Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.Greifswald in die rauhe Wirklichkeit ging. Und selber danke ich den Jahren, die ich Mit meiner Fakultät konnte ich überdies zufrieden sein. Greifswald ist In den Hallen, wo Bonnet herrschte, hat sich denn auch während dieser Als ich nach vier Semestern, das bestcmdne Physikum in der Tasche, an Greifswald in die rauhe Wirklichkeit ging. Und selber danke ich den Jahren, die ich Mit meiner Fakultät konnte ich überdies zufrieden sein. Greifswald ist In den Hallen, wo Bonnet herrschte, hat sich denn auch während dieser Als ich nach vier Semestern, das bestcmdne Physikum in der Tasche, an <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0482" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/303184"/> <fw type="header" place="top"> Greifswald</fw><lb/> <p xml:id="ID_2607" prev="#ID_2606"> in die rauhe Wirklichkeit ging. Und selber danke ich den Jahren, die ich<lb/> nachher in Leipzig verbracht habe, für den äußern Lebenserfolg wahrscheinlich<lb/> mehr, berechenbar mehr, als den Semestern an der Ostsee. Aber der äußere<lb/> Erfolg ist nichts ohne den innern. Und wenn heute die Schule den Jüngling<lb/> entläßt, so ist der Sprung in die Großstadt für manchen ein Kopfsprung, der<lb/> ihm übel bekommt. Nicht von den „Versuchungen" rede ich, im bekannten<lb/> Sinne. Sie waren auch in Greifswald da, wenngleich nicht so aufdringlich<lb/> wie in der Friedrichstraße oder auf der Leipziger Messe. Aber der ganze<lb/> Strom großstädtischen Lebens ist zu reißend, der Reize und Bilder sind zu<lb/> viele, die junge Seele wird hin und her gezaust, und die Gefahr ist groß,<lb/> daß sie um alle Nuhe, Wärme und Sammlung kommt. Darum danke ich<lb/> dem Schicksal, das mich gerade im Anfang an eine kleine Universität ge¬<lb/> führt hat.</p><lb/> <p xml:id="ID_2608"> Mit meiner Fakultät konnte ich überdies zufrieden sein. Greifswald ist<lb/> ja immer eine Medizineruniversität gewesen, und damals fing sie auf dieser<lb/> Linie an, sich neu zu verjüngen. Die Anatomie wurde frisch besetzt. Unbe¬<lb/> greiflicherweise tat das Vorlesungsverzeichnis dieses Faktums keine Erwähnung,<lb/> sondern ließ die anatomischen Kollegien einfach ausfallen, und mit düstrer<lb/> Sorge fuhr ich ins Studium — ängstlich, ob wohl in Greifswald überhaupt<lb/> Anatomie getrieben werde. Ich habe über den Muluskummer später oft<lb/> herzlich lachen müssen. Als ich hinkam, war auch der neue Anatom schon<lb/> da: ein glänzender Gelehrter; er ist mein bester akademischer Lehrer geblieben.<lb/> Beim Präparieren konnte er manchmal bajuvarisch deutlich sein, aber das ist<lb/> auch nötig, wie jeder Eingeweihte weiß. Und im übrigen belebte er uns die<lb/> Anatomie bis in jede Faser hinein mit jener genetischen Auffassung, die aus<lb/> des alten Hyrtl „trockner Materia" eine der fesselndsten Disziplinen macht und<lb/> der „würzenden Zotteln" wohl entraten kann.</p><lb/> <p xml:id="ID_2609"> In den Hallen, wo Bonnet herrschte, hat sich denn auch während dieser<lb/> ersten vier Semester der Hauptteil meines Arbeitens abgespielt. Das ist so in<lb/> der Ordnung, denn die Anatomie lernt man im Anfang, oder aber man lernt sie<lb/> nie wieder. Alles andre kann man eher nachholen. Die übrigen Vorlesungen<lb/> habe ich denn auch recht homöopathisch besucht. Ich will sie nicht namentlich<lb/> aufzählen, denn ich kann nicht alle loben, die sie lasen, bei manchem habe<lb/> ich mich bitter geödet. Dem originellsten Gemüt unter ihnen, dem alten<lb/> Landois habe ich schon früher einmal ein paar Gedenkblütter gewidmet; etliche<lb/> Leute haben sich darüber aufgeregt, daß ich ihn nicht restlos als gewaltigen<lb/> Forscher, sondern als tüchtigen Praktikus und wurzelfesten Menschen schilderte —<lb/> nun, so mag die konventionelle Lüge regieren, nach der jeder Ordinarius ein<lb/> Bahnbrecher und jeder Verstorbne ein Genie gewesen, und über alle Toten<lb/> nicht bloß vsuö, sondern auch bonum geredet werden muß.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <p xml:id="ID_2610" next="#ID_2611"> Als ich nach vier Semestern, das bestcmdne Physikum in der Tasche, an<lb/> einem schönen Julimorgen von Greifswald schied, hatte ich das gewisse Gefühl,<lb/> ich werde die Stätte meiner Fnchsenjcchre in kurzem wieder betreten. Eine<lb/> vage Ahnung, wie sie uns in solchen Stunden zuweilen überkommt. Sie er¬<lb/> füllte sich nach reichlich zwei Jahren. Aber. . . Nach zwei Jahren Leipziger<lb/> Lebens. Neue Welten hatten sich mir aufgetan: Welten der Erkenntnis, des<lb/> Genusses, der Tat, wissenschaftliche, künstlerische, politische. Ich hatte zu Füßen</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0482]
