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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Über Moskau heimwärts

Unreinlichkeiten des Wagenfußbodens ausfegte, darüber bin ich zu keinem Ent¬
schluß gekommen.

Nach einem fahlen Morgen in dieser übelriechenden, widerlichen Umgebung
nahte endlich die Erlösung. Wälder und Datschen (Sommerlandhäuser) kün¬
digten die Nähe von Moskau an, die Halbstationen wurden häufiger, manchmal
wurden sie glatt durchfahren. Bald folgten die Gurten der ausgedehnten Vor¬
städte, und fast fahrplanmäßig lief der Zug endlich in den Njäsaner Bahnhof
ein. Durch die Verspätung in Ssamara hatten wir den Kurierzug versäumen
müssen und einen halben Tag verloren. Trotzdem konnte der erzielte Rekord
in Anbetracht des kaum eröffneten Betriebes auf der Orenburg--Taschkenter
Eisenbahn und des Kriegsverkehrs von Ssamara aus als gut bezeichnet werden.
In siebentägiger Fahrt waren reichlich 3400 Kilometer zurückgelegt worden.

Moskau wird von Moltke in seinen Briefen als wunderbar schön ge¬
schildert. Freilich der Rundblick vom Iwan-Weliki-Turm im Kreml und von
den Sperlingsbergen, von denen aus Napoleon die Stadt vor sich zum ersten¬
mal erblickte, gehören zu den großartigsten Städtebildern, die man kennt. Die
Häusermassen mit den grünen Dächern, die bunten und goldnen Kuppeln der
unzähligen Kirchen, die Umrahmung mit den Gärten und parkartig durch¬
lichteten Wäldern wirken gleichmäßig, ob nun Schnee das Ganze überdeckt
oder ein frisches Grün die an sich häßlich gestrichnen Häusermassen unterbricht,
oder wie bei unserm kurzen Aufenthalt nur noch halbwinterlicher Zustand
herrscht und die Straßen von Schnee und zu Eis gefrorner Schlittenbahn be¬
freit sind. Und doch ist man berechtigt, Moskau eigentliche Schönheit abzu¬
sprechen. Der Petersburger nennt es ein großes Dorf. Und das Sprichwort:
"Krätze am Russen, und bald zeigt sich der Talar", paßt auf Moskau über¬
tragen ganz genau: "Krätze die europäische Tünche ub, und Asien kommt zum
Vorschein." Ich hatte Moskau neun Jahre lang nicht gesehen und konnte
manchen Fortschritt erkennen, aber ich war auch kritischer geworden und fand
ein Urteil mir aus der Seele gesprochen, das ich in der Nowoje Wremja las:
"Moskau ist noch immer dieselbe geräuschvolle, geschmacklose, malerischste und
schmutzigste aller Residenzen. Als Peter der Große sein Rußland von dem
Tatarentum nicht befreien konnte, schmiedete er es an das westliche Europa
an, aber Moskau blieb der alte Riesennagel, mit dem sein Land an Asien be¬
festigt war. Die Kremlkirchen sind die unglückseligen Zeugen davon. Im Ver¬
gleich zu andern hehren Denkmälern christlicher Baukunst setzt ihre Kleinheit
und plumpe Gestalt in Erstaunen und erweckt die Erinnerung an eine arm¬
selige, in der Anlage verpfuschte Kultur, an etwas Heimatliches und doch
wieder Abstoßendes." Wirklich, in dem Stilmischmasch dieser Kirchen ist nir¬
gends etwas großartiges, nirgends ein eigenartiger Zug, ist alles entlehnt und
alles verballhornisiert, zusammengeknittert. Von dem bunten Kleckswerk der
elf Kapellchen des Wassili Blashenny auf dem Roten Platz bis zu dem ver¬
goldeten Kiosk, der Alexanders des Zweiten Standbild überdacht, überall ist die


Über Moskau heimwärts

Unreinlichkeiten des Wagenfußbodens ausfegte, darüber bin ich zu keinem Ent¬
schluß gekommen.

Nach einem fahlen Morgen in dieser übelriechenden, widerlichen Umgebung
nahte endlich die Erlösung. Wälder und Datschen (Sommerlandhäuser) kün¬
digten die Nähe von Moskau an, die Halbstationen wurden häufiger, manchmal
wurden sie glatt durchfahren. Bald folgten die Gurten der ausgedehnten Vor¬
städte, und fast fahrplanmäßig lief der Zug endlich in den Njäsaner Bahnhof
ein. Durch die Verspätung in Ssamara hatten wir den Kurierzug versäumen
müssen und einen halben Tag verloren. Trotzdem konnte der erzielte Rekord
in Anbetracht des kaum eröffneten Betriebes auf der Orenburg—Taschkenter
Eisenbahn und des Kriegsverkehrs von Ssamara aus als gut bezeichnet werden.
In siebentägiger Fahrt waren reichlich 3400 Kilometer zurückgelegt worden.

