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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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denen man nicht nur die Zeitung und den neusten Seusatiousroman oder das
neuste angebliche Bekenntnisbuch liest.

Der Erzähler Hermann Stegemann tritt in diesem Jahre mit einem Band
Gedichte vor das Publikum: Vit" Somnium vrsvs (bei Egon Fleischel u. Co.
in Berlin). Die Kunst Stegemanns in diesen Versen bringt nicht den lauten
Schrei einer ersten Leidenschaft, sondern den vollen, aber durch die Erfahrung
reifer Jahre abgetöntem Nachhall.

Die goldne Wage meines Lebens schwebt
Im Gleichgewicht; kaum daß das Zünglein bebt.
Und in den gleichgestellten Schalen ruht
Des Lebens Last und heimgebrachtes Gut.
Die eine trägt, was mir in, heißen Drang
Der Kampf des Daseins auf den Nacken zwang.
Trophäen sind darüber angehäuft,
Doch Schweiß und Blut davon herniederträust.
Und in der andern ruht auf blankem Erz,
Aufwiegend alles, meines Weibes Herz.

Echte Lebenslaute, in deren schönem Fluß fast nirgends Ungeschmack der
innern oder äußern Form zu vermerken ist. Nächtliche Phantasien, die nicht
schematisch dargeboten werden, sondern aufs klarste immer persönlichen Erleb¬
nisse" entwachsen sind. "Auf und nieder in der Nacht" geht der Rhythmus der
Verse anders als am hellen Tage. Kurz und gut, ein schönes Buch, aus dem
ein männlicher, warmer Geist spricht, nicht unbedingt originell, aber künstlerisch
gebändigt und lebenswahr wie wenige unsrer Lyriker.

Von dem Versbuch "Thcmatos". das A. K. T. Tielo (bei Axel Juncker
i" Stuttgart) herausgegeben hat, könnte man fast Satz für Satz das Gegen¬
teil sagen wie von dem Stegemanns. Es ist noch keineswegs reif, der unaus-
getragnen Phantasien und Gedanken sind viele, überall wird Originalität auf
abseitsliegenden Wegen erstrebt und oft genug erreicht. Ein junges Herz gibt
sich hier, wo dort ein Mann, der über die erste Höhe schon hinaus ist, Garben
sammelt. Dafür ist Tielos Buch freilich ein starkes Versprechen für die Zukunft,
ein ungewöhnliches Zeichen dafür, wie unsre junge Kunst heute lebt. Tielo ist
ein Ostpreuße aus Litauen, dessen Kunst mir schon auffiel, als wir uns im
Musenalmanach Berliner Studenten von 1896 zuerst begegneten. Er hat seit¬
dem unablässig an sich gearbeitet und sich vor allem an Spitteler erzogen,
dessen Formenstrcnge er anstrebt. Nur fehlt ihm der romanische Einschlag,
der bei Spitteler unbedingt herauszufühlen ist. dafür hat er das Erbteil ferner
litauischen Heimat, das heißt in diesem Falle gerade das Gegenteil, nämlich
eine auf schroff geformtes Wesen nicht gerichtete, dämmerige Naturschilderung.
Den Kampf dieser beiden Elemente in Tielo zu beobachten, ist reizvoll, und
er ergibt in dem reichen Buch oft genug Meisterwerke. So wenn sich in dem
.Kinderspiel" die Mittagsstimmung eines litauischen Dörfchens gebannt steht


jtiterarische Rundschau

denen man nicht nur die Zeitung und den neusten Seusatiousroman oder das
neuste angebliche Bekenntnisbuch liest.

Der Erzähler Hermann Stegemann tritt in diesem Jahre mit einem Band
Gedichte vor das Publikum: Vit» Somnium vrsvs (bei Egon Fleischel u. Co.
in Berlin). Die Kunst Stegemanns in diesen Versen bringt nicht den lauten
Schrei einer ersten Leidenschaft, sondern den vollen, aber durch die Erfahrung
reifer Jahre abgetöntem Nachhall.

Die goldne Wage meines Lebens schwebt
Im Gleichgewicht; kaum daß das Zünglein bebt.
Und in den gleichgestellten Schalen ruht
Des Lebens Last und heimgebrachtes Gut.
Die eine trägt, was mir in, heißen Drang
Der Kampf des Daseins auf den Nacken zwang.
Trophäen sind darüber angehäuft,
Doch Schweiß und Blut davon herniederträust.
Und in der andern ruht auf blankem Erz,
Aufwiegend alles, meines Weibes Herz.

Echte Lebenslaute, in deren schönem Fluß fast nirgends Ungeschmack der
innern oder äußern Form zu vermerken ist. Nächtliche Phantasien, die nicht
schematisch dargeboten werden, sondern aufs klarste immer persönlichen Erleb¬
nisse» entwachsen sind. „Auf und nieder in der Nacht" geht der Rhythmus der
Verse anders als am hellen Tage. Kurz und gut, ein schönes Buch, aus dem
ein männlicher, warmer Geist spricht, nicht unbedingt originell, aber künstlerisch
gebändigt und lebenswahr wie wenige unsrer Lyriker.

