Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.Betrachtungen über innere Politik haben wir seitdem gehabt, der gegenüber der Inhalt der vergangnen Jahr¬ Durch die Stein-Hardenbergische Gesetzgebung wurde zwar mit der Ver¬ *) S. Lamprecht, Zur jüngsten deutschen Vergangenheit, II, I. S. 119 ff. ") Grenzboten 1906, Heft 50, S. 574.
Betrachtungen über innere Politik haben wir seitdem gehabt, der gegenüber der Inhalt der vergangnen Jahr¬ Durch die Stein-Hardenbergische Gesetzgebung wurde zwar mit der Ver¬ *) S. Lamprecht, Zur jüngsten deutschen Vergangenheit, II, I. S. 119 ff. ") Grenzboten 1906, Heft 50, S. 574.
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0346" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/303048"/> <fw type="header" place="top"> Betrachtungen über innere Politik</fw><lb/> <p xml:id="ID_2058" prev="#ID_2057"> haben wir seitdem gehabt, der gegenüber der Inhalt der vergangnen Jahr¬<lb/> hunderte wie jahrhundertelanger Stillstand erscheint. Es ist notwendig, sich<lb/> darüber Klarheit zu verschaffen, was alles uns dieses eine letzte Jahrhundert<lb/> gebracht hat, welche tiefgreifende Änderung das Leben der Menschen in diesem<lb/> kurzen Zeitraum erfahren hat, wenn man begreifen will, daß diese nie dagewesne<lb/> Entwicklung das Gleichgewicht der Menschen beeinträchtigen und Wirkungen<lb/> hervorbringen mußte, die Krankheitserscheinungen gleichkommen. Und es ist weiter<lb/> notwendig, sich zu erinnern, wie anders und wie viel glücklicher die Geschichte<lb/> des englischen und auch des französischen Volkes verlaufen ist, wie spät wir im<lb/> Vergleich zu diesen beiden Nationen zur Selbständigkeit und Einheit gekommen<lb/> sind, und welche ungünstigen Folgen es gerade bei dem Charakter des Deutschen<lb/> haben mußte, daß unsre politische Einigung dem wirtschaftlichen Fortschritt nicht<lb/> vorherging, sondern zeitlich mit ihm zusammenfiel.</p><lb/> <p xml:id="ID_2059" next="#ID_2060"> Durch die Stein-Hardenbergische Gesetzgebung wurde zwar mit der Ver¬<lb/> gangenheit gebrochen, der Weg für den Fortschritt frei gemacht, indem die<lb/> ständische Gliederung beseitigt und die persönliche und wirtschaftliche Freiheit<lb/> gewährt wurde, aber zunächst ging es doch sehr langsam vorwärts. Der Verkehr<lb/> braucht gute Wege, und an diesen fehlte es noch fast ganz. Die römische Kunst<lb/> des Straßenbaues war längst verloren gegangen, bis weit in das neunzehnte<lb/> Jahrhundert blieb es bei dem mittelalterlichen Zustande, daß für den Verkehr<lb/> der Menschen, für die Bewegung der Güter nur schlechte Landwege zur Ver¬<lb/> fügung standen. Erst 1812 lernte Mac Adam die heute übliche Art des Straßen¬<lb/> baues in — China kennen, und es dauerte dann noch lange, bis in Deutschland<lb/> in größerm Umfang ein Netz moderner Kunststraßen geschaffen wurde.*) Nun<lb/> nahm sowohl die Masse wie die Schnelligkeit des Verkehrs zu, aber immer noch<lb/> rechnete man auf eine Tagereise nicht mehr als 40 Kilometer, und als 1824<lb/> der Generalpostmeister von Ncigler die englischen Schnellposten mit einer Tages¬<lb/> leistung von 75 Kilometern einführte, und der Postwagen von Berlin nach<lb/> Magdeburg nur noch 15 Stunden brauchte, statt wie bisher zwei Tage und<lb/> eine Nacht, da schüttelte man bedenklich den Kopf. Erst 1833 richtete Preußen<lb/> zwischen Berlin und Magdeburg den ersten optischen Telegraphen ein, und es<lb/> war ein gewaltiger Fortschritt, als man nach einiger Zeit unter Benutzung von<lb/> 50 je 15 Kilometer voneinander entfernten Stationen durch optische Zeichen in<lb/> 15 Minuten von Berlin nach dem Rhein Nachrichten übermitteln konnte. Be¬<lb/> zeichnend ist es, daß nur Regierungsdepeschen befördert und erst auf den Antrag<lb/> von Handelskammern auch Privatnachrichten zugelassen wurden.