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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Naturwissenschaft und Theismus

eintreten, auf eine Außenwelt hindeuten, die unabhängig ist von seinem Bewußt¬
sein, die anders geordnet ist als seine Innenwelt, und aus der der Inhalt
seines Bewußtseins stammt. Beide Tatsachen: daß unsre Innenwelt das uns
allein Bekannte und für uns Gewisse ist, die Ursache unsrer Wahrnehmungen
aber draußen liegen muß, hat Kant mit dem uns unbekannten Ding an sich
ausgedrückt. Nachdem dann die Physik zur Auflösung der Materie in Atome
fortgeschritten war, hat Lotze diese Atome als immaterielle Kraftzentren beschrieben.
Die Aufgabe, den Materialismus zu beseitigen, ist also seit einem halben Jahr¬
hundert auf das befriedigendste gelöst, und Verworn hätte sich seinen neuen
Lösungsversuch, der seinem Namen alle Ehre macht, lieber sparen sollen. Er
ist nämlich gleich den meisten heutigen Naturforschern von der Angst besessen,
an die Unsterblichkeit seiner Seele und dann am Ende gar an Gott glauben zu
müssen, wenn er dieser Seele die Existenz einräumt, und darum benutzt er seinen
Psychomonismus zunächst dazu, die Psyche tötzuschlagen. "Nicht eine Seele
wohnt im menschlichen Körper, nicht ein Mensch ist Sitz von Empfindungen,
sondern ein Mensch ist ein Komplex von Empfindungen, für andre sowohl wie
für fich selbst, er besteht aus Empfindungen." Hat der Mann wirklich ein so
schwaches Daseinsgefühl, daß er aufrichtig auf die Ehre zu verzichten vermag,
der Denker seiner Gedanken, der Täter seiner Taten, der Verfasser seiner Werke
und der Erfinder seines Psychomonismus zu sein? Und wird er sich fügen,
wenn ihm ein Raubmörder das Messer an die Kehle setzt und aus seine Klage
oder den Ausbruch seines Unwillens erwidert: Wie kannst du dich auflehnen
wollen? Du existierst ja gar nicht. Du bist ja nur ein Komplex, und diesen
Komplex bin ich eben jetzt im Begriff zu lösen. Die Aussicht auf die Auflösung
findet übrigens Verworn sogar erfreulich, natürlich nicht im Sinne des Apostels
Paulus, der aufgelöst und bei Christus zu sein wünschte. Sondern er findet
seine Ansicht darum "tröstlich", weil nach ihr mit dem Tode alles aus sei für
uns, da der Tod die Verknüpfung der Empfindungen löse. Die Empfindungen,
Gedanken und Gefühle aber (die Hypothese kennt eigentlich nur Empfindungen,
das ist Wahrnehmungen; Gedanken und Gefühle werden ihnen hier auf einmal
beigesellt, wohl weil sie sich eben nicht leugnen lassen) "leben weiter über das
vergängliche Individuum hinaus in andern Individuen, überall da, wo die
gleichen Komplexe von Bedingungen existieren. Sie pflanzen sich fort von
Individuum zu Individuum, von Generation zu Generation, von Volk zu Volk.
Sie wirken und weben am ewigen Webstuhl der Seele. sKcmn sich unter dieser
Phrase jemand etwas vorstellen? Wie gut läßt es sich dagegen vorstellen, daß
der Erdgeist am Webstuhl der Zeit der Gottheit lebendiges Kleid wirke.j Sie
arbeiten an der Geschichte des menschlichen Geistes. fWie kommt der auf einmal
hinein? Wer, was ist er?j So leben wir ^vielmehr die Bestandteile des Komplexes,
auf den das persönliche Pronomen nicht angewandt werden darfj alle nach dem
Tode weiter als Glieder in der großen, zusammenhängenden Kette geistiger Ent¬
wicklung." Dennert bemerkt dazu: "Welch ein großartiger Trost! Nach mir


