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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Naturwissenschaft und Theismus

empfehlen; das dürfte deswegen nicht geschehen, weil die meisten Lehren dieses
Werkes von den Fachmännern teils für unbewiesen, teils für entschieden falsch
erklärt werden. In welchem Geiste Neinke die Biologie gelehrt wissen will,
zeigt er dadurch, daß er die Hauptstellen aus der Rede abdrückt, die Virchow
am 22. September 1877 in der Versammlung der Naturforscher zu München
gehalten hat, nachdem Haeckel die Frage angeregt hatte, ob nicht "die Deszendenz¬
theorie dem Schulunterricht zugrunde gelegt und die Plastidulseele als Grundlage
aller Vorstellungen über geistiges Wesen empfohlen werden solle". "Wenn die De¬
szendenztheorie so sicher ist, wie Herr Haeckel annimmt, erklärte Virchow, dann
müssen wir das verlangen, dann ist es eine stritte Forderung, daß sie auch in
die Schule muß." Leider sei sie dazu noch nicht gesichert genug. "Ehe man
mir nicht die Eigenschaften von Kohlen-, Wasser-, Sauer- und Stickstoff so
definieren kann, daß ich begreife, wie aus ihrer Summierung eine Seele wird,
eher kann ich nicht zugestehen, daß wir berechtigt sind, die Plastidulseele in den
Unterricht einzuführen. . . . Nichts ist den Naturwissenschaften gefährlicher ge¬
wesen, nichts hat ihre eignen Fortschritte und ihre Stellung in der Meinung
der Völker mehr geschädigt als die voreilige Synthese. Wir müssen uns die
Aufgabe stellen, in erster Linie das eigentlich tatsächliche Wissen zu überliefern,
und wir müssen, wenn wir darüber hinausgehn, den Lernenden jedesmal sagen:
"Dies ist aber nicht bewiesen, sondern das ist meine Meinung, meine Vorstellung,
meine Theorie, meine Spekulation." Das können wir aber nur bei schon Ent¬
wickelten, bei schon Gebildeten. Wir können nicht dieselbe Methode in die Volks¬
schule übertragen, wir können nicht jedem Bauernjungen sagen: "Das ist tat¬
sächlich, das weiß man, jenes vermutet man nur." Bei Ungebildeten mengt
sich das als sichere Erkenntnis und das als bloße Vermutung Mitgeteilte in
der Regel so sehr in ein einziges Gebilde zusammen, daß das, was man ver¬
mutet, als die Hauptsache, und das, was man weiß, als die Nebensache erscheint.
Um so mehr haben wir, die wir in der Wissenschaft leben, die Aufgabe, daß
wir uns enthalten, in die Köpfe der Menschen, und ich will es hier besonders
betonen, in die Köpfe der Schullehrer Dinge hineinzutragen, die wir bloß
vermuten."

Haeckel ist ein Mensch von bezaubernder Liebenswürdigkeit und großer
Herzensgüte, dem seine Schüler auch dann noch die Anhänglichkeit bewahren,
wenn sie seine wissenschaftlichen Irrtümer erkannt haben. Er verfügt über eine
lebhafte Phantasie, über die Gabe schöner Darstellung und die Gewalt der
Rede. Er hat seine Forschungsergebnisse mit Phantasiegebilden und philo¬
sophischen Spekulationen zu einem Epos der Menschwerdung des Tieres ver¬
webt, das gewaltige Anziehungskraft ausübt, unter anderm auch auf die nicht
kleine Anzahl von Leuten, denen es bei der Anhörung einer solchen Botschaft
ergeht, wie es Psychen bei der Predigt des Satyros erging, die ihr den Seufzer
auspreßte: "O, wie beschwert mich schon mein Kleid!" Und Haeckel hat dem
Bildungsphilister einen ungeheuern Dienst erwiesen. Der Bildungsphilister muß


