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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Betrachtungen über innere Politik

Kriegsentschädigung, die dem deutschen Markte reiche Mittel zur Verfügung
gab. Bei den Völkern, die, glücklicher als wir, die politische Einigung seit
vielen Jahrhunderten hatten, konnten die Fortschritte der Technik keine so um¬
wälzenden Folgen haben als bei uns, wo die Verwirklichung des Traumes
unsrer Vorfahren unser Staatsleben von Grund aus umgestaltete und allen
bis dahin gebundnen Kräften gewaltige Impulse gab. In kurzem Zeitraum
wurde mit Riesenschritten nachgeholt, was uns fehlte, wurden in einem Jahre
unter der Führung der preußischen Macht die Fehler eines Jahrtausends wett
gemacht. Das kriegstüchtigste Volk der Welt, dessen Blut auf allen Schlacht¬
feldern Europas mit Ehren geflossen war, und das doch dank seiner politischen
Zerrissenheit nur als Volk der Denker mitleidig geduldet wurde, hatte sich
Plötzlich aufgerafft, sich seinen Platz an der Sonne erobert und trat ein in die
Reihe der Weltmächte. Aber es geschah unvermittelt, der Übergang fehlte,
keine politische Schulung in innern Kämpfen hatte das Volk vorbereitet auf
die neue Stellung in der Welt, auf die großen neuen Aufgaben, die jetzt zu
erfüllen waren. Die Kämpfe der preußischen Konfliktszeit hatten doch am
besten die politische Unreife selbst der Männer erwiesen, die in dein einzigen
deutschen Staate, der eine stolze Geschichte hatte, zur Führung des Volkes be¬
rufen waren.

Mit der Ng-Zug. OKg,rw begann im Jahre 1215 der Kampf des englischen
Volkes um seine politische Freiheit, und in jahrhundertelangem Ringen des
Parlaments mit der Krone ist dann die ungeschriebne englische Verfassung ent¬
standen, die gerade deshalb so fest im Rechtsbewußtsein des Volkes begründet
ist, weil sie nicht das Ergebnis kühler Erwägungen und schwächlicher Kom¬
promisse ist, sondern weil sie historisch geworden, weil sie Stück für Stück er¬
kämpft und errungen ist. So hat sich das politisch begabte englische Volk wie
einstmals das römische Volk im Laufe der Zeit das Recht und die Verfassung
geschaffen, die seiner Eigenart entsprechen, indem es mit zäh konservativem
Sinne auf dem vorhandnen Grunde weiterbaute und nur da veränderte und
erweiterte, wo neue Bedürfnisse entstanden, denen das geltende Recht nicht mehr
genügte. Das englische Volk hat es niemals nötig gehabt, sich an seine Ver¬
fassung zu gewöhnen, in diese Verfassung erst hineinzuwachsen, denn Recht und
Verfassung sind mit ihm geworden, sind das natürliche Ergebnis seiner Ge¬
schichte. Wie anders bei uns. Was waren wir vor 1866 und 1870?

Unklar und unreif waren die Gedanken, die in der Revolution von 1843
ihren Ausdruck fanden, unklar und unreif die Träume und Wünsche der Zeit
der Schützenfeste und eine politische Donquijoterie die Begeisterung des deutschen
Volkes für die Freiheitskämpfe der Hellenen und der Polen. Als dann aber
die Männer kamen, die den Weg weisen wollten aus dieser Wirrnis, als König
Wilhelm und Bismarck die Mittel forderten, Preußen stark zu machen für den
unvermeidlichen Kampf, da ergab sich, daß sogar im Staate Friedrichs des
Großen sie fast niemand verstand. In den schlimmen Jahrzehnten, die auf die
Befreiungskriege folgten, hatte man sich des politischen Handelns entwöhnt,


Betrachtungen über innere Politik

Kriegsentschädigung, die dem deutschen Markte reiche Mittel zur Verfügung
gab. Bei den Völkern, die, glücklicher als wir, die politische Einigung seit
vielen Jahrhunderten hatten, konnten die Fortschritte der Technik keine so um¬
wälzenden Folgen haben als bei uns, wo die Verwirklichung des Traumes
unsrer Vorfahren unser Staatsleben von Grund aus umgestaltete und allen
bis dahin gebundnen Kräften gewaltige Impulse gab. In kurzem Zeitraum
wurde mit Riesenschritten nachgeholt, was uns fehlte, wurden in einem Jahre
unter der Führung der preußischen Macht die Fehler eines Jahrtausends wett
gemacht. Das kriegstüchtigste Volk der Welt, dessen Blut auf allen Schlacht¬
feldern Europas mit Ehren geflossen war, und das doch dank seiner politischen
Zerrissenheit nur als Volk der Denker mitleidig geduldet wurde, hatte sich
Plötzlich aufgerafft, sich seinen Platz an der Sonne erobert und trat ein in die
Reihe der Weltmächte. Aber es geschah unvermittelt, der Übergang fehlte,
keine politische Schulung in innern Kämpfen hatte das Volk vorbereitet auf
die neue Stellung in der Welt, auf die großen neuen Aufgaben, die jetzt zu
erfüllen waren. Die Kämpfe der preußischen Konfliktszeit hatten doch am
besten die politische Unreife selbst der Männer erwiesen, die in dein einzigen
deutschen Staate, der eine stolze Geschichte hatte, zur Führung des Volkes be¬
rufen waren.

