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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Literarische Rundschau

dargestellt. Das Leben des Lokomotivführers auf den Schienen, in eisiger
Winternacht, bei einer Katastrophe, wird anschaulich und immer aus einer
Perspektive dargestellt, die die Erzählung über die Höhe eines Tagesfeuilletvus
weit hinaushebt. Dazwischen werden noch lehrreiche Vergleiche der verschiedensten
Eisenbahnsysteme gezogen, große Brückcnbauten und andre schwierige technische
Arbeiten liebevoll und ohne eine Spur von Langeweile dargestellt. Max Maria
von Weber, das lehrt jede Zeile, muß einer der eigenartigsten Menschen ge¬
wesen sein, die Deutschland gekannt hat. Er erscheint als eine glänzende
Mischung zwischen dem praktischen Mann des industriellen Aufschwungs unsrer
Tage, wie ihn die germanische Rasse zuerst in den angelsächsischen Ländern
ausgebildet hat, und dem humanistisch gebildeten und gerichteten Deutschen der
Tage seines Vaters und seiner Jugend.

Ich kann noch einmal auf meinen letzten Aufsatz zurückgreifen, worin ich
Lulu von Strauß und Torney als Novellistin pries. Sie hat inzwischen einen
Roman "Lucifer" veröffentlicht (bei Egon Flcischel u. Co. in Berlin), der von
ihrem Talent eine noch stärkere Vorstellung gibt. Wieder eine historische Er¬
zählung, wieder mit außerordentlicher Lebendigkeit hingestellt in ihre Zeit, und
diesmal doch zugleich mit wärmerm Anteil an den dargestellten Menschen. Das
Prachtstück unter den vielen Charakteristiken ist der Bischof von Olmütz, ein
Schauenburger, der den großen Kreuzzug gegen die Stedinger mit anführt.
Ein Mann, den Lulu von Strauß in dem ganzen Buch nicht viel sprechen
läßt, und der doch in jedem Zuge so lebendig wird wie kein zweiter, wie
selbst der Held kaum. Es ist ein ehrliches Stück Kunst, das hier niedergelegt
ist, und zugleich ein höchst spannendes Werk, was man ja auch einmal hervor¬
heben darf.

Auch der neue Roman von Clara Viebig ^.bsolvo es (ebenfalls bei
Flcischel n. Co.) beginnt so, als ob er in starker Spannung zu Ende gehn
würde. Aber leider läßt dieser Eindruck sehr bald nach. Schon die überreichen
Wiederholungen derselben Vorgänge und derselben Empfindungen ermüden ans
die Dauer. Wir haben schließlich wirklich kein Interesse mehr daran, ob Herr
Tiralla von seiner Frau umgebracht wird oder nicht, und wir verlieren auch
jedes Interesse an dieser Frau, die auf die Dauer nichts als unsympathisch,
bar jedes menschlich wahren Zuges wirkt. Der Grundfehler liegt freilich da,
wo wir ihn leider bei Frau Viebig schon öfters haben suchen müssen. Diese
hochbegabte Frau, deren Schaffen in den letzten Jahren ja in diesen Blättern
regelmäßig verfolgt worden ist, geht immer wieder Pfade, die gerade sie nicht
zum Ziele führen können. Denn die Verquickung katholischer Gläubigkeit mit
einer bestündigen Sucht zum Verbrechen, wie sie in Frau Tiralla dargestellt
sein soll, ist gewiß ein Problem, das einen Dichter reizen kann. Und ich zweifle
nicht, daß zum Beispiel eine Enrica von Handel-Mazzetti oder Lulu von
Strauß so etwas darstellen könnten. Frau Viebig fehlen hierfür die innern
und wohl auch die äußern Maßstäbe. Sie ist in der Eifel zu Hause, kennt


Literarische Rundschau

dargestellt. Das Leben des Lokomotivführers auf den Schienen, in eisiger
Winternacht, bei einer Katastrophe, wird anschaulich und immer aus einer
Perspektive dargestellt, die die Erzählung über die Höhe eines Tagesfeuilletvus
weit hinaushebt. Dazwischen werden noch lehrreiche Vergleiche der verschiedensten
Eisenbahnsysteme gezogen, große Brückcnbauten und andre schwierige technische
Arbeiten liebevoll und ohne eine Spur von Langeweile dargestellt. Max Maria
von Weber, das lehrt jede Zeile, muß einer der eigenartigsten Menschen ge¬
wesen sein, die Deutschland gekannt hat. Er erscheint als eine glänzende
Mischung zwischen dem praktischen Mann des industriellen Aufschwungs unsrer
Tage, wie ihn die germanische Rasse zuerst in den angelsächsischen Ländern
ausgebildet hat, und dem humanistisch gebildeten und gerichteten Deutschen der
Tage seines Vaters und seiner Jugend.

Ich kann noch einmal auf meinen letzten Aufsatz zurückgreifen, worin ich
Lulu von Strauß und Torney als Novellistin pries. Sie hat inzwischen einen
Roman „Lucifer" veröffentlicht (bei Egon Flcischel u. Co. in Berlin), der von
ihrem Talent eine noch stärkere Vorstellung gibt. Wieder eine historische Er¬
zählung, wieder mit außerordentlicher Lebendigkeit hingestellt in ihre Zeit, und
diesmal doch zugleich mit wärmerm Anteil an den dargestellten Menschen. Das
Prachtstück unter den vielen Charakteristiken ist der Bischof von Olmütz, ein
Schauenburger, der den großen Kreuzzug gegen die Stedinger mit anführt.
Ein Mann, den Lulu von Strauß in dem ganzen Buch nicht viel sprechen
läßt, und der doch in jedem Zuge so lebendig wird wie kein zweiter, wie
selbst der Held kaum. Es ist ein ehrliches Stück Kunst, das hier niedergelegt
ist, und zugleich ein höchst spannendes Werk, was man ja auch einmal hervor¬
heben darf.