Naturwissenschaft und Theismus

empfehlen; das dürfte deswegen nicht geschehen, weil die meisten Lehren dieses
Werkes von den Fachmännern teils für unbewiesen, teils für entschieden falsch
erklärt werden. In welchem Geiste Neinke die Biologie gelehrt wissen will,
zeigt er dadurch, daß er die Hauptstellen aus der Rede abdrückt, die Virchow
am 22. September 1877 in der Versammlung der Naturforscher zu München
gehalten hat, nachdem Haeckel die Frage angeregt hatte, ob nicht „die Deszendenz¬
theorie dem Schulunterricht zugrunde gelegt und die Plastidulseele als Grundlage
aller Vorstellungen über geistiges Wesen empfohlen werden solle". „Wenn die De¬
szendenztheorie so sicher ist, wie Herr Haeckel annimmt, erklärte Virchow, dann
müssen wir das verlangen, dann ist es eine stritte Forderung, daß sie auch in
die Schule muß." Leider sei sie dazu noch nicht gesichert genug. „Ehe man
mir nicht die Eigenschaften von Kohlen-, Wasser-, Sauer- und Stickstoff so
definieren kann, daß ich begreife, wie aus ihrer Summierung eine Seele wird,
eher kann ich nicht zugestehen, daß wir berechtigt sind, die Plastidulseele in den
Unterricht einzuführen. . . . Nichts ist den Naturwissenschaften gefährlicher ge¬
wesen, nichts hat ihre eignen Fortschritte und ihre Stellung in der Meinung
der Völker mehr geschädigt als die voreilige Synthese. Wir müssen uns die
Aufgabe stellen, in erster Linie das eigentlich tatsächliche Wissen zu überliefern,
und wir müssen, wenn wir darüber hinausgehn, den Lernenden jedesmal sagen:
»Dies ist aber nicht bewiesen, sondern das ist meine Meinung, meine Vorstellung,
meine Theorie, meine Spekulation.« Das können wir aber nur bei schon Ent¬
wickelten, bei schon Gebildeten. Wir können nicht dieselbe Methode in die Volks¬
schule übertragen, wir können nicht jedem Bauernjungen sagen: »Das ist tat¬
sächlich, das weiß man, jenes vermutet man nur.« Bei Ungebildeten mengt
sich das als sichere Erkenntnis und das als bloße Vermutung Mitgeteilte in
der Regel so sehr in ein einziges Gebilde zusammen, daß das, was man ver¬
mutet, als die Hauptsache, und das, was man weiß, als die Nebensache erscheint.
Um so mehr haben wir, die wir in der Wissenschaft leben, die Aufgabe, daß
wir uns enthalten, in die Köpfe der Menschen, und ich will es hier besonders
betonen, in die Köpfe der Schullehrer Dinge hineinzutragen, die wir bloß
vermuten."

Haeckel ist ein Mensch von bezaubernder Liebenswürdigkeit und großer
Herzensgüte, dem seine Schüler auch dann noch die Anhänglichkeit bewahren,
wenn sie seine wissenschaftlichen Irrtümer erkannt haben. Er verfügt über eine
lebhafte Phantasie, über die Gabe schöner Darstellung und die Gewalt der
Rede. Er hat seine Forschungsergebnisse mit Phantasiegebilden und philo¬
sophischen Spekulationen zu einem Epos der Menschwerdung des Tieres ver¬
webt, das gewaltige Anziehungskraft ausübt, unter anderm auch auf die nicht
kleine Anzahl von Leuten, denen es bei der Anhörung einer solchen Botschaft
ergeht, wie es Psychen bei der Predigt des Satyros erging, die ihr den Seufzer
auspreßte: „O, wie beschwert mich schon mein Kleid!" Und Haeckel hat dem
Bildungsphilister einen ungeheuern Dienst erwiesen. Der Bildungsphilister muß


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/200>, abgerufen am 01.09.2024.