit nachstehendes behandelt wird
(als ob ein gesundes Volk allein von der Industrie leben könnte!), ebenso be¬
deutsam ist wie die Worte über die Sozialreform. Der Kaiser will von einer
Rivalität der einzelnen Erwerbszweige überhaupt nichts wissen; er sieht viel¬
mehr gerade in der Provinz Westfalen den Beweis, "daß die großen Erwerbs¬
zweige einander nicht zu schädigen brauchen, und daß die Wohlfahrt des einen
anch dem andern zugute kommt". Auch hierin also sieht er gerade auf west¬
fälischen Boden das friedliche Zusammenarbeiten verschiedner Elemente ver¬
wirklicht.

Dieses "schöne Bild versöhnlicher Einheit" möchte er auf das gesamte
Vaterland übertragen sehen. Worin sieht er nun die Grundlage für eine solche
Einigkeit? Nicht etwa in irgendwelchen gesetzgeberischen Maßregeln, sondern
in der versöhnlichen Gesinnung aller Teile. Und nun folgt ein merkwürdiges,


Die Raiserrede in Münster

und die protestantischen früher erworbnen, in denen, soweit sie aus der jülich-
klevischen Erbschaft stammen, schon seit dem Rezeß von 1672 Lutheraner,
Kalvinisten und Katholiken gleichberechtigt nebeneinander wohnen, das erste
Beispiel konfessionell gemischter Territorien in Deutschland. Auch der Kaiser
macht keinen Unterschied zwischen den Untertanen verschiedner Konfessionen:
„stehn sie doch beide auf dem Boden des Christentums, und beide sind bestrebt,
treue Bürger und gehorsame Untertanen zu sein". Darauf wendet der Redner
den Blick auf das blühende westfälische Erwerbsleben der Gegenwart. Er sieht
vor sich den zähen, fleißigen, fest am Überlieferten haltenden Bauern, den
ruhigen Bürger, der seine Städte immer vollkommner aufbaut, Bergbau und
Industrie, „den Stolz unsrer Nation", zu mächtigem Aufschwünge gebracht hat,
und die Arbeitermassen, die in beiden schaffen und „mit nerviger Faust ihr
Werk verrichten". Mit dieser Schilderung verflicht sich ein soziales Programm.
Auf der einen Seite sieht der Kaiser im Bauernstande „eine feste Grundlage
für unser Staatswesen" und fügt hinzu: „Darum wird Mir der Schutz der
Landwirtschaft stets besonders am Herzen liegen", ans der andern Seite be¬
zeichnet er die Sorge um Wohlstand und Wohlfahrt der Arbeiter als ein
teures Erbe seines Großvaters und als seinen „Wunsch und Willen", „daß
wir auf dem Gebiete der sozialen Fürsorge festhalten an den Grundsätzen, die
in der unvergeßlichen Botschaft Kaiser Wilhelms des Großen (17. November 1881)
niedergelegt sind". Inwiefern er dabei an eine „Fortsetzung" der Sozialreform
denkt, sagt er nicht direkt; genug, daß er sich zur Sozialpolitik bekennt. Das
ist weder neu noch überraschend; seine sozialen Anschauungen sind es ja ge¬
wesen, wie man jetzt ganz genau weiß, die vor allem Bismarcks Entlassung
veranlaßt haben, und er hat immer daran festgehalten; etwaige Zweifel daran
sind völlig grundlos gewesen. Trotzdem wird in manchen Kommentaren der
Rede auf diesen Punkt allein der Ton gelegt und von dem ebenso nachdrücklich
hervorgehobnen Schutz der Landwirtschaft kaum geredet, eine Erklärung, die
heute, wo in manchen Kreisen und Parteien alles „Agrarische" fast als etwas
Unberechtigtes, den Interessen der Industrie weit nachstehendes behandelt wird
(als ob ein gesundes Volk allein von der Industrie leben könnte!), ebenso be¬
deutsam ist wie die Worte über die Sozialreform. Der Kaiser will von einer
Rivalität der einzelnen Erwerbszweige überhaupt nichts wissen; er sieht viel¬
mehr gerade in der Provinz Westfalen den Beweis, „daß die großen Erwerbs¬
zweige einander nicht zu schädigen brauchen, und daß die Wohlfahrt des einen
anch dem andern zugute kommt". Auch hierin also sieht er gerade auf west¬
fälischen Boden das friedliche Zusammenarbeiten verschiedner Elemente ver¬
wirklicht.

Dieses „schöne Bild versöhnlicher Einheit" möchte er auf das gesamte
Vaterland übertragen sehen. Worin sieht er nun die Grundlage für eine solche
Einigkeit? Nicht etwa in irgendwelchen gesetzgeberischen Maßregeln, sondern
in der versöhnlichen Gesinnung aller Teile. Und nun folgt ein merkwürdiges,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/550>, abgerufen am 04.12.2024.