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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Naturwissenschaft und Theismus

Naturwissenschaften kann keine einzige mit einem Kirchendogma kollidieren --,
wohl aber der Geschichte, der Psychologie und dem Empfinden des modernen
Menschen. Nur steht einer solchen Verbesserung des Kirchenwesens kein ge¬
waltigeres Hindernis im Wege als gerade die weite Verbreitung und die Macht
der Haeckelschen Lehre. Bei einer andern Gelegenheit habe ich ausgeführt: auf¬
geklärte Katholiken sind keineswegs mit allem einverstanden, was ihre Kirche
lehrt, und was in dieser Kirche geschieht. Aber sie fürchten, das Herausbrechen
eines einzigen Steines aus dem Dogmengebäude könne den Zerfall des ganzen
Baues einleiten, und sie meinen: jedenfalls gefährde ein öffentlicher Protest
gegen kirchliche Lehren oder Bräuche die Einheit der Kirche, die sie als ein un¬
schätzbares Gut gewahrt wissen wollen. Darum unterdrücken sie ihre Zweifel
und Wünsche oder schließen sie wenigstens ins Herzenskämmerlein ein. Der
stärkste Grund für ein solches Verhalten ist nun eben die Herrschaft des Haeckel-
tums in den liberalen Kreisen. Die Katholiken sagen sich (gläubige Protestanten
natürlich ebenfalls): Wenn der Liberalismus zur Macht gelangt, dann werden
aus den Schulen alle gläubigen Lehrer verdrängt, und wird von Staats wegen
den Kindern nicht allein die natürliche Schöpfungsgeschichte eingebleut samt
allem, was drum und dran hängt, sondern es wird den Kindern auch als
Dogma eingeprägt, der Glaube an Gott, Willensfreiheit und Fortleben der
Seele nach dem Tode sei von der Naturwissenschaft als Irrtum nachgewiesen.
Auf dieser Lage beruht auch die zurzeit noch unerschütterliche Stärke des
Zentrums. Die katholischen Wähler halten zusammen, weil sie fürchten, ihre
Zersplitterung werde sofort wieder einen Kulturkampf zur Folge haben, und in
den Kundgebungen der Haeckeliciner sehen sie das Programm dieses neuen
Kulturkampfes: Verbannung des Katechismus und der Bibel aus der Schule
und Gründung des Unterrichts auf die Deszendenztheorie und den atheistischen
Monismus.

Möchten jedoch auch alle diese Wirkungen auf das religiös-kirchliche Leben
-- sie sind, wie man sieht, keineswegs alle auflösender, sondern zum Teil in
unerwünschter Weise kräftigender Art -- unberücksichtigt bleiben, vom rein wissen¬
schaftlichen Standpunkt aus betrachtet ist es ein schlechthin unerträglicher Zu¬
stand, daß eine kleine Gruppe von Biologen mit Hilfe einer zahlreichen Presse
die öffentliche Meinung in dem Vorurteil gebannt erhält, die in ihren meisten
Teilen längst widerlegte Haeckelsche Lehre sei nicht bloß echte und unwider-
legliche Wissenschaft, sondern sei die Wissenschaft, neben der keine andre Geltung
und Wert habe. Es ist die höchste Zeit, daß ein guter biologischer Unterricht
in den Schulen die Durchbrechung dieser terroristischen Herrschaft der Haeckelschen
Carl Jentsch Dogmen wenigstens von weitem anbahnt.




Naturwissenschaft und Theismus

Naturwissenschaften kann keine einzige mit einem Kirchendogma kollidieren —,
wohl aber der Geschichte, der Psychologie und dem Empfinden des modernen
Menschen. Nur steht einer solchen Verbesserung des Kirchenwesens kein ge¬
waltigeres Hindernis im Wege als gerade die weite Verbreitung und die Macht
der Haeckelschen Lehre. Bei einer andern Gelegenheit habe ich ausgeführt: auf¬
geklärte Katholiken sind keineswegs mit allem einverstanden, was ihre Kirche
lehrt, und was in dieser Kirche geschieht. Aber sie fürchten, das Herausbrechen
eines einzigen Steines aus dem Dogmengebäude könne den Zerfall des ganzen
Baues einleiten, und sie meinen: jedenfalls gefährde ein öffentlicher Protest
gegen kirchliche Lehren oder Bräuche die Einheit der Kirche, die sie als ein un¬
schätzbares Gut gewahrt wissen wollen. Darum unterdrücken sie ihre Zweifel
und Wünsche oder schließen sie wenigstens ins Herzenskämmerlein ein. Der
stärkste Grund für ein solches Verhalten ist nun eben die Herrschaft des Haeckel-
tums in den liberalen Kreisen. Die Katholiken sagen sich (gläubige Protestanten
natürlich ebenfalls): Wenn der Liberalismus zur Macht gelangt, dann werden
aus den Schulen alle gläubigen Lehrer verdrängt, und wird von Staats wegen
den Kindern nicht allein die natürliche Schöpfungsgeschichte eingebleut samt
allem, was drum und dran hängt, sondern es wird den Kindern auch als
Dogma eingeprägt, der Glaube an Gott, Willensfreiheit und Fortleben der
Seele nach dem Tode sei von der Naturwissenschaft als Irrtum nachgewiesen.
Auf dieser Lage beruht auch die zurzeit noch unerschütterliche Stärke des
Zentrums. Die katholischen Wähler halten zusammen, weil sie fürchten, ihre
Zersplitterung werde sofort wieder einen Kulturkampf zur Folge haben, und in
den Kundgebungen der Haeckeliciner sehen sie das Programm dieses neuen
Kulturkampfes: Verbannung des Katechismus und der Bibel aus der Schule
und Gründung des Unterrichts auf die Deszendenztheorie und den atheistischen
Monismus.