Von dem Versbuch „Thcmatos". das A. K. T. Tielo (bei Axel Juncker
i" Stuttgart) herausgegeben hat, könnte man fast Satz für Satz das Gegen¬
teil sagen wie von dem Stegemanns. Es ist noch keineswegs reif, der unaus-
getragnen Phantasien und Gedanken sind viele, überall wird Originalität auf
abseitsliegenden Wegen erstrebt und oft genug erreicht. Ein junges Herz gibt
sich hier, wo dort ein Mann, der über die erste Höhe schon hinaus ist, Garben
sammelt. Dafür ist Tielos Buch freilich ein starkes Versprechen für die Zukunft,
ein ungewöhnliches Zeichen dafür, wie unsre junge Kunst heute lebt. Tielo ist
ein Ostpreuße aus Litauen, dessen Kunst mir schon auffiel, als wir uns im
Musenalmanach Berliner Studenten von 1896 zuerst begegneten. Er hat seit¬
dem unablässig an sich gearbeitet und sich vor allem an Spitteler erzogen,
dessen Formenstrcnge er anstrebt. Nur fehlt ihm der romanische Einschlag,
der bei Spitteler unbedingt herauszufühlen ist. dafür hat er das Erbteil ferner
litauischen Heimat, das heißt in diesem Falle gerade das Gegenteil, nämlich
eine auf schroff geformtes Wesen nicht gerichtete, dämmerige Naturschilderung.
Den Kampf dieser beiden Elemente in Tielo zu beobachten, ist reizvoll, und
er ergibt in dem reichen Buch oft genug Meisterwerke. So wenn sich in dem
.Kinderspiel" die Mittagsstimmung eines litauischen Dörfchens gebannt steht


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[0527] jtiterarische Rundschau denen man nicht nur die Zeitung und den neusten Seusatiousroman oder das neuste angebliche Bekenntnisbuch liest. Der Erzähler Hermann Stegemann tritt in diesem Jahre mit einem Band Gedichte vor das Publikum: Vit» Somnium vrsvs (bei Egon Fleischel u. Co. in Berlin). Die Kunst Stegemanns in diesen Versen bringt nicht den lauten Schrei einer ersten Leidenschaft, sondern den vollen, aber durch die Erfahrung reifer Jahre abgetöntem Nachhall. Die goldne Wage meines Lebens schwebt Im Gleichgewicht; kaum daß das Zünglein bebt. Und in den gleichgestellten Schalen ruht Des Lebens Last und heimgebrachtes Gut. Die eine trägt, was mir in, heißen Drang Der Kampf des Daseins auf den Nacken zwang. Trophäen sind darüber angehäuft, Doch Schweiß und Blut davon herniederträust. Und in der andern ruht auf blankem Erz, Aufwiegend alles, meines Weibes Herz. Echte Lebenslaute, in deren schönem Fluß fast nirgends Ungeschmack der innern oder äußern Form zu vermerken ist. Nächtliche Phantasien, die nicht schematisch dargeboten werden, sondern aufs klarste immer persönlichen Erleb¬ nisse» entwachsen sind. „Auf und nieder in der Nacht" geht der Rhythmus der Verse anders als am hellen Tage. Kurz und gut, ein schönes Buch, aus dem ein männlicher, warmer Geist spricht, nicht unbedingt originell, aber künstlerisch gebändigt und lebenswahr wie wenige unsrer Lyriker. Von dem Versbuch „Thcmatos". das A. K. T. Tielo (bei Axel Juncker i" Stuttgart) herausgegeben hat, könnte man fast Satz für Satz das Gegen¬ teil sagen wie von dem Stegemanns. Es ist noch keineswegs reif, der unaus- getragnen Phantasien und Gedanken sind viele, überall wird Originalität auf abseitsliegenden Wegen erstrebt und oft genug erreicht. Ein junges Herz gibt sich hier, wo dort ein Mann, der über die erste Höhe schon hinaus ist, Garben sammelt. Dafür ist Tielos Buch freilich ein starkes Versprechen für die Zukunft, ein ungewöhnliches Zeichen dafür, wie unsre junge Kunst heute lebt. Tielo ist ein Ostpreuße aus Litauen, dessen Kunst mir schon auffiel, als wir uns im Musenalmanach Berliner Studenten von 1896 zuerst begegneten. Er hat seit¬ dem unablässig an sich gearbeitet und sich vor allem an Spitteler erzogen, dessen Formenstrcnge er anstrebt. Nur fehlt ihm der romanische Einschlag, der bei Spitteler unbedingt herauszufühlen ist. dafür hat er das Erbteil ferner litauischen Heimat, das heißt in diesem Falle gerade das Gegenteil, nämlich eine auf schroff geformtes Wesen nicht gerichtete, dämmerige Naturschilderung. Den Kampf dieser beiden Elemente in Tielo zu beobachten, ist reizvoll, und er ergibt in dem reichen Buch oft genug Meisterwerke. So wenn sich in dem .Kinderspiel" die Mittagsstimmung eines litauischen Dörfchens gebannt steht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/527>, abgerufen am 01.09.2024.