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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Lili Lharakterkopf aus der ältern Leipziger Schulgeschichte

abhängigen Seelenleben des Mittelalters zuerst den Individualismus der Neuzeit,
nach dem die Entwicklung hindrängte, siegreich zur Geltung. Sie fühlten sich
über alle Schranken der Länder hinweg, die sie nicht banden, als eine große
für die edelsten Ziele kämpfende Genossenschaft. Denn sie vertraten allerdings
eine kosmopolitische internationale oder besser gesagt übernationale Bildung, aber
auch die Kultur des Mittelalters, die kirchliche wie die ritterliche, trug diesen
Charakter, und die Nationalitäten waren überall erst im Werden, am wenigsten
fertig sicherlich die deutsche, die noch nicht einmal eine einheitliche Schrift¬
sprache hatte; wer zu einer höhern Bildung gelangen wollte, der mußte damals
überall in Europa in eine fremde Kultur und Sprache eingehen, nämlich in
die lateinische, er mochte auf dem alten kirchlichen Boden bleiben oder huma¬
nistisch denken.

In Leipzig, das 1485 der jüngern, Albertinischen Linie zugefallen war,
hat der Landesherr, der viel verschriene Herzog Georg (1500 bis 1539), der
Universität gegenüber, die den Humanismus ablehnte, ihn unmittelbar gefördert,
indem er einzelne Humanisten, die hier als echte Wandervögel schon seit 1467
zuweilen vorübergehend auftauchten und als Privatlehrer wirkten, eine Zeit lang
Gehalte zahlte, so dem Westfalen Hermann von dem Busche (1503 bis 1507),
dem Lausitzer Johannes Rhagius Ästicampiamis, dem Georg Heil aus Forch¬
heim, dem Nürnberger Joachim Camerarius (seit 1512), dem Engländer Richard
Crocus (1515 bis 1517), der zuerst das Griechische in Leipzig lehrte, und seinem
Mitarbeiter Petrus Mosellanus (Schade) seit 1517. Die Universität sperrte
diesen Eindringlingen ihre Hörsäle, da sie gar keine akademischen Grade er¬
worben hatten, also nicht zu ihr gehörten und durch ihre Privatvorlesungen
die Vorlesungen der Magister schädigten; den Rhagius relegierte sie sogar auf
zehn Jahre. Erst durch die "Reformation" von 1519 nötigte Herzog Georg
die Universität, humanistische Vorlesungen in den Kursus der philosophischen
Fakultät aufzunehmen, und für den Sommer 1520 wurde Petrus Mosellanus,
soeben erst zum Magister promoviert, zum Rektor der Universität gewählt,
erhielt sogar vom Herzog eine Pfründe (von 100 Talern) im Großen Fürsten¬
kollegium.

Sehr charakteristisch ist es doch nun, daß der Rat der Stadt an dieser
Unterstützung der Humanisten, obwohl oder auch weil sie anfangs im Gegen¬
satze zur Universität standen, teilnahm. Er zahlte sowohl dem Crocus als dem
Mosellanus einen Teil ihres Gehalts oder eine "Verehrung" und gab jenem
auch ein Privilegium gegen den Nachdruck seiner griechischen Grammatik, "damit,
wie es heißt, an diesem Beispiel die Gelehrten lernen, wie sie vom Leipziger
Rate nicht nur nicht verachtet, sondern auch im höchsten Maße gepflegt und
geschützt werden"; er besoldete sogar jahrelang (seit 1519) Lektoren des Hebräischen
und ließ auf dem Rathause von Studenten mehrmals, 1515, 1517 und 1519
lateinische Komödien aufführen, wofür er den Darstellern gelegentlich eine "Ver¬
ehrung" zahlte.


Lili Lharakterkopf aus der ältern Leipziger Schulgeschichte

abhängigen Seelenleben des Mittelalters zuerst den Individualismus der Neuzeit,
nach dem die Entwicklung hindrängte, siegreich zur Geltung. Sie fühlten sich
über alle Schranken der Länder hinweg, die sie nicht banden, als eine große
für die edelsten Ziele kämpfende Genossenschaft. Denn sie vertraten allerdings
eine kosmopolitische internationale oder besser gesagt übernationale Bildung, aber
auch die Kultur des Mittelalters, die kirchliche wie die ritterliche, trug diesen
Charakter, und die Nationalitäten waren überall erst im Werden, am wenigsten
fertig sicherlich die deutsche, die noch nicht einmal eine einheitliche Schrift¬
sprache hatte; wer zu einer höhern Bildung gelangen wollte, der mußte damals
überall in Europa in eine fremde Kultur und Sprache eingehen, nämlich in
die lateinische, er mochte auf dem alten kirchlichen Boden bleiben oder huma¬
nistisch denken.

In Leipzig, das 1485 der jüngern, Albertinischen Linie zugefallen war,
hat der Landesherr, der viel verschriene Herzog Georg (1500 bis 1539), der
Universität gegenüber, die den Humanismus ablehnte, ihn unmittelbar gefördert,
indem er einzelne Humanisten, die hier als echte Wandervögel schon seit 1467
zuweilen vorübergehend auftauchten und als Privatlehrer wirkten, eine Zeit lang
Gehalte zahlte, so dem Westfalen Hermann von dem Busche (1503 bis 1507),
dem Lausitzer Johannes Rhagius Ästicampiamis, dem Georg Heil aus Forch¬
heim, dem Nürnberger Joachim Camerarius (seit 1512), dem Engländer Richard
Crocus (1515 bis 1517), der zuerst das Griechische in Leipzig lehrte, und seinem
Mitarbeiter Petrus Mosellanus (Schade) seit 1517. Die Universität sperrte
diesen Eindringlingen ihre Hörsäle, da sie gar keine akademischen Grade er¬
worben hatten, also nicht zu ihr gehörten und durch ihre Privatvorlesungen
die Vorlesungen der Magister schädigten; den Rhagius relegierte sie sogar auf
zehn Jahre. Erst durch die „Reformation" von 1519 nötigte Herzog Georg
die Universität, humanistische Vorlesungen in den Kursus der philosophischen
Fakultät aufzunehmen, und für den Sommer 1520 wurde Petrus Mosellanus,
soeben erst zum Magister promoviert, zum Rektor der Universität gewählt,
erhielt sogar vom Herzog eine Pfründe (von 100 Talern) im Großen Fürsten¬
kollegium.

Sehr charakteristisch ist es doch nun, daß der Rat der Stadt an dieser
Unterstützung der Humanisten, obwohl oder auch weil sie anfangs im Gegen¬
satze zur Universität standen, teilnahm. Er zahlte sowohl dem Crocus als dem
Mosellanus einen Teil ihres Gehalts oder eine „Verehrung" und gab jenem
auch ein Privilegium gegen den Nachdruck seiner griechischen Grammatik, „damit,
wie es heißt, an diesem Beispiel die Gelehrten lernen, wie sie vom Leipziger
Rate nicht nur nicht verachtet, sondern auch im höchsten Maße gepflegt und
geschützt werden"; er besoldete sogar jahrelang (seit 1519) Lektoren des Hebräischen
und ließ auf dem Rathause von Studenten mehrmals, 1515, 1517 und 1519
lateinische Komödien aufführen, wofür er den Darstellern gelegentlich eine „Ver¬
ehrung" zahlte.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/674>, abgerufen am 06.02.2025.