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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Zum Ursprung des Märchens

gesetzt, so wie sie sich noch heute bei tiefstehenden Völkern vorfinden. Nun
ist es das Grundgesetz aller epischen Poesie, daß sie nach Verlängerung
strebt. Das ist ein ganz natürliches Gesetz der oralen Erzählungsliteratur.
Jeder Erzähler will möglichst lange am Worte bleiben. Daher ist wohl das
nächste, was sich mit einer Geschichte ereignet, wenn sie wiedererzählt wird, daß
sie gedehnt wird. Das geschieht nun, da es dem Naturmenschen an der Er¬
findungsgabe mangelt, entweder durch mehr oder minder geschickte Wieder¬
holung oder durch unbeholfne Zusammenfügung zweier und mehrerer Geschichten,
die irgendwelche Berührungspunkte miteinander haben. Solcher schließlich endlos
langen Erzählungen könnte man eine Menge aus der primitiven Literatur an¬
führen. Hier finden wir also schon ein grundlegendes Gesetz aller Märchen¬
literatur, die Kompilation, auf der ersten Entwicklungsstufe vor. Die Vereinigung
von zwei Motiven in eine Erzählung mag nun zunächst innerhalb der Dorf¬
gemeinde vor sich gegangen sein. Je weitere Verbindungen aber ein Stamm
hat, desto mehr rinnen die Geschichten zusammen. Da bringt der Botenläufer
neue Stoffe von einem Nachbarstamm mit, an dessen Maurerversammlung er
teilgenommen hat. Die Vorschrift der Exogmme, die über alle Teile der Erde
hin wirksam ist, bringt mit den stammesfremden Frauen neue Märchen in die
Dorfgemeinschaft. Auch Handelsbeziehungen und andre friedliche Besuche tragen
das ihrige dazu bei, den Erzühlungsschatz der Männer und der Frauen eines
Stammes zu erweitern.

Ein zweiter Punkt liegt in einem allgemeinen Gesetz aller Evolution be¬
gründet, in der Auslese des Lebensfähigsten, hier natürlich des Interessantesten.
Die besten Geschichten werden wieder- oder weitererzählt, die langweiligen ver¬
geh" im Entstehn. So bildet sich allmählich ein Stamm von Wundererzählungen
aus, der immer wieder hervorgeholt wird und immer neuen kleinen Ver¬
änderungen und Erweiterungen ausgesetzt ist. So kann man überzeugt sein,
daß zum Beispiel die Geschichte von der Fahrt des Zauberers in das Toten-
land besonders beliebt war und immer von neuem zum Vortrag gekommen ist,
denn diese Geschichte ist unglaublich weit verbreitet.

Je reifer sich nun das religiöse Leben eines Volkes entwickelt, und je
mehr sich die sozialen Einrichtungen differenzieren, desto mehr erweitert sich
auch der Horizont des Märchens. Wenn nun einerseits die Entwicklung des
Märchens zunächst auf eine zusammenhanglose Häufung von Episoden hinaus¬
läuft, so kommt das märchenerzählende Volk doch mit der steigenden Ent¬
wicklung wieder davon ab, und zwar aus verschiednen Ursachen. Hier sei nur
darauf aufmerksam gemacht, daß der epischen Erzählung im allgemeinen und
dem Märchen im besondern die Neigung innewohnt, sich um eine Person, einen
einzelnen Helden zu gruppieren. Vermutlich wirkte dabei das Beispiel der
Stammesheldensage und der Göttersage mit ein. Dazu kommt, daß mit der
Häufung eine entgegengesetzte Erscheinung parallel geht, nämlich das Bestreben,
eine längere Episodenerzählung wieder in ihre einzelnen Episoden auseinander-


Zum Ursprung des Märchens

gesetzt, so wie sie sich noch heute bei tiefstehenden Völkern vorfinden. Nun
ist es das Grundgesetz aller epischen Poesie, daß sie nach Verlängerung
strebt. Das ist ein ganz natürliches Gesetz der oralen Erzählungsliteratur.
Jeder Erzähler will möglichst lange am Worte bleiben. Daher ist wohl das
nächste, was sich mit einer Geschichte ereignet, wenn sie wiedererzählt wird, daß
sie gedehnt wird. Das geschieht nun, da es dem Naturmenschen an der Er¬
findungsgabe mangelt, entweder durch mehr oder minder geschickte Wieder¬
holung oder durch unbeholfne Zusammenfügung zweier und mehrerer Geschichten,
die irgendwelche Berührungspunkte miteinander haben. Solcher schließlich endlos
langen Erzählungen könnte man eine Menge aus der primitiven Literatur an¬
führen. Hier finden wir also schon ein grundlegendes Gesetz aller Märchen¬
literatur, die Kompilation, auf der ersten Entwicklungsstufe vor. Die Vereinigung
von zwei Motiven in eine Erzählung mag nun zunächst innerhalb der Dorf¬
gemeinde vor sich gegangen sein. Je weitere Verbindungen aber ein Stamm
hat, desto mehr rinnen die Geschichten zusammen. Da bringt der Botenläufer
neue Stoffe von einem Nachbarstamm mit, an dessen Maurerversammlung er
teilgenommen hat. Die Vorschrift der Exogmme, die über alle Teile der Erde
hin wirksam ist, bringt mit den stammesfremden Frauen neue Märchen in die
Dorfgemeinschaft. Auch Handelsbeziehungen und andre friedliche Besuche tragen
das ihrige dazu bei, den Erzühlungsschatz der Männer und der Frauen eines
Stammes zu erweitern.

