Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.Naturwissenschaft und Theismus 130 man auf dem Wege solcher Betrachtungen wieder zu dem fatalen Gottesbegriff H. Driesch ist ein junger Zoologe, der uns von Dcnnert damit empfohlen Dennert behandelt auch Haeckel und Reinke. Den zweiten lassen wir nächstens Naturwissenschaft und Theismus 130 man auf dem Wege solcher Betrachtungen wieder zu dem fatalen Gottesbegriff H. Driesch ist ein junger Zoologe, der uns von Dcnnert damit empfohlen Dennert behandelt auch Haeckel und Reinke. Den zweiten lassen wir nächstens <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0138" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/302840"/> <fw type="header" place="top"> Naturwissenschaft und Theismus</fw><lb/> <p xml:id="ID_546" prev="#ID_545" next="#ID_547"> 130</p><lb/> <p xml:id="ID_547" prev="#ID_546"> man auf dem Wege solcher Betrachtungen wieder zu dem fatalen Gottesbegriff<lb/> zurückgelange, den man loswerden will.</p><lb/> <p xml:id="ID_548"> H. Driesch ist ein junger Zoologe, der uns von Dcnnert damit empfohlen<lb/> wird, daß ihn Haeckel als „unzurechnungsfähigen Sophisten" abgetan hat. Er<lb/> hat als der erste die von verschiednen Vorgängern ausgesprochnen Vitalistischen<lb/> Gedanken zur Ausarbeitung eines Vitalistischen Systems auf der Grundlage der<lb/> modernsten Forschungsergebnisse verwandt. Sein vernichtendes Urteil über den<lb/> Darwinismus habe ich in dem ersten der eingangs erwähnten Artikel über<lb/> Hartmanns letztes Buch S. 368 angeführt. Mit jedem unverschrobnen Beobachter<lb/> sieht er das Kennzeichen des Organischen in der es durchwaltenden Zweckmäßig¬<lb/> keit, die sich in der Harmonie (Zusammenpassung der Teile, der Organe und<lb/> ihrer Funktionen) und in der Regulativ» betätigt. Unter dieser versteht er die<lb/> Wahrung des normalen Zustandes und seine Wiederherstellung nach innern oder<lb/> äußern Störungen. Am auffälligsten sind die Regulationen nach einer aller-<lb/> gröbsten Störung, zu denen die niedern Tiere fähig sind, die nicht allein gleich<lb/> den höhern ihre Wunden verbellen, sondern auch abgeschnittne Körperteile wieder<lb/> wachsen lassen. Weil diese Neubildung aller Körperteile, auch des Kopfes, nach<lb/> dem Durchschneiden des Tieres an beliebigen Körperstellen, und nicht bloß von<lb/> der Wundfläche, sondern auch von nicht verletzten Stellen des Körpers aus vor¬<lb/> kommt, schwindet die an sich schwer denkbare Möglichkeit, den Organismus als<lb/> Maschine aufzufassen, vollständig. Man könnte sich allenfalls den Organismus<lb/> als eine bis ins Märchenhafte zusammengesetzte und verwickelte Maschine vor¬<lb/> stellen und außerdem an jeder Stelle seines Leibes eine kleine Maschine angebracht<lb/> denken, die in Tätigkeit träte, so oft das ihr benachbarte Teilchen des Organismus<lb/> abgerissen würde, und die dieses aus dem ihr gelieferten Material wieder her¬<lb/> stellte — aber nicht mehr; denn die Maschine leistet immer nur das eine, das<lb/> zu leisten sie eingerichtet ist. Doch viele niedere Tiere stellen die abgeschnittnen<lb/> Glieder, ja den abgeschnittnen größern Teil ihres Leibes von den verschiedensten<lb/> Stellen aus wieder her. Das wäre, wie Driesch zeigt, nur möglich, wenn der<lb/> Organismus eine unendliche Anzahl unendlich komplizierter Maschinen enthielte,<lb/> in deren jeder die Bedingungen für die Herstellung des ganzen Organismus<lb/> enthalten sein müßten.</p><lb/> <p xml:id="ID_549" next="#ID_550"> Dennert behandelt auch Haeckel und Reinke. Den zweiten lassen wir nächstens<lb/> selbst reden, und bei dieser Gelegenheit kommen wir auch noch einmal auf Haeckel<lb/> zu sprechen. Für diesmal sei darum nur mitgeteilt, wie Dennert auf die im<lb/> Titel seines Buches liegende Frage antwortet. Die Musterung der vorgeführten<lb/> Forscher zeigt, daß es „die Weltanschauung des modernen Naturforschers" nicht<lb/> gibt. Die Forscher haben nicht einmal ein gemeinsames oder übereinstimmendes<lb/> Weltbild. Der eine stellt sich die Welt vor als einen körperlichen Mechanismus,<lb/> der andre als ein Gewebe tätiger Energien, der dritte als einen Komplex<lb/> Psychischer Elemente. Und wenn sich die Naturforscher einmal über das Welt¬<lb/> bild einigen sollten, so könnten auf dieses eine Bild noch immer die verschiedensten</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0138]
Naturwissenschaft und Theismus
130
man auf dem Wege solcher Betrachtungen wieder zu dem fatalen Gottesbegriff
zurückgelange, den man loswerden will.
