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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Zehn Jahre Zionismus

Dennoch kann man auch heute zwei verschiednen Ausgangspunkten in der
Bewegung nachgehn, der Judeuuot und der Palästinatrene. Aber der erste Be¬
weggrund darf nur einer unter andern sein und würde in seiner Triebkraft
versagen, sobald die Not einmal abstand, oder sich den Heimatlosen neue Sied¬
lungsmöglichkeiten eröffnen; er hat seinen Herd in den Ländern der jüdischen
Assimilation, das heißt in Westeuropa und in Amerika. Viel stündiger, und nicht
bloß nach Bedarf, fließt die zweite Quelle der zionistischen Bewegung, die un-
versiegliche Palästinatreue, die aus religiösen und nationalen Gründen für das
Land der Väter arbeitet und namentlich an den jüdischen Massen des östlichen
Europas ihren Rückhalt hat. Diese sieben Millionen, die die überwiegende
Mehrheit der gesamten Judenschaft darstellen, "vollen lieber alle Not ertragen,
als ihr Volkstum und ihre Hoffnungen verleugnen.

Aber obwohl ihrer Arbeit in Palästina und für Palästina das moderne
Prinzip der Selbsthilfe zugrunde liegt, war sie doch ungeregelt und planlos;
die Kolonisationsversnche, die genau vor einem Vierteljahrhundert zur Gründung
der erste" jüdische" Kolonie im Heiligen Lande führten, tränkten daran, daß sie
auf der Wohltätigkeitsform aufgebaut waren. Man nennt diese Art philan¬
thropischer Kleinkolonisation den Chowewe-Zionismus, er hat noch heute an der
Odessaer Gesellschaft zur Unterstützung jüdischer Ackerbauer in Palästina und
Syrien seinen Mittelpunkt. .

Das Ziel dieser Kolonisationszionistcn ist ungefähr das gleiche wie das
des politischen Zionismus, beide erstreben die Schaffung eines unabhängigen
jüdischen Gemeinwesens als eines nationalen Zentrums für die Judenheit. Aber
der Fehler jener Zionsfreunde war, daß sie dieses Ziel nicht offen vor aller
Welt proklamierten, vielmehr glaubten, es ohne eine gesicherte rechtliche Grund¬
lage der türkischen Verwaltung gegenüber in aller Stille, durch allmähliche
"Infiltration" des Landes, erreichen zu können. Infolgedessen überließen sie,
statt eine große nationale Organisation ins Leben zu rufen, die Aktion privaten
Kolonisationsvereinen und Einzelpersonen, unter denen sich namentlich der Baron
Edmund Rothschild in Paris mit seinem Fünfzigmillionenopfer ein rühmliches
Andenken gesetzt hat. Aber die Schäden dieses philanthropischen Systems zeigten
sich bald in allerlei Schwierigkeiten von seiten der türkischen Behörden, in öko¬
nomischen Übelstünden der Wirtschaft und in der Demoralisation der Kolonisten,
denen durch die ständige Kreditgewährung Verantwortlichkeitsgefühl und Arbeits¬
trieb mehr und mehr abhanden kamen. Es wurden hier dieselben Fehler ge¬
macht und erkannt, die z. B. Professor Kaerger in seiner Arbeit "Landwirtschaft
und Kolonisation im spanischen Amerika" (1901, Bd. 2, S. 72) hervorhebt, und
die überhaupt in der Jugendgeschichte der europäischen Siedlungen ziemlich regel¬
mäßig wiederkehren.

So richtig also vom Standpunkt des modernen politischen Zionismus das
Ziel der Chowewe-Zionisten war, so verfehlt war ihre Methode. Aber dennoch
hat diese Kolonisationstätigkeit Kraft- und Willen ausgelöst und auch in den


Zehn Jahre Zionismus

Dennoch kann man auch heute zwei verschiednen Ausgangspunkten in der
Bewegung nachgehn, der Judeuuot und der Palästinatrene. Aber der erste Be¬
weggrund darf nur einer unter andern sein und würde in seiner Triebkraft
versagen, sobald die Not einmal abstand, oder sich den Heimatlosen neue Sied¬
lungsmöglichkeiten eröffnen; er hat seinen Herd in den Ländern der jüdischen
Assimilation, das heißt in Westeuropa und in Amerika. Viel stündiger, und nicht
bloß nach Bedarf, fließt die zweite Quelle der zionistischen Bewegung, die un-
versiegliche Palästinatreue, die aus religiösen und nationalen Gründen für das
Land der Väter arbeitet und namentlich an den jüdischen Massen des östlichen
Europas ihren Rückhalt hat. Diese sieben Millionen, die die überwiegende
Mehrheit der gesamten Judenschaft darstellen, »vollen lieber alle Not ertragen,
als ihr Volkstum und ihre Hoffnungen verleugnen.

Aber obwohl ihrer Arbeit in Palästina und für Palästina das moderne
Prinzip der Selbsthilfe zugrunde liegt, war sie doch ungeregelt und planlos;
die Kolonisationsversnche, die genau vor einem Vierteljahrhundert zur Gründung
der erste» jüdische» Kolonie im Heiligen Lande führten, tränkten daran, daß sie
auf der Wohltätigkeitsform aufgebaut waren. Man nennt diese Art philan¬
thropischer Kleinkolonisation den Chowewe-Zionismus, er hat noch heute an der
Odessaer Gesellschaft zur Unterstützung jüdischer Ackerbauer in Palästina und
Syrien seinen Mittelpunkt. .