**) Die ersten<lb/> kleinen Eisenbahnen mit Pferdebetrieb wurden im Deutschen Reiche 1830 im<lb/> Wupper- und Ruhrtale gebaut, und so kann man also sagen, daß in unserm<lb/> Vaterlande der Verkehr noch völlig unentwickelt war, als schon ein Drittel des</p><lb/> <note xml:id="FID_30" place="foot"> *) S. Lamprecht, Zur jüngsten deutschen Vergangenheit, II, I. S. 119 ff.</note><lb/> <note xml:id="FID_31" place="foot"> ") Grenzboten 1906, Heft 50, S. 574.</note><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0346]
Betrachtungen über innere Politik
haben wir seitdem gehabt, der gegenüber der Inhalt der vergangnen Jahr¬
hunderte wie jahrhundertelanger Stillstand erscheint. Es ist notwendig, sich
darüber Klarheit zu verschaffen, was alles uns dieses eine letzte Jahrhundert
gebracht hat, welche tiefgreifende Änderung das Leben der Menschen in diesem
kurzen Zeitraum erfahren hat, wenn man begreifen will, daß diese nie dagewesne
Entwicklung das Gleichgewicht der Menschen beeinträchtigen und Wirkungen
hervorbringen mußte, die Krankheitserscheinungen gleichkommen. Und es ist weiter
notwendig, sich zu erinnern, wie anders und wie viel glücklicher die Geschichte
des englischen und auch des französischen Volkes verlaufen ist, wie spät wir im
Vergleich zu diesen beiden Nationen zur Selbständigkeit und Einheit gekommen
sind, und welche ungünstigen Folgen es gerade bei dem Charakter des Deutschen
haben mußte, daß unsre politische Einigung dem wirtschaftlichen Fortschritt nicht
vorherging, sondern zeitlich mit ihm zusammenfiel.
Durch die Stein-Hardenbergische Gesetzgebung wurde zwar mit der Ver¬
gangenheit gebrochen, der Weg für den Fortschritt frei gemacht, indem die
ständische Gliederung beseitigt und die persönliche und wirtschaftliche Freiheit
gewährt wurde, aber zunächst ging es doch sehr langsam vorwärts. Der Verkehr
braucht gute Wege, und an diesen fehlte es noch fast ganz. Die römische Kunst
des Straßenbaues war längst verloren gegangen, bis weit in das neunzehnte
Jahrhundert blieb es bei dem mittelalterlichen Zustande, daß für den Verkehr
der Menschen, für die Bewegung der Güter nur schlechte Landwege zur Ver¬
fügung standen. Erst 1812 lernte Mac Adam die heute übliche Art des Straßen¬
baues in — China kennen, und es dauerte dann noch lange, bis in Deutschland
in größerm Umfang ein Netz moderner Kunststraßen geschaffen wurde.*) Nun
nahm sowohl die Masse wie die Schnelligkeit des Verkehrs zu, aber immer noch
rechnete man auf eine Tagereise nicht mehr als 40 Kilometer, und als 1824
der Generalpostmeister von Ncigler die englischen Schnellposten mit einer Tages¬
leistung von 75 Kilometern einführte, und der Postwagen von Berlin nach
Magdeburg nur noch 15 Stunden brauchte, statt wie bisher zwei Tage und
eine Nacht, da schüttelte man bedenklich den Kopf. Erst 1833 richtete Preußen
zwischen Berlin und Magdeburg den ersten optischen Telegraphen ein, und es
war ein gewaltiger Fortschritt, als man nach einiger Zeit unter Benutzung von
50 je 15 Kilometer voneinander entfernten Stationen durch optische Zeichen in
15 Minuten von Berlin nach dem Rhein Nachrichten übermitteln konnte. Be¬
zeichnend ist es, daß nur Regierungsdepeschen befördert und erst auf den Antrag
von Handelskammern auch Privatnachrichten zugelassen wurden.**) Die ersten
kleinen Eisenbahnen mit Pferdebetrieb wurden im Deutschen Reiche 1830 im
Wupper- und Ruhrtale gebaut, und so kann man also sagen, daß in unserm
Vaterlande der Verkehr noch völlig unentwickelt war, als schon ein Drittel des
*) S. Lamprecht, Zur jüngsten deutschen Vergangenheit, II, I. S. 119 ff.
") Grenzboten 1906, Heft 50, S. 574.
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