Mit der Ng-Zug. OKg,rw begann im Jahre 1215 der Kampf des englischen
Volkes um seine politische Freiheit, und in jahrhundertelangem Ringen des
Parlaments mit der Krone ist dann die ungeschriebne englische Verfassung ent¬
standen, die gerade deshalb so fest im Rechtsbewußtsein des Volkes begründet
ist, weil sie nicht das Ergebnis kühler Erwägungen und schwächlicher Kom¬
promisse ist, sondern weil sie historisch geworden, weil sie Stück für Stück er¬
kämpft und errungen ist. So hat sich das politisch begabte englische Volk wie
einstmals das römische Volk im Laufe der Zeit das Recht und die Verfassung
geschaffen, die seiner Eigenart entsprechen, indem es mit zäh konservativem
Sinne auf dem vorhandnen Grunde weiterbaute und nur da veränderte und
erweiterte, wo neue Bedürfnisse entstanden, denen das geltende Recht nicht mehr
genügte. Das englische Volk hat es niemals nötig gehabt, sich an seine Ver¬
fassung zu gewöhnen, in diese Verfassung erst hineinzuwachsen, denn Recht und
Verfassung sind mit ihm geworden, sind das natürliche Ergebnis seiner Ge¬
schichte. Wie anders bei uns. Was waren wir vor 1866 und 1870?

Unklar und unreif waren die Gedanken, die in der Revolution von 1843
ihren Ausdruck fanden, unklar und unreif die Träume und Wünsche der Zeit
der Schützenfeste und eine politische Donquijoterie die Begeisterung des deutschen
Volkes für die Freiheitskämpfe der Hellenen und der Polen. Als dann aber
die Männer kamen, die den Weg weisen wollten aus dieser Wirrnis, als König
Wilhelm und Bismarck die Mittel forderten, Preußen stark zu machen für den
unvermeidlichen Kampf, da ergab sich, daß sogar im Staate Friedrichs des
Großen sie fast niemand verstand. In den schlimmen Jahrzehnten, die auf die
Befreiungskriege folgten, hatte man sich des politischen Handelns entwöhnt,


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[0399] Betrachtungen über innere Politik Kriegsentschädigung, die dem deutschen Markte reiche Mittel zur Verfügung gab. Bei den Völkern, die, glücklicher als wir, die politische Einigung seit vielen Jahrhunderten hatten, konnten die Fortschritte der Technik keine so um¬ wälzenden Folgen haben als bei uns, wo die Verwirklichung des Traumes unsrer Vorfahren unser Staatsleben von Grund aus umgestaltete und allen bis dahin gebundnen Kräften gewaltige Impulse gab. In kurzem Zeitraum wurde mit Riesenschritten nachgeholt, was uns fehlte, wurden in einem Jahre unter der Führung der preußischen Macht die Fehler eines Jahrtausends wett gemacht. Das kriegstüchtigste Volk der Welt, dessen Blut auf allen Schlacht¬ feldern Europas mit Ehren geflossen war, und das doch dank seiner politischen Zerrissenheit nur als Volk der Denker mitleidig geduldet wurde, hatte sich Plötzlich aufgerafft, sich seinen Platz an der Sonne erobert und trat ein in die Reihe der Weltmächte. Aber es geschah unvermittelt, der Übergang fehlte, keine politische Schulung in innern Kämpfen hatte das Volk vorbereitet auf die neue Stellung in der Welt, auf die großen neuen Aufgaben, die jetzt zu erfüllen waren. Die Kämpfe der preußischen Konfliktszeit hatten doch am besten die politische Unreife selbst der Männer erwiesen, die in dein einzigen deutschen Staate, der eine stolze Geschichte hatte, zur Führung des Volkes be¬ rufen waren. Mit der Ng-Zug. OKg,rw begann im Jahre 1215 der Kampf des englischen Volkes um seine politische Freiheit, und in jahrhundertelangem Ringen des Parlaments mit der Krone ist dann die ungeschriebne englische Verfassung ent¬ standen, die gerade deshalb so fest im Rechtsbewußtsein des Volkes begründet ist, weil sie nicht das Ergebnis kühler Erwägungen und schwächlicher Kom¬ promisse ist, sondern weil sie historisch geworden, weil sie Stück für Stück er¬ kämpft und errungen ist. So hat sich das politisch begabte englische Volk wie einstmals das römische Volk im Laufe der Zeit das Recht und die Verfassung geschaffen, die seiner Eigenart entsprechen, indem es mit zäh konservativem Sinne auf dem vorhandnen Grunde weiterbaute und nur da veränderte und erweiterte, wo neue Bedürfnisse entstanden, denen das geltende Recht nicht mehr genügte. Das englische Volk hat es niemals nötig gehabt, sich an seine Ver¬ fassung zu gewöhnen, in diese Verfassung erst hineinzuwachsen, denn Recht und Verfassung sind mit ihm geworden, sind das natürliche Ergebnis seiner Ge¬ schichte. Wie anders bei uns. Was waren wir vor 1866 und 1870? Unklar und unreif waren die Gedanken, die in der Revolution von 1843 ihren Ausdruck fanden, unklar und unreif die Träume und Wünsche der Zeit der Schützenfeste und eine politische Donquijoterie die Begeisterung des deutschen Volkes für die Freiheitskämpfe der Hellenen und der Polen. Als dann aber die Männer kamen, die den Weg weisen wollten aus dieser Wirrnis, als König Wilhelm und Bismarck die Mittel forderten, Preußen stark zu machen für den unvermeidlichen Kampf, da ergab sich, daß sogar im Staate Friedrichs des Großen sie fast niemand verstand. In den schlimmen Jahrzehnten, die auf die Befreiungskriege folgten, hatte man sich des politischen Handelns entwöhnt,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/399>, abgerufen am 01.09.2024.