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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Zum Ursprung des Märchens

daß für den Wilden Ideen assoziierbar sind, die uns weit auseinander zu
liegen scheinen. Unbekümmert um Möglichkeit und Unmöglichkeit -- in unserm
Sinne -- bringt der Wilde die heterogensten Dinge zusammen. So muß uns
das Denken des Primitiven recht phantastisch erscheinen, noch mehr natürlich
müssen es seine Erzählungen.

Der Kausalitätsdrang des natürlichen Menschen ist stark entwickelt. Wo
nicht gerade eine starke Degeneration vorliegt, haben fast alle Reisenden die leb¬
hafte Wißbegierde der Wilden feststellen können. So stark aber an sich das
Streben nach Erkenntnis der Ursachen ist, so wenig ist jedoch das langsame,
geduldige Suchen, das vorsichtige Fortschreiten zu der Ursache der Erscheinung
seine Sache. Für die Frage nach dem Warum hat er die Antwort gleich bei
der Hand. Er ist mit seinein kausalen Denken bald am Ende, weil er nur
so viel über die Dinge und ihr Wesen auszusagen vermag, als er von seinem
eignen Wesen und seinen persönlichen Erfahrungen zu schließen imstande ist.
Dazu kommt, daß das kausale Denken des Wilden immer durch die Unter¬
strömung des Willens beeinflußt wird. Die nächsten Beziehungen des Menschen
zu der Natur stellen seine Wünsche her. Die Fidschiinsulaner binden, wenn sie
noch einen weiten Weg nach Hause haben, Binsen zu einem Büschel inein¬
ander, um durch diese Verflechtung die Sonne zu hindern, unterzngehn. Wenn
sich ein Mohu in Neuguinea verspätet, so macht er eine Schlinge aus Schnur,
blickt hindurch nach der Sonne und schlingt dann den Faden zu einem Knoten
zusammen, wobei er ruft: "Warte, bis ich zu Hause bin, dann will ich dir das
Fett eines Schweines opfern."

Aus diesen leider nur zu kurz gekennzeichneten Eigentümlichkeiten des pri¬
mitiven Denkens ergeben sich einige allgemeingiltige, bei alleu primitiven Völkern
wiederkehrende Vorstellungskreise, die man ungefähr so zusammenfassen könnte:
1. Alle Erscheinungen der Natur, belebte oder unbelebte, faßt der Wilde als
persönliches Wesen. 2. Infolgedessen schafft er um sich und über sich ein Reich
von übernatürlichen Wesen: Seelen, Geister, Dämonen, Götter. 3. Der Natur¬
mensch zieht keine festen Grenzlinien zwischen sich und der umgebenden Welt.
4. Er steht deshalb in verwandtschaftlich nahem Verhältnis zu den Tieren. 5. Er
glaubt an die Verwandlung des Menschen in Tiere, Pflanzen, Dinge, Sterne.
6. Das Zauberwesen nimmt eine zentrale Stellung in seinem Denken ein.

In dieser geistigen Atmosphäre lebt und webt der primitive Mensch bei
Tag und bei Nacht. Im Traumleben kehren die Anschauungen des wachen
Bewußtseins in bunterer Folge wieder. Wenn nun der Wilde einen Vorgang
erzählen will, so mischen sich diese Vorstellungen, die wir als übernatürlich
empfinden, mit dem Zwange der Notwendigkeit ein. Auch wo er Selbsterleb¬
nisse wiedergibt, erzählt er von Zauberei und Begegnissen mit übernatürlichen
Wesen. Ein Beispiel möge das zeigen. Ein Australier erzählt nach dem Be¬
richt seines Vaters, daß dieser einst ins Schilf gegangen sei, um Enten zu
fangen- Plötzlich hörte er ein Geräusch wie vom Schwirren einer Wmfkcule.


Zum Ursprung des Märchens

daß für den Wilden Ideen assoziierbar sind, die uns weit auseinander zu
liegen scheinen. Unbekümmert um Möglichkeit und Unmöglichkeit — in unserm
Sinne — bringt der Wilde die heterogensten Dinge zusammen. So muß uns
das Denken des Primitiven recht phantastisch erscheinen, noch mehr natürlich
müssen es seine Erzählungen.

Der Kausalitätsdrang des natürlichen Menschen ist stark entwickelt. Wo
nicht gerade eine starke Degeneration vorliegt, haben fast alle Reisenden die leb¬
hafte Wißbegierde der Wilden feststellen können. So stark aber an sich das
Streben nach Erkenntnis der Ursachen ist, so wenig ist jedoch das langsame,
geduldige Suchen, das vorsichtige Fortschreiten zu der Ursache der Erscheinung
seine Sache. Für die Frage nach dem Warum hat er die Antwort gleich bei
der Hand. Er ist mit seinein kausalen Denken bald am Ende, weil er nur
so viel über die Dinge und ihr Wesen auszusagen vermag, als er von seinem
eignen Wesen und seinen persönlichen Erfahrungen zu schließen imstande ist.
Dazu kommt, daß das kausale Denken des Wilden immer durch die Unter¬
strömung des Willens beeinflußt wird. Die nächsten Beziehungen des Menschen
zu der Natur stellen seine Wünsche her. Die Fidschiinsulaner binden, wenn sie
noch einen weiten Weg nach Hause haben, Binsen zu einem Büschel inein¬
ander, um durch diese Verflechtung die Sonne zu hindern, unterzngehn. Wenn
sich ein Mohu in Neuguinea verspätet, so macht er eine Schlinge aus Schnur,
blickt hindurch nach der Sonne und schlingt dann den Faden zu einem Knoten
zusammen, wobei er ruft: „Warte, bis ich zu Hause bin, dann will ich dir das
Fett eines Schweines opfern."

