Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Zukunft Ägyptens

Türkei zum Ausdruck zu bringen. Eine Erklärung ist wohl darin zu suchen,
daß der Ferne Osten und seine Zukunft die Aufmerksamkeit der russischen Re¬
gierung in höherm Maße in Anspruch nahm als der Nahe Osten. Der Lauf
aber, den die Ereignisse im Fernen Osten genommen haben, beeinflußt noch heute
Rußlands Haltung auch in der orientalischen Frage nachdrücklich.

Und doch würde ein siegreicher Krieg Rußlands mit der Türkei, endend
mit der Einnahme von Konstantinopel und mit der Aufrichtung des Kreuzes
an Stelle des Halbmondes auf der eiustmciligen Kathedrale der Hagia Sophia
einen Sturm der Begeisterung in Rußland entfesseln, wie ihn sogar die glän¬
zendsten Siege über Japans Heer oder Flotte nicht hervorgerufen haben würden.
Den Kampf gegen die Ungläubigen glaubt das russische Volk nicht mit den
Anhängern Buddhas, sondern mit den Nachfolgern Mohammeds ausfechten zu
müssen. Während im europäischen Westen der Sinn für Kreuzzüge erstorben
ist. lebt er in Rußland in frischer Kraft weiter. Ein Sieg über die Ungläubigen
des türkischen Reichs würde in der russischen Heimat und wohl auch bei einem
großen Teil der übrigen Welt das in der Mandschurei Verlorne Ansehen wieder¬
herstellen.

Solche Betrachtungen führen zu dem Schluß, daß eine neue und mög¬
licherweise endgiltige Krisis eine Lösung der orientalischen Frage in absehbarer
Zeit bringen kann. Englands Haltung würde sich anfänglich beim Eintritt der¬
artiger Verwicklungen als "klug berechnete Untätigkeit" kennzeichnen. Die
Stimmung in England gegenüber der Türkei hat in den letzten Jahrzehnten
einen nötigen Umschwung erlebt. War in den Zeiten des Krimkrieges die
öffentliche Meinung ganz auf feiten der Türken, so staute nach und nach diese
wohlmeinende Stimmung ab, als man die erhofften und erwarteten Reformen
allgemein verbreiteter Mißstände ausbleiben sah, und schlug nach den bulga¬
rischen Greueln in ihr Gegenteil um, sodaß heutzutage die Stimmung in Eng¬
land, wenn auch nicht russenfreundlich, so doch ausgesprochen türkenfeindlich ist.
Und im Falle eines feindlichen Einfalls von feiten Rußlands in türkisches
Gebiet in der nächsten Zukunft würde auch keine britische Regierung, sei sie
konservativ oder liberal, es wagen, eine britische Flotte oder noch weniger ein
britisches Heer abzusenden, um die Autorität des Sultans in Mazedonien oder
in Adrianopel oder selbst in Konstantinopel zu stützen.

Die Erhaltung der Türkei als eines Greuzwalles gegen die Besetzung
Konstantinopels durch Rußland hat für die englische Politik unsrer Tage nicht
mehr dieselbe Bedeutung wie früher. Die militärische Besetzung Ägyptens hat
die Heerstraße nach Indien sichergestellt. Ein Landweg aber vom Bosporus
bis zu den Grenzen des indischen Reiches, selbst mit Eisenbahnen ausgestattet,
würde für England einen verhältnismüßig geringen Wert haben. Setzt sich aber
Nußland einmal am Bosporus fest, so kann es unmöglich mehr vom Mittel¬
ländischen Meer ausgeschlossen werden. Eine tatsächliche Besetzung der Darda¬
nellen durch Rußland würde aber weit mehr eine Bedrohung der europäischen


Die Zukunft Ägyptens

Türkei zum Ausdruck zu bringen. Eine Erklärung ist wohl darin zu suchen,
daß der Ferne Osten und seine Zukunft die Aufmerksamkeit der russischen Re¬
gierung in höherm Maße in Anspruch nahm als der Nahe Osten. Der Lauf
aber, den die Ereignisse im Fernen Osten genommen haben, beeinflußt noch heute
Rußlands Haltung auch in der orientalischen Frage nachdrücklich.

Und doch würde ein siegreicher Krieg Rußlands mit der Türkei, endend
mit der Einnahme von Konstantinopel und mit der Aufrichtung des Kreuzes
an Stelle des Halbmondes auf der eiustmciligen Kathedrale der Hagia Sophia
einen Sturm der Begeisterung in Rußland entfesseln, wie ihn sogar die glän¬
zendsten Siege über Japans Heer oder Flotte nicht hervorgerufen haben würden.
Den Kampf gegen die Ungläubigen glaubt das russische Volk nicht mit den
Anhängern Buddhas, sondern mit den Nachfolgern Mohammeds ausfechten zu
müssen. Während im europäischen Westen der Sinn für Kreuzzüge erstorben
ist. lebt er in Rußland in frischer Kraft weiter. Ein Sieg über die Ungläubigen
des türkischen Reichs würde in der russischen Heimat und wohl auch bei einem
großen Teil der übrigen Welt das in der Mandschurei Verlorne Ansehen wieder¬
herstellen.