H. Driesch ist ein junger Zoologe, der uns von Dcnnert damit empfohlen
wird, daß ihn Haeckel als „unzurechnungsfähigen Sophisten" abgetan hat. Er
hat als der erste die von verschiednen Vorgängern ausgesprochnen Vitalistischen
Gedanken zur Ausarbeitung eines Vitalistischen Systems auf der Grundlage der
modernsten Forschungsergebnisse verwandt. Sein vernichtendes Urteil über den
Darwinismus habe ich in dem ersten der eingangs erwähnten Artikel über
Hartmanns letztes Buch S. 368 angeführt. Mit jedem unverschrobnen Beobachter
sieht er das Kennzeichen des Organischen in der es durchwaltenden Zweckmäßig¬
keit, die sich in der Harmonie (Zusammenpassung der Teile, der Organe und
ihrer Funktionen) und in der Regulativ» betätigt. Unter dieser versteht er die
Wahrung des normalen Zustandes und seine Wiederherstellung nach innern oder
äußern Störungen. Am auffälligsten sind die Regulationen nach einer aller-
gröbsten Störung, zu denen die niedern Tiere fähig sind, die nicht allein gleich
den höhern ihre Wunden verbellen, sondern auch abgeschnittne Körperteile wieder
wachsen lassen. Weil diese Neubildung aller Körperteile, auch des Kopfes, nach
dem Durchschneiden des Tieres an beliebigen Körperstellen, und nicht bloß von
der Wundfläche, sondern auch von nicht verletzten Stellen des Körpers aus vor¬
kommt, schwindet die an sich schwer denkbare Möglichkeit, den Organismus als
Maschine aufzufassen, vollständig. Man könnte sich allenfalls den Organismus
als eine bis ins Märchenhafte zusammengesetzte und verwickelte Maschine vor¬
stellen und außerdem an jeder Stelle seines Leibes eine kleine Maschine angebracht
denken, die in Tätigkeit träte, so oft das ihr benachbarte Teilchen des Organismus
abgerissen würde, und die dieses aus dem ihr gelieferten Material wieder her¬
stellte — aber nicht mehr; denn die Maschine leistet immer nur das eine, das
zu leisten sie eingerichtet ist. Doch viele niedere Tiere stellen die abgeschnittnen
Glieder, ja den abgeschnittnen größern Teil ihres Leibes von den verschiedensten
Stellen aus wieder her. Das wäre, wie Driesch zeigt, nur möglich, wenn der
Organismus eine unendliche Anzahl unendlich komplizierter Maschinen enthielte,
in deren jeder die Bedingungen für die Herstellung des ganzen Organismus
enthalten sein müßten.
Dennert behandelt auch Haeckel und Reinke. Den zweiten lassen wir nächstens
selbst reden, und bei dieser Gelegenheit kommen wir auch noch einmal auf Haeckel
zu sprechen. Für diesmal sei darum nur mitgeteilt, wie Dennert auf die im
Titel seines Buches liegende Frage antwortet. Die Musterung der vorgeführten
Forscher zeigt, daß es „die Weltanschauung des modernen Naturforschers" nicht
gibt. Die Forscher haben nicht einmal ein gemeinsames oder übereinstimmendes
Weltbild. Der eine stellt sich die Welt vor als einen körperlichen Mechanismus,
der andre als ein Gewebe tätiger Energien, der dritte als einen Komplex
Psychischer Elemente. Und wenn sich die Naturforscher einmal über das Welt¬
bild einigen sollten, so könnten auf dieses eine Bild noch immer die verschiedensten
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