Auch der neue Roman von Clara Viebig ^.bsolvo es (ebenfalls bei
Flcischel n. Co.) beginnt so, als ob er in starker Spannung zu Ende gehn
würde. Aber leider läßt dieser Eindruck sehr bald nach. Schon die überreichen
Wiederholungen derselben Vorgänge und derselben Empfindungen ermüden ans
die Dauer. Wir haben schließlich wirklich kein Interesse mehr daran, ob Herr
Tiralla von seiner Frau umgebracht wird oder nicht, und wir verlieren auch
jedes Interesse an dieser Frau, die auf die Dauer nichts als unsympathisch,
bar jedes menschlich wahren Zuges wirkt. Der Grundfehler liegt freilich da,
wo wir ihn leider bei Frau Viebig schon öfters haben suchen müssen. Diese
hochbegabte Frau, deren Schaffen in den letzten Jahren ja in diesen Blättern
regelmäßig verfolgt worden ist, geht immer wieder Pfade, die gerade sie nicht
zum Ziele führen können. Denn die Verquickung katholischer Gläubigkeit mit
einer bestündigen Sucht zum Verbrechen, wie sie in Frau Tiralla dargestellt
sein soll, ist gewiß ein Problem, das einen Dichter reizen kann. Und ich zweifle
nicht, daß zum Beispiel eine Enrica von Handel-Mazzetti oder Lulu von
Strauß so etwas darstellen könnten. Frau Viebig fehlen hierfür die innern
und wohl auch die äußern Maßstäbe. Sie ist in der Eifel zu Hause, kennt


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[0525] Literarische Rundschau dargestellt. Das Leben des Lokomotivführers auf den Schienen, in eisiger Winternacht, bei einer Katastrophe, wird anschaulich und immer aus einer Perspektive dargestellt, die die Erzählung über die Höhe eines Tagesfeuilletvus weit hinaushebt. Dazwischen werden noch lehrreiche Vergleiche der verschiedensten Eisenbahnsysteme gezogen, große Brückcnbauten und andre schwierige technische Arbeiten liebevoll und ohne eine Spur von Langeweile dargestellt. Max Maria von Weber, das lehrt jede Zeile, muß einer der eigenartigsten Menschen ge¬ wesen sein, die Deutschland gekannt hat. Er erscheint als eine glänzende Mischung zwischen dem praktischen Mann des industriellen Aufschwungs unsrer Tage, wie ihn die germanische Rasse zuerst in den angelsächsischen Ländern ausgebildet hat, und dem humanistisch gebildeten und gerichteten Deutschen der Tage seines Vaters und seiner Jugend. Ich kann noch einmal auf meinen letzten Aufsatz zurückgreifen, worin ich Lulu von Strauß und Torney als Novellistin pries. Sie hat inzwischen einen Roman „Lucifer" veröffentlicht (bei Egon Flcischel u. Co. in Berlin), der von ihrem Talent eine noch stärkere Vorstellung gibt. Wieder eine historische Er¬ zählung, wieder mit außerordentlicher Lebendigkeit hingestellt in ihre Zeit, und diesmal doch zugleich mit wärmerm Anteil an den dargestellten Menschen. Das Prachtstück unter den vielen Charakteristiken ist der Bischof von Olmütz, ein Schauenburger, der den großen Kreuzzug gegen die Stedinger mit anführt. Ein Mann, den Lulu von Strauß in dem ganzen Buch nicht viel sprechen läßt, und der doch in jedem Zuge so lebendig wird wie kein zweiter, wie selbst der Held kaum. Es ist ein ehrliches Stück Kunst, das hier niedergelegt ist, und zugleich ein höchst spannendes Werk, was man ja auch einmal hervor¬ heben darf. Auch der neue Roman von Clara Viebig ^.bsolvo es (ebenfalls bei Flcischel n. Co.) beginnt so, als ob er in starker Spannung zu Ende gehn würde. Aber leider läßt dieser Eindruck sehr bald nach. Schon die überreichen Wiederholungen derselben Vorgänge und derselben Empfindungen ermüden ans die Dauer. Wir haben schließlich wirklich kein Interesse mehr daran, ob Herr Tiralla von seiner Frau umgebracht wird oder nicht, und wir verlieren auch jedes Interesse an dieser Frau, die auf die Dauer nichts als unsympathisch, bar jedes menschlich wahren Zuges wirkt. Der Grundfehler liegt freilich da, wo wir ihn leider bei Frau Viebig schon öfters haben suchen müssen. Diese hochbegabte Frau, deren Schaffen in den letzten Jahren ja in diesen Blättern regelmäßig verfolgt worden ist, geht immer wieder Pfade, die gerade sie nicht zum Ziele führen können. Denn die Verquickung katholischer Gläubigkeit mit einer bestündigen Sucht zum Verbrechen, wie sie in Frau Tiralla dargestellt sein soll, ist gewiß ein Problem, das einen Dichter reizen kann. Und ich zweifle nicht, daß zum Beispiel eine Enrica von Handel-Mazzetti oder Lulu von Strauß so etwas darstellen könnten. Frau Viebig fehlen hierfür die innern und wohl auch die äußern Maßstäbe. Sie ist in der Eifel zu Hause, kennt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/525>, abgerufen am 01.09.2024.