Aus diesen leider nur zu kurz gekennzeichneten Eigentümlichkeiten des pri¬
mitiven Denkens ergeben sich einige allgemeingiltige, bei alleu primitiven Völkern
wiederkehrende Vorstellungskreise, die man ungefähr so zusammenfassen könnte:
1. Alle Erscheinungen der Natur, belebte oder unbelebte, faßt der Wilde als
persönliches Wesen. 2. Infolgedessen schafft er um sich und über sich ein Reich
von übernatürlichen Wesen: Seelen, Geister, Dämonen, Götter. 3. Der Natur¬
mensch zieht keine festen Grenzlinien zwischen sich und der umgebenden Welt.
4. Er steht deshalb in verwandtschaftlich nahem Verhältnis zu den Tieren. 5. Er
glaubt an die Verwandlung des Menschen in Tiere, Pflanzen, Dinge, Sterne.
6. Das Zauberwesen nimmt eine zentrale Stellung in seinem Denken ein.

In dieser geistigen Atmosphäre lebt und webt der primitive Mensch bei
Tag und bei Nacht. Im Traumleben kehren die Anschauungen des wachen
Bewußtseins in bunterer Folge wieder. Wenn nun der Wilde einen Vorgang
erzählen will, so mischen sich diese Vorstellungen, die wir als übernatürlich
empfinden, mit dem Zwange der Notwendigkeit ein. Auch wo er Selbsterleb¬
nisse wiedergibt, erzählt er von Zauberei und Begegnissen mit übernatürlichen
Wesen. Ein Beispiel möge das zeigen. Ein Australier erzählt nach dem Be¬
richt seines Vaters, daß dieser einst ins Schilf gegangen sei, um Enten zu
fangen- Plötzlich hörte er ein Geräusch wie vom Schwirren einer Wmfkcule.


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[0037] Zum Ursprung des Märchens daß für den Wilden Ideen assoziierbar sind, die uns weit auseinander zu liegen scheinen. Unbekümmert um Möglichkeit und Unmöglichkeit — in unserm Sinne — bringt der Wilde die heterogensten Dinge zusammen. So muß uns das Denken des Primitiven recht phantastisch erscheinen, noch mehr natürlich müssen es seine Erzählungen. Der Kausalitätsdrang des natürlichen Menschen ist stark entwickelt. Wo nicht gerade eine starke Degeneration vorliegt, haben fast alle Reisenden die leb¬ hafte Wißbegierde der Wilden feststellen können. So stark aber an sich das Streben nach Erkenntnis der Ursachen ist, so wenig ist jedoch das langsame, geduldige Suchen, das vorsichtige Fortschreiten zu der Ursache der Erscheinung seine Sache. Für die Frage nach dem Warum hat er die Antwort gleich bei der Hand. Er ist mit seinein kausalen Denken bald am Ende, weil er nur so viel über die Dinge und ihr Wesen auszusagen vermag, als er von seinem eignen Wesen und seinen persönlichen Erfahrungen zu schließen imstande ist. Dazu kommt, daß das kausale Denken des Wilden immer durch die Unter¬ strömung des Willens beeinflußt wird. Die nächsten Beziehungen des Menschen zu der Natur stellen seine Wünsche her. Die Fidschiinsulaner binden, wenn sie noch einen weiten Weg nach Hause haben, Binsen zu einem Büschel inein¬ ander, um durch diese Verflechtung die Sonne zu hindern, unterzngehn. Wenn sich ein Mohu in Neuguinea verspätet, so macht er eine Schlinge aus Schnur, blickt hindurch nach der Sonne und schlingt dann den Faden zu einem Knoten zusammen, wobei er ruft: „Warte, bis ich zu Hause bin, dann will ich dir das Fett eines Schweines opfern." Aus diesen leider nur zu kurz gekennzeichneten Eigentümlichkeiten des pri¬ mitiven Denkens ergeben sich einige allgemeingiltige, bei alleu primitiven Völkern wiederkehrende Vorstellungskreise, die man ungefähr so zusammenfassen könnte: 1. Alle Erscheinungen der Natur, belebte oder unbelebte, faßt der Wilde als persönliches Wesen. 2. Infolgedessen schafft er um sich und über sich ein Reich von übernatürlichen Wesen: Seelen, Geister, Dämonen, Götter. 3. Der Natur¬ mensch zieht keine festen Grenzlinien zwischen sich und der umgebenden Welt. 4. Er steht deshalb in verwandtschaftlich nahem Verhältnis zu den Tieren. 5. Er glaubt an die Verwandlung des Menschen in Tiere, Pflanzen, Dinge, Sterne. 6. Das Zauberwesen nimmt eine zentrale Stellung in seinem Denken ein. In dieser geistigen Atmosphäre lebt und webt der primitive Mensch bei Tag und bei Nacht. Im Traumleben kehren die Anschauungen des wachen Bewußtseins in bunterer Folge wieder. Wenn nun der Wilde einen Vorgang erzählen will, so mischen sich diese Vorstellungen, die wir als übernatürlich empfinden, mit dem Zwange der Notwendigkeit ein. Auch wo er Selbsterleb¬ nisse wiedergibt, erzählt er von Zauberei und Begegnissen mit übernatürlichen Wesen. Ein Beispiel möge das zeigen. Ein Australier erzählt nach dem Be¬ richt seines Vaters, daß dieser einst ins Schilf gegangen sei, um Enten zu fangen- Plötzlich hörte er ein Geräusch wie vom Schwirren einer Wmfkcule.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/37>, abgerufen am 12.12.2024.