Ein zweiter Punkt liegt in einem allgemeinen Gesetz aller Evolution be¬
gründet, in der Auslese des Lebensfähigsten, hier natürlich des Interessantesten.
Die besten Geschichten werden wieder- oder weitererzählt, die langweiligen ver¬
geh« im Entstehn. So bildet sich allmählich ein Stamm von Wundererzählungen
aus, der immer wieder hervorgeholt wird und immer neuen kleinen Ver¬
änderungen und Erweiterungen ausgesetzt ist. So kann man überzeugt sein,
daß zum Beispiel die Geschichte von der Fahrt des Zauberers in das Toten-
land besonders beliebt war und immer von neuem zum Vortrag gekommen ist,
denn diese Geschichte ist unglaublich weit verbreitet.

Je reifer sich nun das religiöse Leben eines Volkes entwickelt, und je
mehr sich die sozialen Einrichtungen differenzieren, desto mehr erweitert sich
auch der Horizont des Märchens. Wenn nun einerseits die Entwicklung des
Märchens zunächst auf eine zusammenhanglose Häufung von Episoden hinaus¬
läuft, so kommt das märchenerzählende Volk doch mit der steigenden Ent¬
wicklung wieder davon ab, und zwar aus verschiednen Ursachen. Hier sei nur
darauf aufmerksam gemacht, daß der epischen Erzählung im allgemeinen und
dem Märchen im besondern die Neigung innewohnt, sich um eine Person, einen
einzelnen Helden zu gruppieren. Vermutlich wirkte dabei das Beispiel der
Stammesheldensage und der Göttersage mit ein. Dazu kommt, daß mit der
Häufung eine entgegengesetzte Erscheinung parallel geht, nämlich das Bestreben,
eine längere Episodenerzählung wieder in ihre einzelnen Episoden auseinander-


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[0147] Zum Ursprung des Märchens gesetzt, so wie sie sich noch heute bei tiefstehenden Völkern vorfinden. Nun ist es das Grundgesetz aller epischen Poesie, daß sie nach Verlängerung strebt. Das ist ein ganz natürliches Gesetz der oralen Erzählungsliteratur. Jeder Erzähler will möglichst lange am Worte bleiben. Daher ist wohl das nächste, was sich mit einer Geschichte ereignet, wenn sie wiedererzählt wird, daß sie gedehnt wird. Das geschieht nun, da es dem Naturmenschen an der Er¬ findungsgabe mangelt, entweder durch mehr oder minder geschickte Wieder¬ holung oder durch unbeholfne Zusammenfügung zweier und mehrerer Geschichten, die irgendwelche Berührungspunkte miteinander haben. Solcher schließlich endlos langen Erzählungen könnte man eine Menge aus der primitiven Literatur an¬ führen. Hier finden wir also schon ein grundlegendes Gesetz aller Märchen¬ literatur, die Kompilation, auf der ersten Entwicklungsstufe vor. Die Vereinigung von zwei Motiven in eine Erzählung mag nun zunächst innerhalb der Dorf¬ gemeinde vor sich gegangen sein. Je weitere Verbindungen aber ein Stamm hat, desto mehr rinnen die Geschichten zusammen. Da bringt der Botenläufer neue Stoffe von einem Nachbarstamm mit, an dessen Maurerversammlung er teilgenommen hat. Die Vorschrift der Exogmme, die über alle Teile der Erde hin wirksam ist, bringt mit den stammesfremden Frauen neue Märchen in die Dorfgemeinschaft. Auch Handelsbeziehungen und andre friedliche Besuche tragen das ihrige dazu bei, den Erzühlungsschatz der Männer und der Frauen eines Stammes zu erweitern. Ein zweiter Punkt liegt in einem allgemeinen Gesetz aller Evolution be¬ gründet, in der Auslese des Lebensfähigsten, hier natürlich des Interessantesten. Die besten Geschichten werden wieder- oder weitererzählt, die langweiligen ver¬ geh« im Entstehn. So bildet sich allmählich ein Stamm von Wundererzählungen aus, der immer wieder hervorgeholt wird und immer neuen kleinen Ver¬ änderungen und Erweiterungen ausgesetzt ist. So kann man überzeugt sein, daß zum Beispiel die Geschichte von der Fahrt des Zauberers in das Toten- land besonders beliebt war und immer von neuem zum Vortrag gekommen ist, denn diese Geschichte ist unglaublich weit verbreitet. Je reifer sich nun das religiöse Leben eines Volkes entwickelt, und je mehr sich die sozialen Einrichtungen differenzieren, desto mehr erweitert sich auch der Horizont des Märchens. Wenn nun einerseits die Entwicklung des Märchens zunächst auf eine zusammenhanglose Häufung von Episoden hinaus¬ läuft, so kommt das märchenerzählende Volk doch mit der steigenden Ent¬ wicklung wieder davon ab, und zwar aus verschiednen Ursachen. Hier sei nur darauf aufmerksam gemacht, daß der epischen Erzählung im allgemeinen und dem Märchen im besondern die Neigung innewohnt, sich um eine Person, einen einzelnen Helden zu gruppieren. Vermutlich wirkte dabei das Beispiel der Stammesheldensage und der Göttersage mit ein. Dazu kommt, daß mit der Häufung eine entgegengesetzte Erscheinung parallel geht, nämlich das Bestreben, eine längere Episodenerzählung wieder in ihre einzelnen Episoden auseinander-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/147>, abgerufen am 01.09.2024.