Greifswald
in die rauhe Wirklichkeit ging. Und selber danke ich den Jahren, die ich
nachher in Leipzig verbracht habe, für den äußern Lebenserfolg wahrscheinlich
mehr, berechenbar mehr, als den Semestern an der Ostsee. Aber der äußere
Erfolg ist nichts ohne den innern. Und wenn heute die Schule den Jüngling
entläßt, so ist der Sprung in die Großstadt für manchen ein Kopfsprung, der
ihm übel bekommt. Nicht von den „Versuchungen" rede ich, im bekannten
Sinne. Sie waren auch in Greifswald da, wenngleich nicht so aufdringlich
wie in der Friedrichstraße oder auf der Leipziger Messe. Aber der ganze
Strom großstädtischen Lebens ist zu reißend, der Reize und Bilder sind zu
viele, die junge Seele wird hin und her gezaust, und die Gefahr ist groß,
daß sie um alle Nuhe, Wärme und Sammlung kommt. Darum danke ich
dem Schicksal, das mich gerade im Anfang an eine kleine Universität ge¬
führt hat.
Mit meiner Fakultät konnte ich überdies zufrieden sein. Greifswald ist
ja immer eine Medizineruniversität gewesen, und damals fing sie auf dieser
Linie an, sich neu zu verjüngen. Die Anatomie wurde frisch besetzt. Unbe¬
greiflicherweise tat das Vorlesungsverzeichnis dieses Faktums keine Erwähnung,
sondern ließ die anatomischen Kollegien einfach ausfallen, und mit düstrer
Sorge fuhr ich ins Studium — ängstlich, ob wohl in Greifswald überhaupt
Anatomie getrieben werde. Ich habe über den Muluskummer später oft
herzlich lachen müssen. Als ich hinkam, war auch der neue Anatom schon
da: ein glänzender Gelehrter; er ist mein bester akademischer Lehrer geblieben.
Beim Präparieren konnte er manchmal bajuvarisch deutlich sein, aber das ist
auch nötig, wie jeder Eingeweihte weiß. Und im übrigen belebte er uns die
Anatomie bis in jede Faser hinein mit jener genetischen Auffassung, die aus
des alten Hyrtl „trockner Materia" eine der fesselndsten Disziplinen macht und
der „würzenden Zotteln" wohl entraten kann.
In den Hallen, wo Bonnet herrschte, hat sich denn auch während dieser
ersten vier Semester der Hauptteil meines Arbeitens abgespielt. Das ist so in
der Ordnung, denn die Anatomie lernt man im Anfang, oder aber man lernt sie
nie wieder. Alles andre kann man eher nachholen. Die übrigen Vorlesungen
habe ich denn auch recht homöopathisch besucht. Ich will sie nicht namentlich
aufzählen, denn ich kann nicht alle loben, die sie lasen, bei manchem habe
ich mich bitter geödet. Dem originellsten Gemüt unter ihnen, dem alten
Landois habe ich schon früher einmal ein paar Gedenkblütter gewidmet; etliche
Leute haben sich darüber aufgeregt, daß ich ihn nicht restlos als gewaltigen
Forscher, sondern als tüchtigen Praktikus und wurzelfesten Menschen schilderte —
nun, so mag die konventionelle Lüge regieren, nach der jeder Ordinarius ein
Bahnbrecher und jeder Verstorbne ein Genie gewesen, und über alle Toten
nicht bloß vsuö, sondern auch bonum geredet werden muß.
Als ich nach vier Semestern, das bestcmdne Physikum in der Tasche, an
einem schönen Julimorgen von Greifswald schied, hatte ich das gewisse Gefühl,
ich werde die Stätte meiner Fnchsenjcchre in kurzem wieder betreten. Eine
vage Ahnung, wie sie uns in solchen Stunden zuweilen überkommt. Sie er¬
füllte sich nach reichlich zwei Jahren. Aber. . . Nach zwei Jahren Leipziger
Lebens. Neue Welten hatten sich mir aufgetan: Welten der Erkenntnis, des
Genusses, der Tat, wissenschaftliche, künstlerische, politische. Ich hatte zu Füßen
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