Das Ziel dieser Kolonisationszionistcn ist ungefähr das gleiche wie das
des politischen Zionismus, beide erstreben die Schaffung eines unabhängigen
jüdischen Gemeinwesens als eines nationalen Zentrums für die Judenheit. Aber
der Fehler jener Zionsfreunde war, daß sie dieses Ziel nicht offen vor aller
Welt proklamierten, vielmehr glaubten, es ohne eine gesicherte rechtliche Grund¬
lage der türkischen Verwaltung gegenüber in aller Stille, durch allmähliche
„Infiltration" des Landes, erreichen zu können. Infolgedessen überließen sie,
statt eine große nationale Organisation ins Leben zu rufen, die Aktion privaten
Kolonisationsvereinen und Einzelpersonen, unter denen sich namentlich der Baron
Edmund Rothschild in Paris mit seinem Fünfzigmillionenopfer ein rühmliches
Andenken gesetzt hat. Aber die Schäden dieses philanthropischen Systems zeigten
sich bald in allerlei Schwierigkeiten von seiten der türkischen Behörden, in öko¬
nomischen Übelstünden der Wirtschaft und in der Demoralisation der Kolonisten,
denen durch die ständige Kreditgewährung Verantwortlichkeitsgefühl und Arbeits¬
trieb mehr und mehr abhanden kamen. Es wurden hier dieselben Fehler ge¬
macht und erkannt, die z. B. Professor Kaerger in seiner Arbeit „Landwirtschaft
und Kolonisation im spanischen Amerika" (1901, Bd. 2, S. 72) hervorhebt, und
die überhaupt in der Jugendgeschichte der europäischen Siedlungen ziemlich regel¬
mäßig wiederkehren.

So richtig also vom Standpunkt des modernen politischen Zionismus das
Ziel der Chowewe-Zionisten war, so verfehlt war ihre Methode. Aber dennoch
hat diese Kolonisationstätigkeit Kraft- und Willen ausgelöst und auch in den


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[0290] Zehn Jahre Zionismus Dennoch kann man auch heute zwei verschiednen Ausgangspunkten in der Bewegung nachgehn, der Judeuuot und der Palästinatrene. Aber der erste Be¬ weggrund darf nur einer unter andern sein und würde in seiner Triebkraft versagen, sobald die Not einmal abstand, oder sich den Heimatlosen neue Sied¬ lungsmöglichkeiten eröffnen; er hat seinen Herd in den Ländern der jüdischen Assimilation, das heißt in Westeuropa und in Amerika. Viel stündiger, und nicht bloß nach Bedarf, fließt die zweite Quelle der zionistischen Bewegung, die un- versiegliche Palästinatreue, die aus religiösen und nationalen Gründen für das Land der Väter arbeitet und namentlich an den jüdischen Massen des östlichen Europas ihren Rückhalt hat. Diese sieben Millionen, die die überwiegende Mehrheit der gesamten Judenschaft darstellen, »vollen lieber alle Not ertragen, als ihr Volkstum und ihre Hoffnungen verleugnen. Aber obwohl ihrer Arbeit in Palästina und für Palästina das moderne Prinzip der Selbsthilfe zugrunde liegt, war sie doch ungeregelt und planlos; die Kolonisationsversnche, die genau vor einem Vierteljahrhundert zur Gründung der erste» jüdische» Kolonie im Heiligen Lande führten, tränkten daran, daß sie auf der Wohltätigkeitsform aufgebaut waren. Man nennt diese Art philan¬ thropischer Kleinkolonisation den Chowewe-Zionismus, er hat noch heute an der Odessaer Gesellschaft zur Unterstützung jüdischer Ackerbauer in Palästina und Syrien seinen Mittelpunkt. . Das Ziel dieser Kolonisationszionistcn ist ungefähr das gleiche wie das des politischen Zionismus, beide erstreben die Schaffung eines unabhängigen jüdischen Gemeinwesens als eines nationalen Zentrums für die Judenheit. Aber der Fehler jener Zionsfreunde war, daß sie dieses Ziel nicht offen vor aller Welt proklamierten, vielmehr glaubten, es ohne eine gesicherte rechtliche Grund¬ lage der türkischen Verwaltung gegenüber in aller Stille, durch allmähliche „Infiltration" des Landes, erreichen zu können. Infolgedessen überließen sie, statt eine große nationale Organisation ins Leben zu rufen, die Aktion privaten Kolonisationsvereinen und Einzelpersonen, unter denen sich namentlich der Baron Edmund Rothschild in Paris mit seinem Fünfzigmillionenopfer ein rühmliches Andenken gesetzt hat. Aber die Schäden dieses philanthropischen Systems zeigten sich bald in allerlei Schwierigkeiten von seiten der türkischen Behörden, in öko¬ nomischen Übelstünden der Wirtschaft und in der Demoralisation der Kolonisten, denen durch die ständige Kreditgewährung Verantwortlichkeitsgefühl und Arbeits¬ trieb mehr und mehr abhanden kamen. Es wurden hier dieselben Fehler ge¬ macht und erkannt, die z. B. Professor Kaerger in seiner Arbeit „Landwirtschaft und Kolonisation im spanischen Amerika" (1901, Bd. 2, S. 72) hervorhebt, und die überhaupt in der Jugendgeschichte der europäischen Siedlungen ziemlich regel¬ mäßig wiederkehren. So richtig also vom Standpunkt des modernen politischen Zionismus das Ziel der Chowewe-Zionisten war, so verfehlt war ihre Methode. Aber dennoch hat diese Kolonisationstätigkeit Kraft- und Willen ausgelöst und auch in den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/290>, abgerufen am 01.09.2024.