Naturwissenschaft und Theismus

eintreten, auf eine Außenwelt hindeuten, die unabhängig ist von seinem Bewußt¬
sein, die anders geordnet ist als seine Innenwelt, und aus der der Inhalt
seines Bewußtseins stammt. Beide Tatsachen: daß unsre Innenwelt das uns
allein Bekannte und für uns Gewisse ist, die Ursache unsrer Wahrnehmungen
aber draußen liegen muß, hat Kant mit dem uns unbekannten Ding an sich
ausgedrückt. Nachdem dann die Physik zur Auflösung der Materie in Atome
fortgeschritten war, hat Lotze diese Atome als immaterielle Kraftzentren beschrieben.
Die Aufgabe, den Materialismus zu beseitigen, ist also seit einem halben Jahr¬
hundert auf das befriedigendste gelöst, und Verworn hätte sich seinen neuen
Lösungsversuch, der seinem Namen alle Ehre macht, lieber sparen sollen. Er
ist nämlich gleich den meisten heutigen Naturforschern von der Angst besessen,
an die Unsterblichkeit seiner Seele und dann am Ende gar an Gott glauben zu
müssen, wenn er dieser Seele die Existenz einräumt, und darum benutzt er seinen
Psychomonismus zunächst dazu, die Psyche tötzuschlagen. „Nicht eine Seele
wohnt im menschlichen Körper, nicht ein Mensch ist Sitz von Empfindungen,
sondern ein Mensch ist ein Komplex von Empfindungen, für andre sowohl wie
für fich selbst, er besteht aus Empfindungen." Hat der Mann wirklich ein so
schwaches Daseinsgefühl, daß er aufrichtig auf die Ehre zu verzichten vermag,
der Denker seiner Gedanken, der Täter seiner Taten, der Verfasser seiner Werke
und der Erfinder seines Psychomonismus zu sein? Und wird er sich fügen,
wenn ihm ein Raubmörder das Messer an die Kehle setzt und aus seine Klage
oder den Ausbruch seines Unwillens erwidert: Wie kannst du dich auflehnen
wollen? Du existierst ja gar nicht. Du bist ja nur ein Komplex, und diesen
Komplex bin ich eben jetzt im Begriff zu lösen. Die Aussicht auf die Auflösung
findet übrigens Verworn sogar erfreulich, natürlich nicht im Sinne des Apostels
Paulus, der aufgelöst und bei Christus zu sein wünschte. Sondern er findet
seine Ansicht darum „tröstlich", weil nach ihr mit dem Tode alles aus sei für
uns, da der Tod die Verknüpfung der Empfindungen löse. Die Empfindungen,
Gedanken und Gefühle aber (die Hypothese kennt eigentlich nur Empfindungen,
das ist Wahrnehmungen; Gedanken und Gefühle werden ihnen hier auf einmal
beigesellt, wohl weil sie sich eben nicht leugnen lassen) „leben weiter über das
vergängliche Individuum hinaus in andern Individuen, überall da, wo die
gleichen Komplexe von Bedingungen existieren. Sie pflanzen sich fort von
Individuum zu Individuum, von Generation zu Generation, von Volk zu Volk.
Sie wirken und weben am ewigen Webstuhl der Seele. sKcmn sich unter dieser
Phrase jemand etwas vorstellen? Wie gut läßt es sich dagegen vorstellen, daß
der Erdgeist am Webstuhl der Zeit der Gottheit lebendiges Kleid wirke.j Sie
arbeiten an der Geschichte des menschlichen Geistes. fWie kommt der auf einmal
hinein? Wer, was ist er?j So leben wir ^vielmehr die Bestandteile des Komplexes,
auf den das persönliche Pronomen nicht angewandt werden darfj alle nach dem
Tode weiter als Glieder in der großen, zusammenhängenden Kette geistiger Ent¬
wicklung." Dennert bemerkt dazu: „Welch ein großartiger Trost! Nach mir