Solche Betrachtungen führen zu dem Schluß, daß eine neue und mög¬
licherweise endgiltige Krisis eine Lösung der orientalischen Frage in absehbarer
Zeit bringen kann. Englands Haltung würde sich anfänglich beim Eintritt der¬
artiger Verwicklungen als „klug berechnete Untätigkeit" kennzeichnen. Die
Stimmung in England gegenüber der Türkei hat in den letzten Jahrzehnten
einen nötigen Umschwung erlebt. War in den Zeiten des Krimkrieges die
öffentliche Meinung ganz auf feiten der Türken, so staute nach und nach diese
wohlmeinende Stimmung ab, als man die erhofften und erwarteten Reformen
allgemein verbreiteter Mißstände ausbleiben sah, und schlug nach den bulga¬
rischen Greueln in ihr Gegenteil um, sodaß heutzutage die Stimmung in Eng¬
land, wenn auch nicht russenfreundlich, so doch ausgesprochen türkenfeindlich ist.
Und im Falle eines feindlichen Einfalls von feiten Rußlands in türkisches
Gebiet in der nächsten Zukunft würde auch keine britische Regierung, sei sie
konservativ oder liberal, es wagen, eine britische Flotte oder noch weniger ein
britisches Heer abzusenden, um die Autorität des Sultans in Mazedonien oder
in Adrianopel oder selbst in Konstantinopel zu stützen.