Möchten jedoch auch alle diese Wirkungen auf das religiös-kirchliche Leben
— sie sind, wie man sieht, keineswegs alle auflösender, sondern zum Teil in
unerwünschter Weise kräftigender Art — unberücksichtigt bleiben, vom rein wissen¬
schaftlichen Standpunkt aus betrachtet ist es ein schlechthin unerträglicher Zu¬
stand, daß eine kleine Gruppe von Biologen mit Hilfe einer zahlreichen Presse
die öffentliche Meinung in dem Vorurteil gebannt erhält, die in ihren meisten
Teilen längst widerlegte Haeckelsche Lehre sei nicht bloß echte und unwider-
legliche Wissenschaft, sondern sei die Wissenschaft, neben der keine andre Geltung
und Wert habe. Es ist die höchste Zeit, daß ein guter biologischer Unterricht
in den Schulen die Durchbrechung dieser terroristischen Herrschaft der Haeckelschen
Carl Jentsch Dogmen wenigstens von weitem anbahnt.




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[0202] Naturwissenschaft und Theismus Naturwissenschaften kann keine einzige mit einem Kirchendogma kollidieren —, wohl aber der Geschichte, der Psychologie und dem Empfinden des modernen Menschen. Nur steht einer solchen Verbesserung des Kirchenwesens kein ge¬ waltigeres Hindernis im Wege als gerade die weite Verbreitung und die Macht der Haeckelschen Lehre. Bei einer andern Gelegenheit habe ich ausgeführt: auf¬ geklärte Katholiken sind keineswegs mit allem einverstanden, was ihre Kirche lehrt, und was in dieser Kirche geschieht. Aber sie fürchten, das Herausbrechen eines einzigen Steines aus dem Dogmengebäude könne den Zerfall des ganzen Baues einleiten, und sie meinen: jedenfalls gefährde ein öffentlicher Protest gegen kirchliche Lehren oder Bräuche die Einheit der Kirche, die sie als ein un¬ schätzbares Gut gewahrt wissen wollen. Darum unterdrücken sie ihre Zweifel und Wünsche oder schließen sie wenigstens ins Herzenskämmerlein ein. Der stärkste Grund für ein solches Verhalten ist nun eben die Herrschaft des Haeckel- tums in den liberalen Kreisen. Die Katholiken sagen sich (gläubige Protestanten natürlich ebenfalls): Wenn der Liberalismus zur Macht gelangt, dann werden aus den Schulen alle gläubigen Lehrer verdrängt, und wird von Staats wegen den Kindern nicht allein die natürliche Schöpfungsgeschichte eingebleut samt allem, was drum und dran hängt, sondern es wird den Kindern auch als Dogma eingeprägt, der Glaube an Gott, Willensfreiheit und Fortleben der Seele nach dem Tode sei von der Naturwissenschaft als Irrtum nachgewiesen. Auf dieser Lage beruht auch die zurzeit noch unerschütterliche Stärke des Zentrums. Die katholischen Wähler halten zusammen, weil sie fürchten, ihre Zersplitterung werde sofort wieder einen Kulturkampf zur Folge haben, und in den Kundgebungen der Haeckeliciner sehen sie das Programm dieses neuen Kulturkampfes: Verbannung des Katechismus und der Bibel aus der Schule und Gründung des Unterrichts auf die Deszendenztheorie und den atheistischen Monismus. Möchten jedoch auch alle diese Wirkungen auf das religiös-kirchliche Leben — sie sind, wie man sieht, keineswegs alle auflösender, sondern zum Teil in unerwünschter Weise kräftigender Art — unberücksichtigt bleiben, vom rein wissen¬ schaftlichen Standpunkt aus betrachtet ist es ein schlechthin unerträglicher Zu¬ stand, daß eine kleine Gruppe von Biologen mit Hilfe einer zahlreichen Presse die öffentliche Meinung in dem Vorurteil gebannt erhält, die in ihren meisten Teilen längst widerlegte Haeckelsche Lehre sei nicht bloß echte und unwider- legliche Wissenschaft, sondern sei die Wissenschaft, neben der keine andre Geltung und Wert habe. Es ist die höchste Zeit, daß ein guter biologischer Unterricht in den Schulen die Durchbrechung dieser terroristischen Herrschaft der Haeckelschen Carl Jentsch Dogmen wenigstens von weitem anbahnt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/202>, abgerufen am 12.12.2024.