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[0136] Naturwissenschaft und Theismus eintreten, auf eine Außenwelt hindeuten, die unabhängig ist von seinem Bewußt¬ sein, die anders geordnet ist als seine Innenwelt, und aus der der Inhalt seines Bewußtseins stammt. Beide Tatsachen: daß unsre Innenwelt das uns allein Bekannte und für uns Gewisse ist, die Ursache unsrer Wahrnehmungen aber draußen liegen muß, hat Kant mit dem uns unbekannten Ding an sich ausgedrückt. Nachdem dann die Physik zur Auflösung der Materie in Atome fortgeschritten war, hat Lotze diese Atome als immaterielle Kraftzentren beschrieben. Die Aufgabe, den Materialismus zu beseitigen, ist also seit einem halben Jahr¬ hundert auf das befriedigendste gelöst, und Verworn hätte sich seinen neuen Lösungsversuch, der seinem Namen alle Ehre macht, lieber sparen sollen. Er ist nämlich gleich den meisten heutigen Naturforschern von der Angst besessen, an die Unsterblichkeit seiner Seele und dann am Ende gar an Gott glauben zu müssen, wenn er dieser Seele die Existenz einräumt, und darum benutzt er seinen Psychomonismus zunächst dazu, die Psyche tötzuschlagen. „Nicht eine Seele wohnt im menschlichen Körper, nicht ein Mensch ist Sitz von Empfindungen, sondern ein Mensch ist ein Komplex von Empfindungen, für andre sowohl wie für fich selbst, er besteht aus Empfindungen." Hat der Mann wirklich ein so schwaches Daseinsgefühl, daß er aufrichtig auf die Ehre zu verzichten vermag, der Denker seiner Gedanken, der Täter seiner Taten, der Verfasser seiner Werke und der Erfinder seines Psychomonismus zu sein? Und wird er sich fügen, wenn ihm ein Raubmörder das Messer an die Kehle setzt und aus seine Klage oder den Ausbruch seines Unwillens erwidert: Wie kannst du dich auflehnen wollen? Du existierst ja gar nicht. Du bist ja nur ein Komplex, und diesen Komplex bin ich eben jetzt im Begriff zu lösen. Die Aussicht auf die Auflösung findet übrigens Verworn sogar erfreulich, natürlich nicht im Sinne des Apostels Paulus, der aufgelöst und bei Christus zu sein wünschte. Sondern er findet seine Ansicht darum „tröstlich", weil nach ihr mit dem Tode alles aus sei für uns, da der Tod die Verknüpfung der Empfindungen löse. Die Empfindungen, Gedanken und Gefühle aber (die Hypothese kennt eigentlich nur Empfindungen, das ist Wahrnehmungen; Gedanken und Gefühle werden ihnen hier auf einmal beigesellt, wohl weil sie sich eben nicht leugnen lassen) „leben weiter über das vergängliche Individuum hinaus in andern Individuen, überall da, wo die gleichen Komplexe von Bedingungen existieren. Sie pflanzen sich fort von Individuum zu Individuum, von Generation zu Generation, von Volk zu Volk. Sie wirken und weben am ewigen Webstuhl der Seele. sKcmn sich unter dieser Phrase jemand etwas vorstellen? Wie gut läßt es sich dagegen vorstellen, daß der Erdgeist am Webstuhl der Zeit der Gottheit lebendiges Kleid wirke.j Sie arbeiten an der Geschichte des menschlichen Geistes. fWie kommt der auf einmal hinein? Wer, was ist er?j So leben wir ^vielmehr die Bestandteile des Komplexes, auf den das persönliche Pronomen nicht angewandt werden darfj alle nach dem Tode weiter als Glieder in der großen, zusammenhängenden Kette geistiger Ent¬ wicklung." Dennert bemerkt dazu: „Welch ein großartiger Trost! Nach mir

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/136>, abgerufen am 01.09.2024.