Die Erhaltung der Türkei als eines Greuzwalles gegen die Besetzung
Konstantinopels durch Rußland hat für die englische Politik unsrer Tage nicht
mehr dieselbe Bedeutung wie früher. Die militärische Besetzung Ägyptens hat
die Heerstraße nach Indien sichergestellt. Ein Landweg aber vom Bosporus
bis zu den Grenzen des indischen Reiches, selbst mit Eisenbahnen ausgestattet,
würde für England einen verhältnismüßig geringen Wert haben. Setzt sich aber
Nußland einmal am Bosporus fest, so kann es unmöglich mehr vom Mittel¬
ländischen Meer ausgeschlossen werden. Eine tatsächliche Besetzung der Darda¬
nellen durch Rußland würde aber weit mehr eine Bedrohung der europäischen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0660" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/302648"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Zukunft Ägyptens</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2881" prev="#ID_2880"> Türkei zum Ausdruck zu bringen. Eine Erklärung ist wohl darin zu suchen,<lb/>
daß der Ferne Osten und seine Zukunft die Aufmerksamkeit der russischen Re¬<lb/>
gierung in höherm Maße in Anspruch nahm als der Nahe Osten. Der Lauf<lb/>
aber, den die Ereignisse im Fernen Osten genommen haben, beeinflußt noch heute<lb/>
Rußlands Haltung auch in der orientalischen Frage nachdrücklich.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2882"> Und doch würde ein siegreicher Krieg Rußlands mit der Türkei, endend<lb/>
mit der Einnahme von Konstantinopel und mit der Aufrichtung des Kreuzes<lb/>
an Stelle des Halbmondes auf der eiustmciligen Kathedrale der Hagia Sophia<lb/>
einen Sturm der Begeisterung in Rußland entfesseln, wie ihn sogar die glän¬<lb/>
zendsten Siege über Japans Heer oder Flotte nicht hervorgerufen haben würden.<lb/>
Den Kampf gegen die Ungläubigen glaubt das russische Volk nicht mit den<lb/>
Anhängern Buddhas, sondern mit den Nachfolgern Mohammeds ausfechten zu<lb/>
müssen. Während im europäischen Westen der Sinn für Kreuzzüge erstorben<lb/>
ist. lebt er in Rußland in frischer Kraft weiter. Ein Sieg über die Ungläubigen<lb/>
des türkischen Reichs würde in der russischen Heimat und wohl auch bei einem<lb/>
großen Teil der übrigen Welt das in der Mandschurei Verlorne Ansehen wieder¬<lb/>
herstellen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2883"> Solche Betrachtungen führen zu dem Schluß, daß eine neue und mög¬<lb/>
licherweise endgiltige Krisis eine Lösung der orientalischen Frage in absehbarer<lb/>
Zeit bringen kann. Englands Haltung würde sich anfänglich beim Eintritt der¬<lb/>
artiger Verwicklungen als &#x201E;klug berechnete Untätigkeit" kennzeichnen. Die<lb/>
Stimmung in England gegenüber der Türkei hat in den letzten Jahrzehnten<lb/>
einen nötigen Umschwung erlebt. War in den Zeiten des Krimkrieges die<lb/>
öffentliche Meinung ganz auf feiten der Türken, so staute nach und nach diese<lb/>
wohlmeinende Stimmung ab, als man die erhofften und erwarteten Reformen<lb/>
allgemein verbreiteter Mißstände ausbleiben sah, und schlug nach den bulga¬<lb/>
rischen Greueln in ihr Gegenteil um, sodaß heutzutage die Stimmung in Eng¬<lb/>
land, wenn auch nicht russenfreundlich, so doch ausgesprochen türkenfeindlich ist.<lb/>
Und im Falle eines feindlichen Einfalls von feiten Rußlands in türkisches<lb/>
Gebiet in der nächsten Zukunft würde auch keine britische Regierung, sei sie<lb/>
konservativ oder liberal, es wagen, eine britische Flotte oder noch weniger ein<lb/>
britisches Heer abzusenden, um die Autorität des Sultans in Mazedonien oder<lb/>
in Adrianopel oder selbst in Konstantinopel zu stützen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2884" next="#ID_2885"> Die Erhaltung der Türkei als eines Greuzwalles gegen die Besetzung<lb/>
Konstantinopels durch Rußland hat für die englische Politik unsrer Tage nicht<lb/>
mehr dieselbe Bedeutung wie früher. Die militärische Besetzung Ägyptens hat<lb/>
die Heerstraße nach Indien sichergestellt. Ein Landweg aber vom Bosporus<lb/>
bis zu den Grenzen des indischen Reiches, selbst mit Eisenbahnen ausgestattet,<lb/>
würde für England einen verhältnismüßig geringen Wert haben. Setzt sich aber<lb/>
Nußland einmal am Bosporus fest, so kann es unmöglich mehr vom Mittel¬<lb/>
ländischen Meer ausgeschlossen werden. Eine tatsächliche Besetzung der Darda¬<lb/>
nellen durch Rußland würde aber weit mehr eine Bedrohung der europäischen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0660] Die Zukunft Ägyptens Türkei zum Ausdruck zu bringen. Eine Erklärung ist wohl darin zu suchen, daß der Ferne Osten und seine Zukunft die Aufmerksamkeit der russischen Re¬ gierung in höherm Maße in Anspruch nahm als der Nahe Osten. Der Lauf aber, den die Ereignisse im Fernen Osten genommen haben, beeinflußt noch heute Rußlands Haltung auch in der orientalischen Frage nachdrücklich. Und doch würde ein siegreicher Krieg Rußlands mit der Türkei, endend mit der Einnahme von Konstantinopel und mit der Aufrichtung des Kreuzes an Stelle des Halbmondes auf der eiustmciligen Kathedrale der Hagia Sophia einen Sturm der Begeisterung in Rußland entfesseln, wie ihn sogar die glän¬ zendsten Siege über Japans Heer oder Flotte nicht hervorgerufen haben würden. Den Kampf gegen die Ungläubigen glaubt das russische Volk nicht mit den Anhängern Buddhas, sondern mit den Nachfolgern Mohammeds ausfechten zu müssen. Während im europäischen Westen der Sinn für Kreuzzüge erstorben ist. lebt er in Rußland in frischer Kraft weiter. Ein Sieg über die Ungläubigen des türkischen Reichs würde in der russischen Heimat und wohl auch bei einem großen Teil der übrigen Welt das in der Mandschurei Verlorne Ansehen wieder¬ herstellen. Solche Betrachtungen führen zu dem Schluß, daß eine neue und mög¬ licherweise endgiltige Krisis eine Lösung der orientalischen Frage in absehbarer Zeit bringen kann. Englands Haltung würde sich anfänglich beim Eintritt der¬ artiger Verwicklungen als „klug berechnete Untätigkeit" kennzeichnen. Die Stimmung in England gegenüber der Türkei hat in den letzten Jahrzehnten einen nötigen Umschwung erlebt. War in den Zeiten des Krimkrieges die öffentliche Meinung ganz auf feiten der Türken, so staute nach und nach diese wohlmeinende Stimmung ab, als man die erhofften und erwarteten Reformen allgemein verbreiteter Mißstände ausbleiben sah, und schlug nach den bulga¬ rischen Greueln in ihr Gegenteil um, sodaß heutzutage die Stimmung in Eng¬ land, wenn auch nicht russenfreundlich, so doch ausgesprochen türkenfeindlich ist. Und im Falle eines feindlichen Einfalls von feiten Rußlands in türkisches Gebiet in der nächsten Zukunft würde auch keine britische Regierung, sei sie konservativ oder liberal, es wagen, eine britische Flotte oder noch weniger ein britisches Heer abzusenden, um die Autorität des Sultans in Mazedonien oder in Adrianopel oder selbst in Konstantinopel zu stützen. Die Erhaltung der Türkei als eines Greuzwalles gegen die Besetzung Konstantinopels durch Rußland hat für die englische Politik unsrer Tage nicht mehr dieselbe Bedeutung wie früher. Die militärische Besetzung Ägyptens hat die Heerstraße nach Indien sichergestellt. Ein Landweg aber vom Bosporus bis zu den Grenzen des indischen Reiches, selbst mit Eisenbahnen ausgestattet, würde für England einen verhältnismüßig geringen Wert haben. Setzt sich aber Nußland einmal am Bosporus fest, so kann es unmöglich mehr vom Mittel¬ ländischen Meer ausgeschlossen werden. Eine tatsächliche Besetzung der Darda¬ nellen durch Rußland würde aber weit mehr eine Bedrohung der europäischen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/660
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/660>, abgerufen am 06.02.2025.