Moskau wird von Moltke in seinen Briefen als wunderbar schön ge¬
schildert. Freilich der Rundblick vom Iwan-Weliki-Turm im Kreml und von
den Sperlingsbergen, von denen aus Napoleon die Stadt vor sich zum ersten¬
mal erblickte, gehören zu den großartigsten Städtebildern, die man kennt. Die
Häusermassen mit den grünen Dächern, die bunten und goldnen Kuppeln der
unzähligen Kirchen, die Umrahmung mit den Gärten und parkartig durch¬
lichteten Wäldern wirken gleichmäßig, ob nun Schnee das Ganze überdeckt
oder ein frisches Grün die an sich häßlich gestrichnen Häusermassen unterbricht,
oder wie bei unserm kurzen Aufenthalt nur noch halbwinterlicher Zustand
herrscht und die Straßen von Schnee und zu Eis gefrorner Schlittenbahn be¬
freit sind. Und doch ist man berechtigt, Moskau eigentliche Schönheit abzu¬
sprechen. Der Petersburger nennt es ein großes Dorf. Und das Sprichwort:
„Krätze am Russen, und bald zeigt sich der Talar", paßt auf Moskau über¬
tragen ganz genau: „Krätze die europäische Tünche ub, und Asien kommt zum
Vorschein." Ich hatte Moskau neun Jahre lang nicht gesehen und konnte
manchen Fortschritt erkennen, aber ich war auch kritischer geworden und fand
ein Urteil mir aus der Seele gesprochen, das ich in der Nowoje Wremja las:
„Moskau ist noch immer dieselbe geräuschvolle, geschmacklose, malerischste und
schmutzigste aller Residenzen. Als Peter der Große sein Rußland von dem
Tatarentum nicht befreien konnte, schmiedete er es an das westliche Europa
an, aber Moskau blieb der alte Riesennagel, mit dem sein Land an Asien be¬
festigt war. Die Kremlkirchen sind die unglückseligen Zeugen davon. Im Ver¬
gleich zu andern hehren Denkmälern christlicher Baukunst setzt ihre Kleinheit
und plumpe Gestalt in Erstaunen und erweckt die Erinnerung an eine arm¬
selige, in der Anlage verpfuschte Kultur, an etwas Heimatliches und doch
wieder Abstoßendes." Wirklich, in dem Stilmischmasch dieser Kirchen ist nir¬
gends etwas großartiges, nirgends ein eigenartiger Zug, ist alles entlehnt und
alles verballhornisiert, zusammengeknittert. Von dem bunten Kleckswerk der
elf Kapellchen des Wassili Blashenny auf dem Roten Platz bis zu dem ver¬
goldeten Kiosk, der Alexanders des Zweiten Standbild überdacht, überall ist die


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[0419] Über Moskau heimwärts Unreinlichkeiten des Wagenfußbodens ausfegte, darüber bin ich zu keinem Ent¬ schluß gekommen. Nach einem fahlen Morgen in dieser übelriechenden, widerlichen Umgebung nahte endlich die Erlösung. Wälder und Datschen (Sommerlandhäuser) kün¬ digten die Nähe von Moskau an, die Halbstationen wurden häufiger, manchmal wurden sie glatt durchfahren. Bald folgten die Gurten der ausgedehnten Vor¬ städte, und fast fahrplanmäßig lief der Zug endlich in den Njäsaner Bahnhof ein. Durch die Verspätung in Ssamara hatten wir den Kurierzug versäumen müssen und einen halben Tag verloren. Trotzdem konnte der erzielte Rekord in Anbetracht des kaum eröffneten Betriebes auf der Orenburg—Taschkenter Eisenbahn und des Kriegsverkehrs von Ssamara aus als gut bezeichnet werden. In siebentägiger Fahrt waren reichlich 3400 Kilometer zurückgelegt worden. Moskau wird von Moltke in seinen Briefen als wunderbar schön ge¬ schildert. Freilich der Rundblick vom Iwan-Weliki-Turm im Kreml und von den Sperlingsbergen, von denen aus Napoleon die Stadt vor sich zum ersten¬ mal erblickte, gehören zu den großartigsten Städtebildern, die man kennt. Die Häusermassen mit den grünen Dächern, die bunten und goldnen Kuppeln der unzähligen Kirchen, die Umrahmung mit den Gärten und parkartig durch¬ lichteten Wäldern wirken gleichmäßig, ob nun Schnee das Ganze überdeckt oder ein frisches Grün die an sich häßlich gestrichnen Häusermassen unterbricht, oder wie bei unserm kurzen Aufenthalt nur noch halbwinterlicher Zustand herrscht und die Straßen von Schnee und zu Eis gefrorner Schlittenbahn be¬ freit sind. Und doch ist man berechtigt, Moskau eigentliche Schönheit abzu¬ sprechen. Der Petersburger nennt es ein großes Dorf. Und das Sprichwort: „Krätze am Russen, und bald zeigt sich der Talar", paßt auf Moskau über¬ tragen ganz genau: „Krätze die europäische Tünche ub, und Asien kommt zum Vorschein." Ich hatte Moskau neun Jahre lang nicht gesehen und konnte manchen Fortschritt erkennen, aber ich war auch kritischer geworden und fand ein Urteil mir aus der Seele gesprochen, das ich in der Nowoje Wremja las: „Moskau ist noch immer dieselbe geräuschvolle, geschmacklose, malerischste und schmutzigste aller Residenzen. Als Peter der Große sein Rußland von dem Tatarentum nicht befreien konnte, schmiedete er es an das westliche Europa an, aber Moskau blieb der alte Riesennagel, mit dem sein Land an Asien be¬ festigt war. Die Kremlkirchen sind die unglückseligen Zeugen davon. Im Ver¬ gleich zu andern hehren Denkmälern christlicher Baukunst setzt ihre Kleinheit und plumpe Gestalt in Erstaunen und erweckt die Erinnerung an eine arm¬ selige, in der Anlage verpfuschte Kultur, an etwas Heimatliches und doch wieder Abstoßendes." Wirklich, in dem Stilmischmasch dieser Kirchen ist nir¬ gends etwas großartiges, nirgends ein eigenartiger Zug, ist alles entlehnt und alles verballhornisiert, zusammengeknittert. Von dem bunten Kleckswerk der elf Kapellchen des Wassili Blashenny auf dem Roten Platz bis zu dem ver¬ goldeten Kiosk, der Alexanders des Zweiten Standbild überdacht, überall ist die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/419>, abgerufen am 01.09.2024.